Grundlagen der Analyse
Die empirische Basis für diesen Beitrag bilden 44 Interviews, die 2022 und 2023 mit 31 Respondent:innen geführt wurden. Darunter waren Direktor:innen von Industrieunternehmen, Leiter:innen von IT-Firmen und von Dienstleistungsunternehmen sowie Vertreter:innen von Unternehmensverbänden, Banken und Branchenexpert:innen. Es ist zu betonen, dass diese Stichprobe in keiner Weise Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Gleichwohl dienen die Informationen, die wir von den Respondent:innen erhielten, dem Ziel dieser Arbeit, weil wir in erster Linie verstehen wollten, welche Faktoren auf der Mikroebene eine relative Stabilität der Wirtschaft in Russland bewirkt haben, und in welchem Maße sie in der Zukunft weiterwirken könnten.
Alte und neue Faktoren für die Anpassungsfähigkeit an die "neue Realität" 2023–2024
Die Schlüsselereignisse des Jahres 2022 wurden von den Unternehmen als heftiger externer Schock wahrgenommen, der eine umgehende Reaktion erforderte. Gleichzeitig bewahrten die Eigentümer:innen und Leiter:innen der Unternehmen anfangs die Hoffnung auf eine "Rückkehr zur Normalität". Seit Herbst 2022 entstand allerdings angesichts des Umstands, dass die Kriegshandlungen in eine anhaltende Konfrontation mündeten, die internationalen Sanktionen verstärkt und 300.000 (potenzielle) Mitarbeiter:innen mobilisiert wurden (zusätzlich zum Verlust durch einige Hunderttausend Emigrant:innen) und die Wirtschaft auf Krieg umgestellt wurde, bei den Respondent:innen der Eindruck, dass eine "neue Realität" Einzug gehalten hat. Diese besteht vor allem in einer langfristigen wirtschaftlichen Isolierung Russlands und dessen zunehmender Abhängigkeit von China. Unter diesen Bedingungen blieben jedoch vier wichtige Faktoren wirksam, die in den ersten Phasen die Anpassungsfähigkeit der russischen Unternehmen begünstigt hatte:
der marktwirtschaftliche Charakter der Wirtschaft in Russland (Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gegenüber externen Schocks);
die Gewöhnung russischer Unternehmer:innen an ständige Stresssituationen und die Fähigkeit, Lösungen zum Überleben des Unternehmens zu finden;
die Kompetenz der Beamten im sogenannten Wirtschaftsblock der Regierung und
deren eingespielte Mechanismen der Kommunikation mit den Unternehmen.
Gleichzeitig kamen 2023 drei neue Faktoren zum Tragen, die die Anpassung der Firmen an die "neue Realität" beförderten. Zum einen wäre da der sogenannte Haushaltsimpuls zu nennen: Seit Ende 2022 wurden aktiv staatliche Gelder in die Wirtschaft gepumpt. In erster Linie wurden diese Mittel zur Finanzierung des Militärindustriellen Komplexes und zum Aufbau der Infrastruktur genutzt, und für die Zahlungen an Mobilisierte und Vertragssoldaten. Insgesamt waren das recht umfangreiche Mittel, wobei jene Regionen mehr Ressourcen erhielten, die viele Jahre als "depressiv" gegolten hatten. Letztendlich war der "Haushaltsimpuls" ein erheblicher Faktor, der in der Wirtschaft die Nachfrage ankurbelte.
Der zweite Faktor war 2023 der allgemeine Anstieg der Löhne und Gehälter. Ausgangspunkt war hier die Erhöhung der Löhne in der Rüstungswirtschaft, die durch die ganz erhebliche Zunahme der staatlichen Aufträge für die Rüstungsindustrie bedingt wurde. Hier ist zu erwähnen, dass die Unternehmensführungen bereits ab Mitte der 2000er Jahre von Arbeitskräftemangel sprachen, diese Klagen aber nicht zu einer merklichen Anhebung der Löhne und Gehälter führten. Die Verhandlungsmacht der Angestellten auf dem russischen Arbeitsmarkt ist traditionell gering, weil es praktisch keine Gewerkschaften gibt und die Unternehmer:innen sich informell darauf verständigen, einen Preiskampf um Mitarbeiter:innen zu vermeiden. Eine solche Konkurrenz würde zu Lohnsteigerungen und im Schnitt zu verringerten Gewinnen der Unternehmen führen.
Die Situation war 2023 deshalb einmalig, weil vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels, der durch langwährende demografische Faktoren bedingt und den Abfluss von Arbeitskräften aufgrund höherer Gewalt verstärkt wurde (Emigration, Mobilmachung, Dienstantritt als Vertragssoldat) ein Umstand herausstach: Einer der relevanten Wirtschaftssektoren, der eine äußerst drastische Zunahme staatliche Aufträge erlebte, griff zu heftigen Lohnsteigerungen (nach Angaben von Unternehmensmanager:innen auf das Zwei- bis Zweieinhalbfache). Diese Lohnerhöhungen in der Rüstungsindustrie führten dazu, dass Unternehmen in anderen, zutiefst zivilen Branchen genötigt waren, ebenfalls die Gehälter anzuheben, um ihre Mitarbeiter:innen zu halten. So berichtete der Besitzer eines Logistikzentrums in einer der europäischen Regionen Russlands, dass er die Gehälter der Lageringenieur:innen auf 70–80.000 Rubel (ca. 700–800 Euro) anheben musste. 2021 hatten in dieser Region noch 30–40.000 Rubel (ca. 300–400 Euro) als gutes Gehalt gegolten. Der einzige Grund für diesen Anstieg war, dass es in dieser Stadt viele Militärbetriebe gibt, in denen den Mitarbeiter:innen mit ähnlicher Qualifizierung die Gehälter ungefähr auf dieses Niveau angehoben wurde. Zudem werden dort aktiv neue Mitarbeiter:innen rekrutiert. Wenn er nicht das Gleiche unternommen hätte, wären seine Mitarbeiter:innen zu jenen Fabriken abgewandert und sein Unternehmen hätte stillgestanden, weil Fachkräfte dieser Art auf dem regionalen Arbeitsmarkt schlichtweg fehlten. Somit veränderte sich auf dem russischen Arbeitsmarkt erstmals seit vielen Jahrzehnten das Kräftegleichgewicht zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen.
Zur Bewertung der allgemeinwirtschaftlichen Folgen dieser Verschiebung ist wichtig, die einseitige Elastizität der Löhne und Gehälter zu berücksichtigen. Man kann die Gehälter zwar lange Zeit nicht erhöhen, doch wenn das geschieht, kann man sie nur sehr schwer wieder senken. Im Militärindustriellen Komplex Russlands arbeiten grob anderthalb Millionen Menschen, während es in der russischen Wirtschaft insgesamt rund 73 Millionen Beschäftigte gibt. Das bedeutet: Falls der Effekt wettbewerbsbedingter Lohnerhöhungen auf den zivilen Sektor übergreift, wird dieser Faktor auch dann weiterwirken, wenn es im Haushalt weniger Geld gibt und die Finanzierung des militärindustriellen Komplexes und die Zahlungen an die Militärs zurückgehen werden. In 2023 haben die Befragten verschiedener Regionen von Gehaltserhöhungen im zivilen Bereich um 20–25 Prozent gesprochen (2023 wuchsen die Nominallöhne im landesweiten Durchschnitt auf 14 Prozent an ; in der Zeit von Januar bis April 2024 betrug der Anstieg Daten von Rosstat zufolge 19 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum bzw. 10,5 Prozent bei den Reallöhnen). Natürlich kann die Inflation einen Anstieg der Löhne schlucken, doch war die Zunahme 2023 ein eigenständiger Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung, der auf den Märkten für eine erhöhte Verbrauchernachfrage sorgte.
Drittens bestand ein weiterer Faktor in der Investitionstätigkeit, die nach Einschätzung der Befragten 2023 auf hohem Niveau verharrte. Dafür gibt es spezifische Erklärungen. Einerseits eröffneten sich in einer Reihe von Branchen neue Möglichkeiten, da sich ausländische Unternehmen zurückzogen. So entfielen vor dem Krieg in der elektrotechnischen Industrie rund 40 Prozent der Marktanteile auf europäische Unternehmen wie "ABB", "Siemens" oder "Schneider Electric". Von diesen Anteilen entfielen 25 Prozent auf Direktimporte und 15 Prozent auf Produkte von Tochterfirmen ausländischer Unternehmen.
Die Firmen zogen sich zurück, doch die Nachfrage blieb. Hinzu kommt, dass die Qualitätsunterschiede zwischen Importwaren und russischen Produkten in diesem Bereich in den 2000er Jahren noch ganz erheblich waren. 20 Jahre später jedoch gibt es nicht wenige russische Firmen, die zwar hinter europäischen Konkurrenten zurückhinken, aber nicht dramatisch. Die kauften nun die Assets, die die abziehenden europäischen Unternehmen verkauften, und errichteten neue Produktionsstandorte, wobei sie Gelder investieren.
In der Elektrotechnikindustrie änderte sich auch die Struktur der Investitionsanschaffungen. Traditionell waren 80–85 Prozent der Anlagen in Europa beschafft worden. Die neuen Produktionsstandorte arbeiteten in der Regel mit Integrator-Unternehmen des Maschinenbaus, die "schlüsselfertige" Lösungen boten: Diese stellten den Auftrag zusammen, beschafften bei den verschiedenen Herstellern die Anlagen, übernahmen den Aufbau und die Einrichtung, gaben Garantien und gewährleisteten den technischen Service. Das war recht kostspielig, hatte aber Qualität. Jetzt haben nicht nur Anlagenbauer, sondern auch Engineering-Unternehmen ihre Zusammenarbeit mit Russland eingestellt.
Die Folge war, dass russische Unternehmen aus der zweiten Reihe, die angesichts der anhaltenden Nachfrage ihre Positionen nicht verlieren wollten, nun gezwungen waren, neue Funktionen zu übernehmen. Jetzt beschaffen sie selbständig Anlagen bei verschiedenen Herstellern, kümmern sich um deren Integrierung zu technologischen Produktionslinien, um die Montage und die Einrichtung. Und es stellte sich heraus, dass ihre Ingenieure insgesamt ausreichend qualifiziert waren, diese neuen Aufgaben zu erfüllen. Auch die Struktur der beschafften Anlagen hat sich geändert. Ungefähr die Hälfte entfällt nach wie vor auf Importe (allerdings nun zu einem erheblich größeren Teil aus China und der Türkei). Die andere Hälfte waren Anlagen aus Russland. Es scheint jetzt also auf dem russischen Markt Maschinenbauunternehmen zu geben, die Anlagen von akzeptabler Qualität und Produktivität herstellen. Der Rückzug europäischer Unternehmen aus Russland hat also russische Unternehmen dazu genötigt, neue Funktionen zu übernehmen und neue Nischen zu erschließen. Im Großen und Ganzen ist ihnen das auch gelungen.
Andererseits verloren die Unternehmen in Russland durch die Finanzsanktionen vielfach ihre traditionellen Möglichkeiten, die politischen Risiken durch eine Ausfuhr überzähliger Gelder zu ausländischen Banken einzuhegen. Das ist jetzt erheblich schwieriger zu bewerkstelligen, und zwar nicht nur wegen der Beschränkungen von Seiten Russlands, sondern auch durch die Politik der EU und der USA. Das Geld auf dem Bankkonto zu behalten, ist ebenfalls riskant, da die Praxis der Silowiki, Druck auf Unternehmen auszuüben, anhält. Die feindliche Übernahme eines Unternehmens, das kein Geld auf dem Konto hat, bedeutet für Corporate Raider Kopfschmerzen. Unternehmen mit großen Restbeträgen auf dem Konto sind da hingegen sehr attraktiv. Daher kaufen Unternehmen, um Geld loszuwerden, verfügbare Assets, was weitere Investitionen bedeutet.
Unterschiede zwischen Branchen und Faktoren für Veränderungen in der zweiten Anpassungsphase
In der oben dargestellten Analyse wurden allerdings die charakteristischen Unterschiede in Bezug auf Branche, Region und Unternehmenstyp nicht herausgearbeitet. Unsere Stichprobe war hierzu leider nicht ausreichend. Gestützt auf die Ergebnisse breiter angelegter formalisierter Untersuchungen und auf Daten von Rosstat kann lediglich festgestellt werden, dass zwei große Branchen – der Kraftfahrzeugbau und die Holzverarbeitung – sich weiterhin in einer tiefen Depression befinden. Beim Maschinenbau sind die Vorteile für Branchen der Rüstungsindustrie offensichtlich. Darüber hinaus unterstrichen die Respondent:innen die weiterhin hohe Aktivität der Bauindustrie, die sich aus den Hypothekenprogrammen für den Wohnungsbau und die Finanzierung für den Bau von Infrastrukturobjekten ergibt. Gleiches gilt für die staatliche Finanzierung des Baus von Verteidigungsanlagen und Wohnraum in den besetzten Gebieten. Die Lohnerhöhungen führten zu einem Anstieg der Verbrauchernachfrage, darunter einer gestiegenen Nachfrage nach Produkten der Agrarindustrie und nach Dienstleistungen wie Binnentourismus und Gastronomie.
Wie bereits gesagt, fiel im regionalen Querschnitt im Schnitt den "depressiven" Regionen der relativ größte Nutzen zu. Das sind Regionen, in denen es in höherem Maße eine Mobilmachung gab und mehr Vertragssoldaten angeworben wurden. Das war von Bonuszahlungen begleitet, die beim Vier– bis Fünffachen der Durchschnittslöhne vor Ort lagen. Zu diesen depressiven Regionen zählen oft Gebiete, in denen Unternehmen des militärindustriellen Komplexes überwiegen. Die Aufstockung der Militäraufträge führte in diesen Regionen zu einem Anstieg der Verbrauchernachfrage und der Wirtschaftsaktivität.
Die Umstände der Jahre 2022 und 2023 schlugen sich auf Unternehmen unterschiedlicher Größe auf unterschiedliche Weise nieder. 2022, angesichts des Sanktionsschocks, war die Lage für große und mittlere Unternehmen günstiger. Sie hatten zwar – wie kleine Unternehmen auch – mit ernsten Problemen zu kämpfen. Aber sie hatten traditionell mehr Möglichkeiten, mit dem Staatsapparat zu kommunizieren, und zwar direkt, wie auch über Unternehmensverbände. Demgegenüber waren die kleinen Unternehmen 2022 mit einer zurückgehenden Nachfrage nach ihren Waren und Dienstleistungen konfrontiert, da sie erheblich stärker von der Verbrauchernachfrage abhängig waren.
Ab 2023 veränderten sich die Zukunftsaussichten der großen und mittleren Unternehmen. Die großen Unternehmen standen insgesamt vor größeren Problemen, weil ihnen der Zugang zu modernen Technologien versperrt wurde (einschließlich des Supports bestehender Anlagen). Große Unternehmen unterscheiden sich auch durch einen längeren Planungshorizont. Daher wird deren Eigentümer:innen oder Topmanager:innen immer stärker klar, dass es bei einer internationalen Isolierung für die russische Wirtschaft und die Unternehmen dort keine realen Entwicklungsperspektiven gibt.
In Bezug auf die veränderten Erwartungen der großen Unternehmen spielten zwei Ereignisse eine beträchtliche Rolle. Zum einen war das die 2023 einsetzende und bis heute andauernde Serie von Klagen der Generalstaatsanwaltschaft, die auf eine Überführung von Assets in Staatsbesitz abzielt, und zwar nicht nur von ausländischen, sondern auch von russischen Eigentümer:innen. Zweitens ist der Haushalt 2024 von der Regierung vorgelegt und von der Staatsduma gebilligt worden. Darin stiegen die Ausgaben für den militärischen Bereich auf ein Rekordniveau. Es war ein Signal, dass der Kreml nicht beabsichtigt, mit dem Krieg aufzuhören. Untermauert wurde es durch eine Reihe von Erklärungen Putins und anderer Offizieller.
Die Einschätzungen der kleinen und mittleren Unternehmen hingegen verbesserten sich seit Ende 2022. Einer der offensichtlichen Gründe hierfür war der Anstieg der Verbrauchernachfrage aufgrund der allgemeinen Lohnerhöhung. Ein anderer Grund war, dass die kleinen Unternehmen aktiv in Maßnahmen zur Sanktionsumgehung eingebunden wurden. Das bedeutete den Ankauf von Modulen, Ersatzteilen oder Komponenten, die von großen Herstellern gebraucht werden und deren Export nach Russland aus den USA und der EU verboten ist. Eine solche Geschäftstätigkeit ist mit gewissen Risiken verbunden und erfordert den Aufbau komplizierter Lieferketten, ist aber auch höchst einträglich. Für die Aufsichtsbehörden in den USA und der EU ist es dabei schwierig, die Tätigkeit dieser kleinen russischen Unternehmen nachzuverfolgen.
Ein weiterer, weniger offensichtlicher Grund für die verbesserten Einschätzungen bei kleinen und mittleren Unternehmen ist das gewachsene Interesse großer Unternehmen an einer Zusammenarbeit mit Lieferenten aus diesem Unternehmenssegment. Hier ist zu erwähnen, dass die meisten großen Hersteller im privaten Sektor der russischen Wirtschaft in den 2000er oder 2010er Jahren eine Umstrukturierung und Modernisierung durchlaufen hatten: Die internen Unternehmensabläufe wurden verbessert, die Anlagen wurden erneuert und moderne Technologien eingeführt. Allerdings wurden dabei Ersatzteile, Zubehör, oder einzelne Anlagenteile und Aggregate überwiegend bei ausländischen (vorwiegend europäischen) Zulieferern gekauft. Diese Politik ist damit zu erklären, dass für große Unternehmen regelmäßige Lieferungen unter Einhaltung der Fristen und in der notwendigen Qualität wichtig waren. Das Problem der kleinen und mittleren Unternehmen in Russland, die mitunter ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis anbieten konnten, bestand aber darin, dass sie sehr oft nicht mit den Standards der großen Hersteller mithalten konnten. Die Unternehmen an diese Standards heranzuführen (wie das etwa IKEA bei seinen lokalen Zulieferern unternommen hat) erschien den Großunternehmen als unbegründet. Für letztere war es einfacher, mit einem etablierten Kreis europäischer Zulieferer zu arbeiten.
Die Sanktionen von 2022 haben diese Verhältnisse verändert. Selbst dann, wenn die europäischen Zulieferer über Drittländer weiter mit russischen produktiven Konsument:innen zusammenarbeiteten, wurden diesen Abnehmer:innen nun die Risiken bewusst, dass Lieferungen bei einer Ausweitung der Sanktionen oder ihrer strengeren Durchsetzung unterbrochen werden könnten. Unter diesen Bedingungen wären Aufwendungen für ein Training lokaler Zulieferer und eine zusätzliche Qualitätskontrolle der gelieferten Erzeugnisse und Dienstleistungen gerechtfertigt. Und dies umso mehr, als die russischen Großunternehmen, die eine Modernisierung hinter sich hatten, bereits über die notwendigen Potenziale an Fachkräften und Technologien verfügten. In diesem Sinne könnte man behaupten, dass die Sanktionen zu einer Ausweitung der Nachfrage nach Erzeugnissen und Dienstleistungen des kleineren und mittleren produzierenden Gewerbes geführt haben.
Anzeichen für ein verändertes Modell der Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen
Es ist erneut zu betonen, dass die wichtigsten Faktoren, die die russische Wirtschaft den Schock von 2022 erfolgreich überstehen ließen, darin bestand, dass sie eine Marktwirtschaft war. Das bedeutete die Fähigkeit der Firmen, sich an eine radikale Veränderung äußerer Bedingungen anpassen zu können. Eine Rolle spielten hierbei auch die Kompetenz des "Wirtschaftsblocks" in der Regierung sowie die hohen Einnahmen des Staatshaushalts und der großen Unternehmen, die die Nachfrage absicherten. Wichtig war auch die Erfahrung aus vielzähligen Krisen, die die russische Wirtschaft in den vergangenen 15 Jahren durchgemacht hat. Die auf dem Markt verbliebenen Unternehmen waren psychologisch und operativ darauf vorbereitet, dass dunkle Wolken aufziehen könnten. Sie hatten überzählige Mittel und finanzielle Reserven für schwere Zeiten. Aus Sicht einer normalen Marktwirtschaft sind diese Vorräte zusätzliche Ausgaben, die eine Weiterentwicklung des Unternehmens hemmen. Bei plötzlichen äußeren Erschütterungen jedoch ermöglichen sie es, Krisen leichter zu überstehen. Auch die Verantwortlichen in den Wirtschaftsbehörden hatten sich bereits ständigen Krisen gegenübergesehen und gelernt, damit umzugehen, nämlich durch Kommunikation mit den Unternehmen.
Bemüht man historische Analogien, könnte man sagen, dass sich in den 2010er Jahren in der russischen Wirtschaft Institutionen und Mechanismen herausgebildet haben, die an die eines "Schwellenstaates" erinnern, wie sie für Staaten in Südostasien typisch sind. Ein Beispiel hierfür ist die "Stiftung für Industrieförderung", die in ihrer jetzigen Form 2014 gegründet wurde und bereits seit 2016/17 intensiv mit positiven Erwähnungen in Interviews mit Unternehmensleitungen in Erscheinung trat. Das Problem ist jedoch, dass diese Institutionen und Mechanismen nicht auf der Basis jener fundamentalen Faktoren entstanden, auf denen die beschleunigte Entwicklung in Südostasien beruhte. Das waren Wirtschaften, die auf einen breitangelegten Einsatz importierter Technologien ausgerichtet waren (als Instrument zur Erhöhung der Produktivität); Export galt als Indikator für den Erfolg einer Firma. Das erlaubte es, ungeachtet der Korruption ineffiziente Firmen von staatlicher Förderung abzuschneiden und effiziente Unternehmen zu unterstützen. Russland hatte in den 2000er und 2010er Jahren versucht, diesen Weg zu beschreiten (wenn auch nicht sonderlich erfolgreich). Durch den Beginn des Krieges gegen die Ukraine beraubte der Kreml jedoch die russische Wirtschaft des Zugangs sowohl zu modernen Technologien wie auch zu den großen Exportmärkten in entwickelten Ländern. Bereits jetzt ist offensichtlich, dass man in Asien bereit ist, bei Preisnachlässen Rohstoffe aus Russland zu kaufen. An Erzeugnissen der russischen verarbeitenden Industrie ist man dort allerdings viel weniger interessiert. Und in Afrika fehlt das Geld dafür.
Ab Mitte 2023 kamen zwei weitere Faktoren hinzu. Zum einen erzeugt die vom Kreml verkündete Erhöhung der Militärausgaben um 70 Prozent das Risiko einer makroökonomischen Destabilisierung und drückt die Erwartungen der Wirtschaftsakteure. Zweitens gibt es Anzeichen einer Bewegung hin zu einem mobilisierenden Wirtschaftsmodell. 2023 wurde erkennbar, dass eine Umverteilung von Eigentum begonnen hat. Es erfolgten Anträge der Generalstaatsanwaltschaft, per Gerichtsbeschluss große Aktienpakete zu föderalem Eigentum zu machen, die mit dem Argument begründet wurden, dass deren Besitzer:innen durch ihr Handeln "die wirtschaftliche Souveränität der Russischen Föderation verletzen" und beträchtliche Spannungen in der Unternehmerschaft erzeugen, die zum Teil die Öffentlichkeit erreichen. Die Entscheidungen des Kreml zur Nationalisierung von so gewichtigen Unternehmen wie "Rolf" oder "Makfa" sorgten für beträchtliches Aufsehen und verstärkten die negativen Erwartungen erheblich.
Die in den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft seit Sommer 2023 genannten Argumente in Bezug auf eine "Gefahr für die Sicherheit und Souveränität der Russischen Föderation" und die ähnlichen, unverblümten Begründungen für die Enteignungen, die Putin auf dem Kongress des Russischen Unternehmer- und Industriellenverbandes (RSPP) im April 2024 verkündete ("wenn das Vorgehen oder die Untätigkeit eines Besitzers von Unternehmen oder Vermögenskomplexen der Sicherheit des Landes oder den nationalen Interessen unmittelbar Schaden zufügt"), geben Grund zu der Annahme, dass diese neue Welle des Drucks der Silowiki auf Unternehmen nicht nur Partikularinteressen einzelner Akteure der obersten Elite widerspiegelt. Sie dürfte auch einen Übergang zu einem anderen Wirtschaftsmodell signalisieren.
Hier ist zu erwähnen, dass dieser Übergang in der russischen Bürokratie bereits einige Jahre diskutiert wird. So hat der ehemalige Minister für die Entwicklung des Fernen Ostens, Alexandr Galuschka, in seinem bereits 2021 erschienenen Buch "Kristall des Wachstums. Zum russischen Wirtschaftswunder" (Orig.: "Kristall rosta. K rossijskomu ekonomitscheskomu tschudu") behauptet, dass für eine führende wirtschaftliche Entwicklung die Erfahrungen der Stalinschen UdSSR der Jahre 1929–1955 genutzt werden sollten. Die Intensität, mit der das Buch als "fundamental wichtige wissenschaftliche Monografie" beworben wurde, erweckte den Eindruck, dass dahinter einflussreiche Leute standen, die die Ideen des Autors zur Begründung eines Übergangs zu einem "mobilisierenden" Wirtschaftsmodell nutzen wollen. So erklärte der Direktor des Strafermittlungskomitees, Aleksandr Bastrykin , im Mai 2023 auf dem Petersburger Internationalen Juristischen Forum unmissverständlich, dass eine Nationalisierung der wichtigsten Wirtschaftssektoren erforderlich sei, um "unter den Bedingungen des Krieges die wirtschaftliche Sicherheit" zu gewährleisten. Es ist bezeichnend, dass 2024 nicht nur Silowiki, sondern auch Vertreter des "Wirtschaftsblocks" in der Regierung sich in dieser Richtung äußerten. So räsoniert der ehemalige Investmentbanker und jetzige Minister für die Entwicklung des Fernen Ostens, Aleksej Tschekunkow, in einem Kommentar für RBK über eine "Ersetzung von Unternehmern" durch gewisse "schöpferische" und "dienende" Personen. Auch von einem Übergang zu einem Modell des "patriotischen Sozialismus" war die Rede, wobei er sich direkt auf die Bauprojekte des Kommunismus in sowjetischer Zeit berief.
Das Problem ist, dass in dem Mobilisierungsmodell, das die Verfasser von "Kristall des Wachstums" als Orientierung vorschlagen, für die derzeitigen privaten Großunternehmen schlichtweg kein Platz ist. Sämtliche "strategisch wichtigen Anhöhen" würden in einem solchen Wirtschaftssystem vom Staat kontrolliert. Wer mit diesem Ansatz nicht einverstanden ist, würde irgendwann "aus dem Fenster fallen" (wie das bereits 2022–2023 einer Reihe von Topmanagern großer russischer Unternehmen widerfuhr). Den übrigen Unternehmer:innen wäre bestenfalls die Rolle von neuen "roten Direktoren" vorbehalten, die per Entscheidung des Kreml ernannt und abgesetzt werden (das war es, was Minister Tschekunkow meinte).
Ist die Bewegung in Richtung Mobilisierungsmodell unausweichlich?
Insgesamt legen die Ereignisse im zweiten Halbjahr 2023 und ersten Halbjahr 2024 nahe, dass das politische und wirtschaftliche System, das sich unter Putin herausgebildet hat, objektiv an einer wichtigen Wegscheide angelangt ist. Lange Zeit (praktisch seit der JUKOS-Affäre) gründete dieses System darauf, dass die Unternehmen gute Möglichkeiten hatten, Gewinne zu machen, solange sie sich grundsätzlich jeder politischen Tätigkeit enthielten, die nicht vom Kreml genehmigt ist. Der zentrale Akteur in diesem Modell war der Staatsapparat. Das führte dazu, dass den obersten Eliten in der Bürokratie, die eine relativ große Autonomie genossen, über beträchtliche Ressourcen verfügten und insgesamt eine liberale Wirtschaftspolitik verfolgten, eine wichtige Rolle zukam. Diese Politik bildete die Basis für jene Marktpolitik, die sich gegenüber starken externen Schocks als widerstandsfähig erwies.
Vor dem Hintergrund der politischen Proteste des Winters 2011/12 hat sich das Machtgleichgewicht in der Elite verändert. Der Kreml entschied sich für eine konservative Politik und die oberste Ebene der Bürokratie verlor allmählich ihren Einfluss. Es stellte sich heraus, dass deren Autonomie angesichts des fehlenden politischen Wettbewerbs eine Illusion ist: Die obersten Bürokrat:innen werden auf Beschluss des Kreml ernannt und können mit ebensolchen Beschlüssen auf ihren Posten abgelöst werden. Und beim nötigen Willen landen sie ganz leicht wegen Korruption im Gefängnis, wie im Falle von Nikita Belych, Aleksej Uljukajew und Michail Abysow.
Die großen Unternehmen haben nach der JUKOS-Affäre ihren Status als Bestandteil der herrschenden Koalition verloren. Sie spielten aber all die Jahre im bestehenden Modell insgesamt eine wichtige Rolle, indem sie dessen wirtschaftliche Stabilität gewährleisteten. Das war der Grund, warum der Kreml in seinen Beziehungen zur Wirtschaft all diese Jahre den damals bestehenden "Gesellschaftsvertrag" aufrechterhielt, wobei er versuchte, die Bedingungen für unternehmerische Betätigung zu stärken. Eines der Phänomene dieses Vertrags war in den 2010 ein regelmäßiger Druck auf die Bürokratie im Rahmen der "Nationalen Unternehmerinitiative", die die Unternehmensführung verbessern sollte (was unter anderem einen erheblichen Aufstieg Russlands im Doing Business-Index der Weltbank bewirkte). Ein weiteres Merkmal dieser liberalen Politik war die bewusste Unterdrückung eines kollektiven Vorgehens von Arbeitnehmer:innen durch die Regierung (vor dem Hintergrund einer ausgenommenen Schwäche der offiziellen Gewerkschaften), um dadurch die Lohnkosten der Unternehmen niedrig zu halten.
Vergleicht man dabei die Bürokratie mit den relativ großen Unternehmen, so sind letztere per definitionem die autonomeren Akteure. Die Bürokraten verfügen lediglich über die Machtbefugnisse, die ihnen der Staat erteilt; bei Verlust dieser Befugnisse verlieren sie den Zugang zu Ressourcen. Demgegenüber verfügen die Unternehmer:innen über erhebliche finanzielle Ressourcen, die ihnen selbst gehören, und über Unternehmen mit Tausenden Mitarbeiter:innen. Darüber hinaus verbleibt den Unternehmer:innen die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, und sie haben in den meisten Fällen ausländische Assets. Wichtig ist auch die weiterhin bestehende Heterogenität der russischen Unternehmen: Neben einer ganzen Reihe sehr großer Unternehmen, deren Geschäft aufgrund von politischen Beziehungen und eines Zugangs zu "Rentenquellen" aufgebaut werden konnte, gibt es Zehntausende Firmen, die ihr Unternehmen unter Marktbedingungen entwickelt haben. Das war durch eine liberale Wirtschaftspolitik möglich geworden. Und es war die Tätigkeit dieser Firmen, die es der russischen Wirtschaft ermöglichte, dem Druck durch die umfangreichen Sanktionen standzuhalten. Aufgrund ihres marktwirtschaftlichen Charakters könnten diese Unternehmen Forderungen nach einer liberalen Politik erheben, insbesondere angesichts schrumpfender Märkte und zurückgehender Gewinne.
In diesem Sinne bedeuten die Unternehmen für das Regime eine ernstere Gefahr als die Bürokratie. Bis zum jetzigen Moment hat sich der Kreml die Loyalität der Unternehmen durch außergewöhnlich hohe Einnahmen 2022 und zum Teil 2023 erkauft, die sich aus dem widersprüchlichen Zuschnitt der internationalen Sanktionen ergaben. Zugunsten des Kreml wirkten auch die "persönlichen Sanktionen", die die Großunternehmer praktisch in die Arme Putins trieben. Letztendlich fungierte als zusätzliche "Loyalitätsprämie" die Möglichkeit, Assets von ausländischen Unternehmen zu kaufen, die sich aus Russland zurückziehen.
Die zunehmend angespannte Lage der Staatsfinanzen, die anhand der fortschreitenden Ausweitung der Militärausgaben wie auch der Schritte zu Erhöhung der Steuerlast erkennbar ist, mündet unweigerlich in eine Verschlechterung der allgemeinwirtschaftlichen Situation und hat bereits negative Folgen für die Erwartungen der Unternehmen. In diesem Fall wird es für den Kreml schwieriger, sich deren Loyalität zu sichern. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass es die Unternehmen (und vor allem die großen) sind, die in Zukunft die größten Verluste erleiden werden. Das dürfte nicht nur auf die gestiegenen Arbeitskosten und die erhöhte Steuerlast zurückzuführen sein. Es hat auch mit der Wahrscheinlichkeit zu tun, dass ihre Vermögenswerte konfisziert und umverteilt werden. In der Logik populistischer Politik wären die "naheliegendsten" Kandidaten hier die "Oligarchen" der Jelzin-Ära.
Bis 2024 hatte der Kreml dank der weiterlaufenden Ölexporte bei steigenden Preisen auf den Weltmärkten genügend Gelder, um gleichzeitig den Krieg zu finanzieren, Sozialleistungen abzusichern und die Wirtschaft zu fördern. Eine Zuspitzung der kritischen Haushaltslage dürfte den Übergang zu einem neuen, rigideren politischen und wirtschaftlichen Modell beschleunigen (eine Verschlechterung der Lage an der Front würde in der gleichen Richtung wirken). Und was die Überlebensperspektiven des Regimes betrifft, ist eine Alternative zu diesem Model nicht in Sicht.
Indem sich das Regime in einen vollumfänglichen Krieg verstrickte, hat es jenes soziale und politische Gleichgewicht zerstört, das in den 20 Jahren zuvor seine Stabilität gewährleistet hatte. Dadurch ist seine Lage bei allen zur Schau gestellten Merkmalen einer Stabilität in Wirklichkeit nicht gefestigt. Das Problem für den Kreml besteht darin, dass der größere Teil der derzeitigen Wirtschafts– und Bürokatieeliten keineswegs in einem solchen Modell leben will. Und das könnte schon an sich ein Argument sein, den Übergang zu diesem Modell voranzutreiben. Das würde wiederum ein Instrument für eine veränderte Zusammensetzung der jetzigen Elite darstellen. Die Geschwindigkeit, mit der der Übergang zum neuen Modell betrieben wird, dürfte von einer Reihe Faktoren abhängen. Zentral ist hier der Umfang der Finanzmittel, über die das Regime verfügt.
Diese Gefahr könnte theoretisch für die Großunternehmen Anreize zu einem gemeinsamen Vorgehen schaffen, wie das bereits 1996 angesichts des drohenden Sieges der Kommunisten bei den Präsidentschaftswahlen der Fall war. Wahrscheinlicher ist jedoch das Szenario von 2003, als in einer Krise, die durch die JUKOS-Affäre ausgelöst wurde, die Großunternehmen nicht in der Lage waren, ihre gemeinsamen Interessen zu schützen. Das Besondere der jetzigen Situation besteht darin, dass anstelle hoher Einnahmen als Kompensation für "politische Loyalität" (wie es noch in den 2000er und 2010er Jahren der Fall war) die russischen Unternehmen bestenfalls Bedingungen wie im heutigen Belarus mit seiner Staatswirtschaft vorfinden dürften. Das würde aber die Vernichtung jener wirtschaftlichen Basis bedeuten, auf die sich das Putinsche Regime in den vergangenen zwei Jahrzehnten in seiner Außen– und Innenpolitik gestützt hat.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder
Dieser Beitrag ist eine leicht gekürzte, übersetzte Fassung des russischsprachigen Originals, das am 15.07.2024 auf Re: Russia unter dem Titel: "Ot adaptazii k mobilisazii: logika ismenenij w otnoschenijach gosudarstwa i bisnesa w uslowijach wojny i sankzij" erschienen ist (Externer Link: https://re-russia.net/expertise/0177/). Die Russland-Analysen bedanken sich bei Re: Russia, Kiril Rogov und Andrei Yakovlev für die Erlaubnis zum Nachdruck.