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Analyse: Alexej Nawalnyj, "Smart Voting" und die Wahlen zur russischen Staatsduma 2021 | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Alexej Nawalnyj, "Smart Voting" und die Wahlen zur russischen Staatsduma 2021

Jan Matti Dollbaum Morvan Lallouet Ben Noble (University College London) Canterbury) Morvan Lallouet (University of Kent Jan Matti Dollbaum (Universität Bremen)

/ 11 Minuten zu lesen

Wie wirksam ist das taktische Wählen, das Nawalnyj anstrebt, und was versucht der Kreml, um seinen Erfolg einzudämmen?

Alexej Nawalnyj im Februar 2021 in einem Käfig vor dem Bezirksgericht Babuschkinsk in Moskau, Russland. (© picture-alliance/AP, Alexander Zemlianichenko)

Zusammenfassung

Das "Smart Voting"-Projekt von Alexej Nawalnyjs Team hat vor den russischen Parlamentswahlen im September 2021 viel Aufsehen erregt. Diese Analyse beschreibt die Grundzüge der taktischen Wahlstrategie und ordnet sie in die Geschichte von Alexej Nawalnyjs Haltung in Bezug auf Wahlen insgesamt ein. Wir beleuchten den staatlichen Widerstand gegen das Projekt, bewerten seine Wirksamkeit angesichts der beispiellosen Versuche des Kremls, seinen Einfluss zu beschneiden und erörtern das Verhältnis von "Smart Voting" zur Kommunistischen Partei (KPRF).

Taktische Stimmabgabe in einem autoritären Staat

"Smart Voting" ist ein taktisches Wahlprojekt, das 2018 vom "Team Nawalnyj" ins Leben gerufen wurde, also jener Gruppe von Politiker:innen und Strateg:innen um den Oppositionspolitiker und Anti-Korruptions-Aktivisten Alexej Nawalnyj. Es ist ihre Antwort auf die besonderen Bedingungen, unter denen im autoritären Russland Wahlen stattfinden: Kandidierende der nicht-systemischen Opposition schaffen es meist nicht auf die Wahlzettel; Kandidierende der systemischen Oppositionsparteien dürfen dagegen meist in einem kontrollierten Wettbewerb mit der dominanten Partei Einiges Russland (ER) an den Wahlen teilnehmen. Der realistischen Möglichkeit beraubt, auf der Grundlage politischer Präferenzen und Ideologien zu wählen, besteht die nächstbeste Option für die Wähler:innen der Opposition laut Nawalnyj und seinem Team darin, sich um die Kandidierenden zu scharen, die am ehesten geeignet sind, ER zu schlagen. Ein Sieg über diese Kandidierenden könnte wiederum die systemischen Oppositionsparteien ermutigen, ihren Widerstand gegen den Kreml zu verstärken.

Ein weiteres Ziel von "Smart Voting" besteht darin, der wachsenden politischen Apathie entgegenzuwirken. Da die meisten echten Oppositionskandidierenden von der Wahl ausgeschlossen sind, sehen viele oppositionelle Wähler:innen keinen Grund, zur Wahl zu gehen. Für sie ist der Wahlboykott die angemessene und ethisch richtige Entscheidung. Die Antwort des Nawalnyj-Teams darauf ist, dass solches Fernbleiben dem Kreml hilft, Wahlen zu gewinnen: Wenn oppositionell gesinnte Wähler:innen nicht zur Wahl gehen, dafür aber andere, die vielleicht eher für Einiges Russland stimmen, zur Teilnahme gezwungen oder gedrängt werden, dann hat es der Kreml viel leichter – selbst wenn die Unterstützung für ER insgesamt gering ist.

"Wählt jede beliebige Partei, nur nicht Einiges Russland"

Alexej Nawalnyj und sein Team haben sich nicht immer für "Smart Voting" eingesetzt. Die Einstellung zu Wahlen und die strategische Ausrichtung haben sich im Laufe der Zeit immer wieder an das jeweilige Niveau des politischen Wettbewerbs und die sich ständig wandelnden Wahl- und Parteiengesetzgebung angepasst.

Im Jahr 2007, als Nawalnyj Gründungsmitglied der nationalistischen NAROD-Bewegung war, sprach er sich für einen Wahlboykott aus. Im Vorfeld der Wahlen zur Staatsduma 2011 argumentierte er dann, dass diese Strategie gescheitert sei, da sich Einiges Russland eine Mehrheit in der Staatsduma sichern konnte. Er forderte die Bürger:innen nun dazu auf, "jede beliebige Partei außer Einiges Russland zu wählen". Diese Wahlempfehlung wurde als "Nawalnyj-Option" bekannt, mithilfe derer die dominierende Regierungspartei "zerstört" werden sollte. Doch 2014 rief er erneut zum Boykott auf, nachdem in jenem Jahr sogar einige systemische Oppositionspolitiker nicht zu den Wahlen zugelassen worden waren.

Nawalnyjs Team entwickelte "Smart Voting", nachdem Nawalnyj selbst von den Präsidentschaftswahlen 2018 ausgeschlossen worden war. In einem YouTube-Video vom November 2018 erläuterte er seine Überlegungen:

    Die Parteien selbst können sich nicht darauf einigen, einen einzigen Kandidaten gegen "Einiges Russland" aufzustellen. Aber wir können das. Wir sind alle unterschiedlich, aber wir haben die gleichen politischen Ziele – wir sind gegen das Monopol von Einiges Russland. Der Rest ist Mathematik. Wenn wir alle das Kluge tun und für den stärksten Kandidaten stimmen, dann wird dieser Kandidat gewinnen und der Kandidat von "Einiges Russland" wird verlieren.

Der Ansatz baute auf dem früheren Slogan "Wählt eine beliebige Partei außer Einiges Russland " auf, optimierte ihn jedoch, indem er versuchte, die Stimmen der oppositionellen Wähler:innen zu koordinieren.

Das forderte einiges an Überzeugungsarbeit. Die Strategie ist nicht für alle gleich einleuchtend. Sie verlangt viel von den Wähler:innen, die mit den politischen Einstellungen der Kandidierenden, die von Nawalnyjs Team ausgewählt werden, möglicherweise ganz grundsätzlich nicht einverstanden sind. Tatsächlich taten sich einige Oppositionelle, insbesondere Liberale, schwer mit dem Ansatz von "Smart Voting" und sprachen sich offen dagegen aus. Nach Ansicht des Vorsitzenden der liberalen Partei Jabloko , Nikolaj Rybakow, sei die Strategie "zynisch", weil sie darauf hinauslaufe, den Wähler:innen zu erklären, dass ihre Ideen und Werte "niemanden interessieren".

Bisherige Erfolge

Seit seiner Einführung hat "Smart Voting" keine überwältigenden Erfolge erzielt. Es hat sich jedoch als wirksames Instrument erwiesen, um die Zahl der Sitze von Einiges Russland in regionalen und lokalen Parlamenten zumindest zu reduzieren. Im Jahr 2019 verlor ER beispielsweise ihre Mehrheit in sechs von 31 Parlamenten, bei denen "Smart Voting" eingesetzt wurde. Bei einer dieser Wahlen – denen zum Moskauer Stadtrat 2019 – behielt ER ihre Mehrheit, "Smart Voting" trug aber dazu bei, die Anzahl der von ER kontrollierten Sitze erheblich zu verringern.

Bei den meisten Wahlen hat Nawalnyjs Team diejenigen Kandidierenden der Opposition empfohlen, die es für die stärksten hält, sodass es schwierig ist, die Wirkung von "Smart Voting" von der davon unabhängigen Wirkung der Popularität dieser Kandidierenden zu trennen. Die Politikwissenschaftler Michail Turtschenko und Grigorij Golosow haben jedoch versucht, eben diesen unabhängigen "Smart-Voting"-Effekt zu isolieren, etwa am Beispiel der Kommunalwahlen 2019 in St. Petersburg. Bei dieser Analyse machten sie sich zunutze, dass dieselben Kandidierenden in mehreren Wahlbezirken antreten konnten. So konnten die Ergebnisse eines Szenarios, in dem ein Kandidat "Smart Voting"-Unterstützung erhielt, direkt mit denen verglichen werden, in denen ihm oder ihr keine Wahlempfehlung ausgesprochen wurde. Der durchschnittliche Unterschied betrug sieben Prozentpunkte, was durchaus ausreichen kann, um ein enges Rennen zu entscheiden.

Im Jahr 2020 konnte Nawalnyjs Team erneut Erfolge bei einigen Regional- und Kommunalwahlen erzielen. Wie zuvor verteidigte Einiges Russland in der Regel ihre Dominanz, aber es gab auch Fälle wie den Stadtrat von Tomsk, wo oppositionelle Kandidierende gemeinsam die Mehrheit der Sitze gewannen und – was für Nawalnyj mindestens ebenso wichtig ist – wo Kandidierende, die direkt mit ihm assoziiert waren, ihre ER-Konkurrenz schlugen.

"Smart Voting" schien besonders in Tomsk und Nowosibirsk effektiv zu sein, wo Nawalnyjs Team die Wahlen mit Korruptionsenthüllungen in Bezug auf regionale Eliten begleitet hatte. Und obwohl Nawalnyj jetzt im Gefängnis sitzt, waren die Wahlen zur Staatsduma 2021 eine weitere Chance für sein Team zu beweisen, dass Korruptionsrecherchen und Wahlempfehlungen der Kremlpartei empfindlichen Schaden beibringen können.

Was heißt Erfolg?

Doch im Jahr 2021 stieß "Smart Voting" von Anfang an auf viel mehr Widerstand seitens des Kremls. Die Behörden schlossen sogar gemäßigt oppositionelle Politiker:innen wie Pawel Grudinin von der KPRF von den Wahlen aus und gingen mit eiserner Härte gegen "Smart Voting" vor, um die Opposition daran zu hindern, ihre Wahlempfehlungen zu koordinieren. Nawalnyjs Organisationen – einschließlich der Antikorruptionsstiftung (FBK) – wurden als "extremistisch" eingestuft und die "Smart Voting"-Website wurde durch die Internetaufsichtsbehörde Roskomnadsor gesperrt. Zudem ordnete das Moskauer Stadtgericht an, dass Yandex und Google die Suchmaschinenergebnisse für den Begriff "Smart Voting" zensieren müssen. Auf die Mitarbeitenden der amerikanischen Unternehmen Google- und Apple wurde sogar direkter Druck ausgeübt, worauf die "Smart Voting"-App aus den jeweiligen App-Stores entfernt wurde. Diese Maßnahmen erschweren die Bewertung, wie erfolgreich "Smart Voting" tatsächlich war.

Bei der Analyse der Wahlergebnisse stellte Nawalnyjs engster Vertrauter Leonid Wolkow die Wahlen als einen Kampf von "David gegen Goliath" dar und erklärte, dass David (also "Smart Voting") durchaus erfolgreich gewesen sei. Dieser "Erfolg" sei besonders in Moskau spürbar gewesen, wo die von "Smart Voting" unterstützten Kandidierenden in der Mehrzahl der Wahlkreise in Führung lagen, bevor die Ergebnisse der Online-Wahl hinzugerechnet wurden. In einem Instagram-Post vom 21. September nannte Nawalnyj diese Ergebnisse einen "Triumph". Laut Wolkow sei der legitime Sieg der von Nawalnyjs Team unterstützten Kandidierenden einfach "gestohlen" worden. Er betonte dabei, dass die "Smart Voting"-Strategie ihre beabsichtigte Wirkung erreicht habe. Sie habe "Stress" für die Behörden erzeugt: Da die unterstützten Politiker:innen gut abgeschnitten hätten, seien die staatlichen Behörden gezwungen gewesen, auf ungeheuerlichen Betrug zurückzugreifen, was den wahren Charakter der Wahlen offenbart habe.

Doch trotz dieses proklamierten "Triumphs" hatte Nawalnyjs Team nicht viel Beeindruckendes zu vermelden, was Nawalnyj dann auch zugab: "Man kann das gesamte Ergebnis nicht als "Sieg" bezeichnen." Wolkow zählte zumindest einige "kluge und starke Politiker" auf, denen der Einzug in die Staatsduma gelungen ist: Oleg Michailow und Michail Matwejew, beide von der KPRF. Nawalnyj vertrat dabei die Ansicht, dass die Ergebnisse letztlich zeigten, dass "sie" die Mehrheit stellen. Seiner Meinung nach muss man, um Wahlen in Russland zu gewinnen, erstens die meisten Stimmen bekommen, zweitens die Wahlen überwachen und drittens protestieren, wenn Stimmen gestohlen werden. Seiner Ansicht nach war der erste Punkt erfüllt, aber es war unmöglich, Straßenproteste zu organisieren: Wie Wolkow einräumte, führte die Brutalität der Repressionen zu Beginn des Jahres 2021 dazu, dass es fast ein Ding der Unmöglichkeit war, Proteste zu organisieren. Dementsprechend rief Nawalnyjs Team auch nicht dazu auf, nach Bekanntgabe der offiziellen Wahlergebnisse auf die Straße zu gehen. Stattdessen schob Wolkow die Verantwortung von sich, indem er erklärte, dass Protest nun die Aufgabe derjenigen Parteien sei, die ihrer legitimen Stimmen beraubt wurden.

Die nächsten Schritte des Teams bleiben unklar. Da mehrere von Nawalnyjs Mitarbeitenden im Ausland sind und das regionale Netzwerk der Bewegung zerschlagen wurde, hängt ihr Einfluss auf die russische Politik nun noch stärker von ihrer Onlinepräsenz ab. In dieser Hinsicht verheißen die jüngsten Schritte der amerikanischen Tech-Giganten Google und Apple nichts Gutes: Nawalnyj erklärte auf Twitter, er sei nicht von Putins Wahlbetrug überrascht, sondern davon, "wie gehorsam sich die allmächtigen Big-Tech-Konzerne zu seinen Komplizen machen". Als Politiker in seinen Ambitionen ein ums andere Mal ausgebremst, hat Nawalnyj in den vergangenen Jahren ein Team und eine große Anhängerschaft in den sozialen Medien und insbesondere auf YouTube aufgebaut. Bald könnte er auch dieses letzten Werkzeugs beraubt werden.

"Besser rot als tot"?

Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation hingegen hat bei den Wahlen zur Staatsduma ein starkes Ergebnis erzielt. Den offiziellen Ergebnissen zufolge konnte sie sowohl ihren Stimmenanteil (fast 19 Prozent) als auch die Zahl ihrer Sitze von 42 im Jahr 2016 auf 57 erhöhen. Die Kommunisten waren durch die Initiative "Smart Voting" stark unterstützt worden. In 137 von 225 Wahlkreisen mit Direktmandaten empfahl Team Nawalnyj eine/n kommunistische/n Kandidatin/en.

Wie wir in unserem Buch "Nawalnyj: Seine Gegner, seine Ziele, seine Zukunft" (Englisch "Navalny: Putin’s Nemesis, Russia’s Future?") zeigen, ist Nawalnyjs Anhängerschaft größtenteils liberal – im russischen Verständnis des Begriffs: Seine Unterstützer:innen befürworten die Rechtsstaatlichkeit, repräsentative Demokratie und eine freie Marktwirtschaft. In den letzten Jahren haben Nawalnyj und sein Team einen stärkeren Schwerpunkt auf Ungleichheit und Sozialpolitik gelegt, aber sie sind nach wie vor recht weit von den politischen Positionen der Kommunistischen Partei entfernt, die in ihrem Wahlprogramm traditionelle Sozialpolitik, Nostalgie für die Sowjetunion und nationalistische Positionen verbindet.

Die Erfahrungen der Abgeordneten der KPRF in der Moskauer Stadtduma, die 2019 mit Nawalnyjs Unterstützung gewählt wurden, zeigen jedoch, dass es zumindest in einigen Gruppierungen innerhalb der Partei Appetit auf stärkere Opposition gegen das autoritäre Regime gibt. Am letzten Tag der Wahl trat einer dieser Abgeordneten, Jewgenij Stupin, auf dem YouTube-Kanal Nawalnyj LIVE auf, um die Wahlergebnisse zu diskutieren. Nachdem Nawalnyjs Organisationen als "extremistisch" eingestuft und aufgelöst worden waren, ist das als eine sehr mutige Geste zu bewerten.

Es bleibt abzuwarten, ob sich diese oppositionelle Haltung einiger Gruppierungen innerhalb der KPRF in der Staatsduma selbst, die stärker kontrolliert wird als Regionalparlamente, fortsetzen kann. Der Parteivorsitzende Gennadij Sjuganow jedenfalls hat bei einem Treffen mit Präsident Putin nach der Wahl bereits deutlich gemacht, dass die Partei den Präsidenten unterstütze und er auf sie als stabilisierende Kraft zählen könne. Nawalnyjs Wette auf die taktische Stimmabgabe beruht jedoch immer noch auf der Hoffnung, dass die zahme Systemopposition radikalisiert werden kann. Da die KPRF ihren Status als einflussreichste Partei innerhalb dieses Teils der Opposition bestätigt hat, verdient ihr weiteres Vorgehen in naher Zukunft besondere Aufmerksamkeit.

Reaktionen des Staates

Wie oben dargelegt, versuchten die staatlichen Behörden, jegliche substanzielle Auswirkung von "Smart Voting" zu verhindern, bevor die Wahllokale überhaupt geöffnet hatten, indem sie Kandidierende ausschlossen und den Zugang zu Informationen über "Smart Voting" blockierten. Eine weitere wichtige Maßnahme des Kremls bestand darin, vermehrt auf Fälschungen während der drei Wahltage zurückzugreifen.

Zwar gab es immer noch Wahllokale und ganze Regionen – wie die Republik Sacha in Sibirien – in denen die Stimmzettel offenbar korrekt ausgezählt wurden. Und es gab Anzeichen dafür, dass allein die Anwesenheit einer/s unabhängigen Beobachterin/s in einem Wahllokal Wahlmanipulation reduzieren konnte. Doch das Gesamtbild war ein anderes. Basierend auf offiziellen Daten stellten Analysten die in den einzelnen Wahllokalen verzeichnete Wahlbeteiligung dem Anteil der Stimmen gegenüber, den ER erhalten hatte. Es zeigte sich die typische "Kometenform", die stark auf Betrug hindeutet: Bei einer Wahlbeteiligung von etwa 35 Prozent liegt ER bei etwa 30 Prozent; beide Zahlen waren im Vorfeld der Wahlen sogar von staatlich finanzierten Umfrageinstituten vorhergesagt worden. Wurde jedoch in einem Wahllokal eine höhere offizielle Wahlbeteiligung verzeichnet, so war auch der ER-Anteil tendenziell höher. Dies deutet eindeutig darauf hin, dass entweder zusätzliche Wahlzettel eingeworfen oder die Protokolle gefälscht wurden. Gerade diese zusätzlichen Stimmen sind es, die das Ergebnis der ER-Liste offiziell auf 49,8 Prozent brachten.

Es gibt keine ideale Strategie

Die Wahlen zur Staatsduma 2021 waren also eine Fortsetzung des Katz- und Mausspiels zwischen dem Kreml und der Opposition, die in einem immer feindseligeren Umfeld agieren muss und die es verstanden hat, die wenigen noch vorhandenen Möglichkeiten für echte Politik auszuschöpfen. Diese Öffnungen werden nun eine nach der anderen geschlossen. Nawalnyjs Bemühungen sowie die vieler anderer Oppositionskräfte haben der Bevölkerung die Idee taktischer Wahlkoalitionen nahegebracht. Doch wenn die Wahlen selbst allmählich ausgehöhlt werden, könnten sich solche Strategien in Zukunft als immer weniger effektiv erweisen. In einem Blogbeitrag aus dem Jahr 2019 wies Nawalnyj bereits auf diese Schwierigkeit hin:

    Ja, natürlich, "Smart Voting" ist nicht die ideale Strategie. Das ist sonnenklar. Ich möchte alle daran erinnern, dass unser politisches System "elektoraler Autoritarismus" genannt wird. Das Wort "elektoral" bedeutet, dass die Wahlen so manipuliert werden, dass nur Putin gewinnt. Und das Wort "Autoritarismus" heißt, dass es keine ideale Strategie gibt.

Mit der für die nahe Zukunft erwarteten Einführung der Online-Wahl in ganz Russland auch für die Präsidentschaftswahlen 2024 stehen Oppositionsakteure vor einem schweren Kampf, denn es drohen massive Wahlmanipulationen: Selbst die aufmerksamsten Wahlbeobachter:innen können gegen digitalen Betrug nichts ausrichten. Doch so düster es auch aussehen mag, die Anpassungsfähigkeit in der Vergangenheit legt nahe, dass das Team Nawalnyj noch nicht völlig abgeschrieben werden sollte.

Lesetipps

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Jan Matti Dollbaum ist Post-Doktorand an der Universität Bremen. Seine Forschungsinteressen umfassen Protest und soziale Bewegungen in demokratischen und autoritären Regimen. Seine Arbeiten wurden unter anderem in Perspectives on Politics , Post-Soviet Affairs und Social Movement Studies veröffentlicht.

Morvan Lallouet ist Doktorand an der Universität von Kent (Canterbury, UK) und forscht zu Nawalnyj, Liberalismus und der russischen Opposition.
Dr. Ben Noble ist Associate Professor für russische Politik am University College London, Associate Fellow von Chatham House und Senior Research Fellow an der Higher School of Economics in Moskau. Er forscht zu Parlamenten, Autoritarismus und russischer Innenpolitik. Er hat in einer Reihe von Fachzeitschriften veröffentlicht, darunter Comparative Political Studies , Russian Politics und Journal of European Public Policy .