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Kommentar: Warum hat Putin den Kurs geändert? | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Warum hat Putin den Kurs geändert?

Dmitrij Trawin

/ 12 Minuten zu lesen

Wladimir Putin trifft Li Keqiang, den Ministerpräsidenten der Volksrepublik China. (© picture-alliance, Russian Look)

Zusammenfassung

Seit 2012 – als Wladimir Putin seine dritte Amtszeit antrat – hat sich das politische Klima in Russland erheblich verschärft und haben sich die politischen Debatten stark ideologisiert. Der Grund dafür ist in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zu suchen. Während in den beiden ersten Amtsperioden Putins deutliche Verbesserungen im Leben der Menschen zu verzeichnen waren, stagnierte ab 2009 die wirtschaftliche Entwicklung – und mit ihr die Zustimmung für das Regime Putin. 2013 war die russische Wirtschaft an einem kritischen Punkt angekommen, doch mit der Annexion der Krim konnte Putin seine Machtposition im Land festigen. Für die Zeit nach Putin – das lehrt die Geschichte – dürfte Russland sich wieder stärker dem Westen zuwenden, falls die dortigen Krisen nicht dazu führen, dass der undemokratische, aber wirtschaftlich dynamische Osten zum attraktiven Vorbild gerät.

Putins harter Kurs: Ratlosigkeit oder Kampf den inneren und äußeren Feinden?

In den letzten Jahren hat sich das Putinsche Regime erheblich verhärtet. Lässt sich also sagen (wie das derzeit viele Gegner Putins tun), dass der russische Präsident ratlos und nicht mehr "adäquat" ist, dass er nicht versteht, wie das Land in einer Krisensituation zu regieren ist? Wohl kaum. Viele Diktatoren der Vergangenheit konnten von einer solchen "Inadäquatheit" nur träumen. Oft verloren sie ihre hohen Posten, weil sie die Zuneigung der Bevölkerung verloren hatten. Putin hingegen hat seine Position in den letzten Jahren noch stärken können. Die Zustimmungswerte für seinen Kurs sind äußerst hoch.

Lässt sich also sagen (wie das viele Anhänger Putins tun), dass der russische Präsident, wenn er seinen politischen Kurs verschärft, damit lediglich auf die hinterhältigen Machenschaften der inneren wie äußeren Feinde reagiert? Wohl kaum. Wenn die "Feinde" die Positionen des Regimes früher nicht untergraben haben, warum sollten sie jetzt aktiv geworden sein? Auf diese Frage hat Putin keine Antwort. Zu sehr erinnert die derzeitige Fahndung nach ideellen Feinden, Verrätern an der Nation und ausländischen Agenten an die Stalinsche Theorie von der Zuspitzung des Klassenkampfes, die mit der Bewegung hin zum Sozialismus zunehme. An jene Theorie, mit deren Hilfe Stalin seine Macht festigte.

Versuchen wir also, das Geschehen in Russland auf andere Weise einzuordnen. Anstelle von Hypothesen zur Person Putin – reitet er das Vaterland nun ins Verderben oder rettet er es? – sollte man sich objektive Wirtschaftsindikatoren anschauen. Merkwürdigerweise werden die politischen Wirren der letzten Zeit in vollem Maße vom Stand der wirtschaftlichen Probleme bestimmt.

Wirtschaftswachstum und Stagnation

Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betrug von 1999 (als Putin erstmals Ministerpräsident wurde und im Grunde seinen Präsidentschaftswahlkampf begann) bis 2008 (als Russland in eine ernste Wirtschaftskrise geriet) durchschnittlich sieben Prozent pro Jahr (siehe Grafik 3 auf. S. 15). Das war ein deutlicher Erfolg des Wirtschaftssystems der Reformperiode. Die bereits Anfang der 1990er Jahre unter Jegor Gajdar geschaffene Marktwirtschaft hatte im Zusammenspiel mit den hohen Ölpreisen endlich Früchte getragen. Das Wachstum des BIP sorgte darüber hinaus für einen Anstieg der Realeinkommen der Bevölkerung. Die ganz überwiegende Mehrheit lebte nun erheblich besser. Und auch wenn Russland in dieser kurzen Zeit natürlich nicht voll zu den wohlhabenden Ländern der Welt aufschließen konnte, so war der Kontrast zur Zeit der schweren Entbehrungen der 1990er Jahre wirklich frappierend.

Was geschah dann? Das Wirtschaftswachstum betrug von 2009 bis 2014 durchschnittlich nur mehr ein Prozent. Der wirtschaftliche Einbruch durch die Krise wurde von einem drei bis vier Jahre andauernden, schwachen Aufschwung abgelöst. 2015 rutschte Russland erneut in eine echte Wirtschaftskrise, bei der das BIP um 2,8 Prozent und in der Folge das Realeinkommen der Bevölkerung zurückgingen. Der Energiemarkt brach zusammen, Der Automarkt ebenfalls. Der Auslandstourismus kollabierte. Der Immobilienmarkt stagnierte: Die Bauherren bauten die Häuser zu Ende, konnten den Wohnraum aber nicht zu den bisherigen Preisen verkaufen. Viele begannen ernsthaft zu sparen, sogar am Essen. Und auch wenn die angelegten Stabilitätsreserven des Wirtschaftssystems Russland weiterhin vor einem Abgleiten in die Armut bewahren, so könnte selbst der überzeugteste aller Anhänger Putins und dessen politischen Kurses nichts Gutes über die derzeitige Lage der Dinge sagen. Die Daten für 2017 zeigen, dass sich Russland aus der Rezession in eine Stagnation hineinbewegt hat. Das BIP ist leicht gewachsen, doch betrug dieses Wachstum nur rund die Hälfte des durchschnittlichen Wachstums weltweit.

In der ersten Phase der Ära Putin (1999–2008) hatten die Wähler reale Gründe gehabt, das amtierende Regime zu unterstützen. Die Erfolge waren natürlich nicht unmittelbar auf Wladimir Putin zurückzuführen, sondern Folge der marktwirtschaftlichen Reformen in den 1990er Jahren, im Zusammenspiel mit teurem Öl und einer Abwertung [des Rubel]. Vom Durchschnittswähler allerdings wurden derlei feine Details wohl kaum wahrgenommen. Dieser dankte die Erfolge dem Präsidenten des Landes und gab ihm bei den Wahlen seine Stimme.

In der zweiten Phase von 2009 bis heute, die auch das vierjährige Zwischenspiel umfasst, bei dem Dmitrij Medwedew formal Präsident war, schwanden allmählich die realen Gründe für eine Unterstützung des allgemeinen Kremlkurses. Es gab bald absolut nichts mehr, wofür man dem Regime danken könnte, weil das Leben nicht mehr besser wurde.

Bei einer derartigen Wendung der Dinge beginnen die Leute in demokratischen politischen Systemen für die Opposition zu stimmen. Putin hätte aber wohl kaum einen echten, vollendeten Abgang geduldet. Es ist zu spüren, dass er gewillt ist, Russland noch recht lange zu regieren. Er musste nun also wirksame Mittel zur Sicherung seiner persönlichen Macht finden. Dazu musste ein neues politisches System eingerichtet werden, und zwar auf eine Art, die es von wirtschaftlichen Perspektiven unabhängig machte, damit es auch Krisenzeiten überstehen würde.

Russland 2013: wirtschaftliche Probleme als Gefahr für den Präsidenten

All das wurde auch tatsächlich unternommen. Das politische Regime wurde seit 2012 verschärft und in stärkerem Maße ideologisiert. Die Manipulation der Wahlen und in den Medien wurde erbarmungslos. Die Hauptsache aber war, dass Russland die Krim annektierte. Die Tatsache, dass das ausgerechnet 2014 geschah, ist nicht allein durch die revolutionären Ereignisse in der Ukraine zu erklären, sondern auch durch die Probleme, die es in Russland selbst gab.

Die Wirtschaft Russlands war im ausgehenden Jahr 2013 an einem kritischen Punkt angelangt. Bis zu diesem Moment waren die Optimisten (und von denen gab es in Russland nicht wenige) davon ausgegangen, dass eine relativ normale wirtschaftliche Entwicklung trotzdem möglich ist, und sei es aufgrund weiterhin recht hoher Preise für Öl und Gas, der wichtigsten Exportposten Russlands. Die Zeit nach der Krise (2010–2012) schien das bestätigt zu haben. In jenen Jahren hatte das Wirtschaftswachstum drei bis vier Prozent betragen. Und obwohl das – verglichen mit den sieben Prozent vor der Krise – ein schwaches Ergebnis war, so konnte die Bevölkerung sich normal ernähren, sich neue Importautos kaufen, im Ausland Urlaub machen und sich sogar mit Hilfe von Hypotheken Wohnungen kaufen.

Die Ergebnisse des Jahres 2013 zerstörten solche optimistischen Vorstellungen. Trotz hoher Ölpreise, die zwischen 100 und 110 US-Dollar pro Barrel schwankten, gab es praktisch kein Wachstum des BIP mehr. Genauer gesagt, betrug es etwas mehr als ein Prozent, was für ein Schwellenland, das zu Europa aufschließen will, ein äußerst schwaches Ergebnis darstellt.

Qualifizierte Experten des Kreml waren sich wohl darüber im Klaren, dass eine Zunahme der wirtschaftlichen Probleme allmählich zu einem Rückgang der Umfragewerte des Präsidenten führen würde. Einen Einbruch des Rubelkurses und der Wirtschaft hatte man damals womöglich nicht erwartet, weil man noch nicht wusste, was mit dem Ölpreis 2014–2015 geschehen würde. Selbst eine anhaltende Stagnation hätte für das politische Überleben Putins eine Gefahr bedeutet.

Wenn die russische Wirtschaft fünf Jahre vor den Präsidentschaftswahlen ihr Wachstum eingestellt hätte, hätte es womöglich für das Staatsoberhaupt 2018 schwer werden können, wiedergewählt zu werden. Und wenn die Stagnation plötzlich in eine Krise umgeschlagen wäre (wie es dann praktisch auch geschah), dann wären auch Putins Aussichten höchst ungewiss gewesen. Es wurde etwas gebraucht, das die Bevölkerung beseelen würde. Die Bevölkerung musste dazu gebracht werden, die "kleinen" Schwierigkeiten des Alltags zu vergessen. Es musste den Leuten das Gefühl gegeben werden, dass ihre Opfer nichts mit der Misswirtschaft und der Korruption des Regimes zu tun haben, sondern mit der Erfüllung irgendeiner großen Mission und den Machenschaften von Feinden aller Art.

Die Krim als Ablenkung fürs Volk

Oft wird zur Lösung solcher Probleme ein kleiner siegreicher Krieg geführt. Die Herrscher versuchen es so einzurichten, dass die Bevölkerung von militärischen und politischen Erfolgen beseelt ist, dabei aber nicht allzu große Opfer bringen muss. Russland verfügte bereits über die Erfahrung eines kleinen siegreichen Krieges: 2008 war es gelungen, Georgien in nur fünf Tagen niederzuringen. Neben Georgien waren noch einige andere Punkte verblieben, an denen man hätte mit Gewalt vorgehen können. Es ist schwer abzuschätzen, welche Pläne der Kreml seinerzeit in der Schublade hatte, doch ergab es sich, dass das Leben plötzlich von allein die Richtung wies, in der man vorzugehen hatte. Das russlandfreundliche Regime von Viktor Janukowytsch in der Ukraine stürzte plötzlich, wobei zugegebenermaßen die Legitimität des Vorgehens der Revolutionäre ernste Zweifel hervorrief. In einigen Regionen der Ukraine war die Ablehnung der revolutionären Aktionen in Kiew beträchtlich. Das konnte der Kreml für sich nutzen.

Die russische Führung beschloss die Krim einzunehmen. Was die Manipulation des Bewusstseins der Bevölkerung anbelangt, so erwies sich das als höchst gelungene Entscheidung. Die ukrainische Armee war noch weniger einsatzfähig, als es die georgische im Jahr 2008 gewesen war. Die Krim wollte nach Russland, und zwar sowohl wegen der Furcht vor Maßnahmen der ukrainischen Regierung, als auch aufgrund von Hoffnungen auf eine finanzielle Unterstützung durch den Kreml und eine Erhöhung der Gehälter und Renten. Und die patriotische Öffentlichkeit in Russland nahm die Rückkehr der Länder, die als urrussisch [bezogen auf den Staat; d. Red] galten – und die zudem der "sakrale Ort" waren, an dem die Taufe der Rus vollzogen wurde –, als Akt höherer Gerechtigkeit wahr, als eine Art Erfüllung einer Mission.

Im Grunde kam es nicht einmal richtig zu einem kleinen siegreichen Krieg. Die Krim wurde sehr schnell besetzt, und die Umfragewerte von Putin gingen steil nach oben (siehe Umfragen auf S. 23–27). Rein praktisch gesehen, hat von dieser Operation allein der Kreml profitiert, der alle Kosten auf Russland als Ganzes abwälzte und sich selbst den Gewinn sicherte.

Die Aufgabe, die mit Hilfe und wegen der wirtschaftlichen Entwicklung nicht zu lösen war, wurde von den Polittechnologen des Kreml mit Hilfe der Außenpolitik hervorragend gelöst. Nach dem Erfolg mit der Krim konnte Putin getrost nicht nur in eine Stagnation ziehen, sondern sogar in eine ernste Wirtschaftskrise. Das Volk enthob den Präsidenten jeder Verantwortung für die Wirtschaft, indem sie diese den Bürokraten und Oligarchen zuschob. Der Weg zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2018 war frei.

Allem Anschein nach wird Putin Russland noch lange regieren. Seine Machtpositionen wurden weder durch die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten erschüttert, noch durch die Sanktionen des Westens. Dennoch wird die Herrschaft des derzeitigen Präsidenten nicht ewig dauern können. Putin wird früher oder später abtreten, und dann wird erneut die Frage der Demokratisierung, neuer Wirtschaftsreformen und der Wahl des strategischen Pfades auf die Agenda Russlands rücken. Dann wird die Frage sein, inwieweit dieser Weg ein westlicher sein wird. Und die Frage, ob Russland ein autoritäres Land bleiben wird, das europäische Werte nicht annimmt. Die Antwort auf diese Fragen hängt nicht allein von Russland ab, sondern auch von den Ländern des Westens, die für die Reformatoren in Russland ein positives Beispiel sein können – oder eben auch nicht.

Vom Westen lernen … Demokratie und Tyrannei

Wendet man sich der Geschichte zu, stellt man unweigerlich fest, dass der Westen für die Entwicklung Russlands stets ein Vorbild abgab. Die Praxis, von dort stets das Beste zu übernehmen, hatte sich bereits unter Peter dem Großen etabliert, der Anfang des 18. Jahrhunderts herrschte. Die Merkmale dessen, was man übernahm, wurde aber jeweils von jenen Tendenzen bestimmt, die in Europa aktuell vorherrschten. Die Russen haben vom Westen die Demokratie übernommen aber auch die Tyrannei, je nachdem, was in der jeweiligen Epoche Mode war.

Peter der Große war zweifellos ein absolutistischer Monarch. Der petrinische Despotismus wurde lediglich in eine nationale Hülle verpackt. Die Grundlage blieb gleichwohl europäisch. Das 18. Jahrhundert hatte in Frankreich, Spanien, Preußen und Schweden absolutistische Staaten entstehen lassen. Und der russische Zar hat das übernommen und auf eine Art mit der russischen Leibeigenschaft verknüpft, wie es ihm gelegen kam.

Die Bolschewiki, die vor hundert Jahren die Revolution ins Werk setzten, hatten ihren Marxismus natürlich auch im Westen gelernt. Dort war gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Sorge um das Volk in Mode gekommen. Diese Ideen wurden von Lenin und Stalin als Grundlage übernommen und in stark entstellter Form umgesetzt, in Gestalt von Massenrepressionen.

Anders als die Despoten hat Alexander II. die Idee der Freiheit verfolgt. 1861 schaffte er die Leibeigenschaft ab. Das gelang ihm, weil die Mitte des 19. Jahrhunderts für Europa eine Epoche des maximalen Liberalismus war. Der Absolutismus gehörte bereits der Geschichte an und die autoritären und totalitären Regime des 20. Jahrhunderts waren noch nicht geboren. Also hatte der Westen Russland erneut ein Entwicklungsmodell vorgeführt.

Michail Gorbatschow betrieb die Politik der Perestroika, als der gesamten zivilisierten Welt klar war, dass der sowjetische Sozialismus GULAG und Warenmangel bedeutete, und keineswegs die Sorge um den einfachen Menschen. Im Westen kamen mit den 1980er Jahren neoliberale Ideen in Mode, die vorübergehend Vorstellungen von einer staatlichen Regulierung verdrängten. Gorbatschow wusste kaum, was er eigentlich aufbauen wollte, und er reformierte den Sozialismus, indem er aus Europa jene Staatselemente übernahm, die ihm effektiv erschienen.

Es ist wichtig, dies alles zu berücksichtigen, will man verstehen, wie sich die Gesellschaft in Russland nach Putins Abtritt verändern wird, wenn das Land ein weiteres Mal den Ausweg aus einer Systemkrise suchen muss.

Die Länder des Westens waren reicher als Russland und werden das natürlich auch bleiben. Umso mehr, als die Jahre, die das Land noch von Putin regiert werden wird, keine leichten werden dürften. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die russische Wirtschaft weiterhin stagnieren und sich der Rückstand zum Westen weiter verstärken. Die Attraktivität des westlichen Modells wird dabei nicht nur von formalen Vergleichen abhängen, die aufgrund von Indikatoren wie dem BIP pro Kopf angestellt werden. Wichtiger ist die subjektive Wahrnehmung. Werden die neuen Führungspersönlichkeiten, die Putin nachfolgen werden, der Ansicht sein, dass der Westen weiterhin einen Aufschwung erlebt? Oder werden sie davon ausgehen, dass sich Europa im Niedergang befindet und nicht in der Lage ist, seine vielzähligen Widersprüche zu überwinden?

Falls die westliche Demokratie sich dann zu gegebener Zeit als stark und stabil erweisen sollte, dürfte das Russland nach Putin erneut eine Wendung nach Westen unternehmen, in dem Bestreben, endlich jene Institutionen (Spielregeln) zu etablieren, durch die die zivilisierte Welt erfolgreich wurde. Falls die westliche Demokratie aber erneut in einer Krise stecken sollte, könnten Russlands neue Führer versucht sein, ein anderes Modell als Vorbild zu nehmen.

Leider sind recht viele Anzeichen einer Krise aus­zumachen.

Die Krise(n) des Westens

Als Erstes ist die Pyramide der Staatsschulden zu nennen, die sich – angefangen bei den USA – über der gesamten Welt erhebt. Der Westen lebt über seine Verhältnisse, indem er erheblich mehr verbraucht, als er produziert. Die Putinsche Propaganda arbeitet ständig mit diesem Umstand. Selbst einfache Leute ohne höhere Bildung sprechen (nach Vorlagen aus dem Fernsehen) oft von diesen Problemen des Westens. Falls sich das Schuldenproblem im Westen ausgerechnet in jenem Moment drastisch zuspitzen sollte, in dem Russland ein weiteres Mal über seinen zukünftigen Weg zu entscheiden hat, dürfte für geraume Zeit keine westliche Entwicklung der russischen Politik zu erwarten sein.

Als Zweites wären da die aktuellen Migrationsfragen, die von den verschiedenen Staaten des Westens eher schlecht als recht bewältigt werden. Das wird alles aktiv in der Propaganda des Kreml eingesetzt. Alle Konflikte im Zusammenhang mit Migranten in westlichen Ländern werden in Russland breit diskutiert, wodurch Politiker an Popularität gewinnen, die hier für einen harten Kurs eintreten (siehe den Beitrag von Julia Glathe Externer Link: in dieser Ausgabe, S. 2–5).

Drittens ist an die Gefahren des Terrorismus zu erinnern, die immer weiter zunehmen. Viele Russen sind der Ansicht, dass Putin das Problem des Terrorismus mit Hilfe des Krieges in Tschetschenien gelöst habe, während die westliche Demokratie dieses Problem nicht bewältigt.

Viertens stellt die intensiv zunehmende Bürokratie der EU ein ernstes Problem dar, unabhängig davon, dass eine europäische Integration ein wichtiges und fortschrittliches Unterfangen ist. Immer öfter ist in Russland zu hören, dass es zwischen Putins Bürokratie und der Bürokratie im Westen keinerlei Unterschied gibt, und somit auch keine Demokratisierung vonnöten sei.

Fazit

Die oben aufgezählten Probleme dürften für den Westen wohl kaum fatal sein. Gleichwohl sollte man sich bewusst sein, dass es im Osten undemokratische, aber sich in wirtschaftlicher Hinsicht dynamisch entwickelnde Länder gibt (vor allem China), die für Russland ein attraktiveres Vorbild sein könnten als die Länder des Westens. Hinsichtlich des Lebensstandards wird es noch eine ganze Weile dauern, bis sie die weltweit führenden Nationen eingeholt haben. In Bezug auf die Lebensumstände (minimale Staatsausgaben, minimale Staatsverschuldung, ein Minimum an Migranten, minimal Terroranschläge), könnten sie verlockend werden.

Die Putinsche Führung versucht schon seit langem, die Freundschaft Chinas zu gewinnen. Darüber hinaus besteht bei Putin auch noch die Hoffnung auf eine Aussöhnung mit dem Westen. Falls diese jedoch ausbleibt, könnte sich Russlands Wendung nach Osten verstärken.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Dmitrij Trawin ist Professor für Wirtschaft an der Europäischen Universität in St. Petersburg, wo er auch das Zentrum für Modernisierungsforschung leitet.