Eigentlich hatte ich gar nicht vor, über die Dumawahlen im September zu schreiben. Denn erstens ist das russische Parlament nicht wirklich wichtig. Es ist nicht viel mehr als eine Bühne, auf der die Abgeordneten Stücke nach dem Drehbuch der Präsidentenadministration zur Aufführung bringen. Alle (wichtigen) Gesetze werden dort ausgedacht und vorbereitet. Initiativen aus der Duma selbst haben nur selten eine Chance, tatsächlich Gesetz zu werden. So oder so müssen sie zuvor im Kreml gut geheißen werden.
Zweitens sind Wahlen in Russland schon lange keine Ereignisse mit ungewissem Ausgang mehr. Der Kreml stellt ohnehin sicher, dass seine Partei, "Einiges Russland", eine komfortable Mehrheit in der Duma bekommt. Das ist ein wenig so wie mit dem englischen Spruch über die deutsche Fußballnationalmannschaft, die, wie immer auch das Turnier laufe, am Ende immer gewinne. Ins russische Parlament wird der Kreml noch zwei oder vielleicht auch alle drei der schon jetzt dort vertretenen Parteien lassen. Sie alle unterstützen Putins politischen Kurs, haben siegestrunken für den Anschluss der Krim an Russland gestimmt und sind überhaupt froh, ein warmes Plätzchen im Parlament zu haben. Vielleicht sehen die Regisseure ein wenig Spannung vor, bevor klar wird, dass es die liberale Partei "Jabloko" erneut nicht über die Fünfprozenthürde schafft. Dahinter dürfen ein paar Parteien wie die schon etwas ältere nationalistische "Rodina" oder eine neue, angeblich liberale Partei mit dem programmatischen Namen "Wachstum" (russisch: "rost") auf ein oder maximal zwei Direktmandate hoffen.
Drittens, und das ist der kürzeste der drei Eingangsabsätze dieser Notizen, sind Wahlen kaum noch für die Legitimierung der Putinschen Herrschaft notwendig. Als siegreicher Kriegsherr braucht Putin Akklamation, keine Konkurrenz.
Das war vor vier Jahren noch anders. Damals, im Winter 2011/2012, lösten die massiven Wahlfälschungen bei den Dumawahlen bis dahin in Putins Russland unbekannte Massenproteste aus, die sich zudem schnell gegen Putin selbst und seine Rückkehr in den Kreml wandten. Selbst nachdem Putin im März 2012 die Präsidentenwahlen gewonnen hatte, waren die Proteste nicht vorbei. Erst mit der folgenden national-konservativen Wende, direkten Repressionen gegen Demonstranten (vor allem die sogenannten Bolotnja-Prozesse) und bis heute mehr als 35 neuen repressiven Gesetzen konnte der Protestgeist wieder zurück in die Flasche gedrängt werden. Den Pfropfen auf die Flasche aber bildete die Annexion der Krim mit dem nur halb verdeckten Krieg gegen die Ukraine. Seither ist Putin Kriegsherr und seine Legitimation hängt in den Augen einer großen Bevölkerungsmehrheit nicht an so etwas Profanem wie Wahlen oder wirtschaftlichem Erfolg, sondern an seinem "Verdienst", Russland (gegen den Westen!) wieder zur Großmacht gemacht zu haben.
Warum also sollte man sich mit Wahlen beschäftigen, die nicht wirklich Wahlen und zudem Wahlen zu einem Parlament sind, das nichts zu sagen hat? Die Antwort ist einfach: Weil das oben gezeichnete Bild zwar stimmt, aber eben ein Bild ist, eine statische Abbildung einer ganz bestimmten Situation. Es ist schon im gleichen Moment nicht mehr wahr, in dem es fertig ist. Das Leben ist viel dynamischer. Denn der Ruhm des Kriegsherrn und Siegers im Ringen mit dem Westen beginnt schon wieder zu verblassen. Das liegt vor allem daran, weshalb das Ganze überhaupt angefangen hat: an der sich nun schon viele Jahre hinziehenden, tiefgreifenden Wirtschaftskrise. Zwar erklärten erst vor wenigen Wochen (nicht zum ersten Mal) beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg Vertreter der russischen Regierung vielstimmig, die Talsohle sei durchschritten und spätestens zum Jahresende sei die Rezession vorbei. Doch schon die nur wenig später veröffentlichten aktuellen Wirtschaftsstatistiken für den Mai dieses Jahres straften sie Lügen. Die leichte Erholung vom Jahresanfang, auf die sie sich bezogen, war ein Strohfeuer und ist bereits wieder vorbei.
Dass es ohne grundsätzliche Änderungen so schnell (wenn überhaupt) nicht wieder aufwärts gehen werde, sagen praktisch alle wichtigen russischen Wirtschaftsexperten (von denen nicht wenige in staatlichen Beratungsgremien sitzen) seit langem. Denn die Krise hat mehrere Gründe: die strukturelle Abhängigkeit von Rohstoffexporten, der tief gefallenen Preise vor allem für Öl, aber auch viele andere Rohstoffe, und ein wenig auch die westlichen Sanktionen. Welcher dieser Gründe auch immer die Hauptrolle spielt, einig sind sich (fast) alle Experten, dass der gegenwärtige Konfrontationskurs mit dem Westen und die (nach der Sowjetunion erneuten) Konzentration der Wirtschaft auf den militärisch-industriellen Komplex eine Lösung der Wirtschaftsprobleme erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.
Zwar funktioniert die neu- oder besser: wiederentdeckte Legitimations-Ressource "kleiner, siegreicher Krieg" immer noch. Aber die Wirkung wird bereits schwächer. Den Erfolg mit der Annexion der Krim zu wiederholen, ist in der Ostukraine nicht gelungen. Das militärische Eingreifen in Syrien hat ein paar kleinere Etappensiege gezeitigt, aber letztlich ist Syrien zu weit weg von den Herzen der russischen Wähler, um lange und nachhaltig zu wärmen. Auch die Genugtuung, es den Amerikanern wieder einmal zu zeigen (wie in guten alten Sowjetzeiten), wird langsam schaler.
Als Folge ist der Kreml in eine Art Zwickmühle geraten. Um die Legitimation seiner Herrschaft im Inneren auf nötig hohen Niveau zu erhalten, bedürfte es entweder wirtschaftlicher Erfolge oder aber neuer Erfolge an der Kriegsfront. Die wirtschaftlichen Erfolge sind umso unwahrscheinlicher, je größer die Konfrontation mit dem Westen ist. Und die Konfrontation dürfte sich ohne wirtschaftliche Erholung nicht allzu lange durchhalten lassen, ohne Ärger im Inneren zu provozieren. In dieser Situation bekommen Wahlen, selbst wenn es Wahlen zu einem Parlament sind, dass zwar formal viel, tatsächlich aber wenig zu sagen hat, wieder weit mehr Bedeutung als viele (darunter auch ich) lange Zeit angenommen haben.
Damit komme ich unmittelbar zu den Wahlen und werde versuchen auf folgende Fragen einzugehen: Warum finden sie schon im September und nicht mehr, wie bisher, Anfang Dezember statt? Wer tritt an? Oder besser: Wer darf antreten? Mit welchen Chancen? Und: Welchen Einfluss, wenn überhaupt, wird das Ergebnis auf die Politik des Kremls haben? Eine wirklich überzeugende Begründung für die Verschiebung des Wahltermins von Anfang Dezember auf Mitte September hat niemand gegeben. Auch daher dürften die Vermutungen von Oppositionellen nicht ganz abwegig sein, der neue Termin, direkt nach den in Russland traditionell langen Sommerferien solle ihnen möglichst wenig Zeit für den Wahlkampf lassen und die Wahlbeteiligung gering halten. Weniger Wähler an der Urne nützen erfahrungsgemäß eher dem Kreml und vielleicht noch den Kommunisten. Ihre Wähler sind im Schnitt älter, ärmer und ungebildeter. Und disziplinierter.
In diesem Jahr hat der Sommertermin noch einen weiteren Vorteil für den Kreml. Im Herbst steht die Verabschiedung des nächsten Haushalts durch die Duma an. Angesichts des großen Lochs auf der Einnahmenseite wegen der Wirtschaftskrise dürfte das ein Schreckenshaushalt werden, mit vielen und tiefen Einschnitten auch und besonders im sozialen Bereich. Wären die Wahlen wie früher erst im Dezember, wären Auswirkungen des Volkszorns auf das Ergebnis kaum auszuschließen.
Der Sommer und eine auf etwa zweieinhalb Monate verkürzte erlaubte Wahlkampfzeit verringern auch das Aufkommen neuer Bewerber. Ohne Unterschriften sammeln zu müssen, dürfen allerdings auch so 14 Parteien antreten: die vier in der jetzigen Duma vertretenen ("Einiges Russland", die "Kommunistische Partei", die "LDPR" und "Gerechtes Russland"), dazu "Jabloko", weil sie bei den vorigen Wahlen mehr als drei Prozent erhalten hatten, sowie neun Parteien, die in verschiedenen Regionalparlamenten sitzen. Allerdings werden an die Parteien mit ihren Listen anders als beim letzten Mal nur noch die Hälfte der Parlamentssitze vergeben. In der für den Kreml besonders guten (sprich: Direkt-nach-Krimannexions-)Zeit wurde, um die Legitimität des Parlaments in den Augen der Bevölkerung zu erhöhen, beschlossen, die Hälfte der Dumasitze wie vor 2007 wieder in Direktwahlkreisen vergeben.
Auf den ersten Blick scheint das für Einiges Russland weniger ein Problem als ein Vorteil zu sein. Da die Mandate an den Kandidaten oder (weit seltener) die Kandidatin mit den meisten Stimmen, also einer relativen Mehrheit, vergeben werden, hat eine Partei, die wohl wieder rund die Hälfte der Stimmen bekommen wird, einen großen Vorteil gegenüber allen anderen, weit kleineren Konkurrentinnen. 2003 holte sich Einiges Russland dank der Direktmandate eine Zweidrittelmehrheit.
Doch die Sache ist komplizierter und das liegt erneut an der Struktur der russischen Wirtschaft und ihrer Krise. Hier muss ich ein wenig ausholen. Die russische Wirtschaft ist eine Rentenökonomie. Der Großteil des Geldes wird nicht erarbeitet, sondern buchstäblich aus dem Boden gezogen. Wie gut es einzelnen Regionen also geht, liegt nicht an guter oder schlechter Politik, sondern (fast) ausschließlich daran, ob die Region über Bodenschätze verfügt oder über Kaufkraft, weil in ihr viele gut bezahlte Dienstleister leben, was vor allem für Moskau und St. Petersburg, sowie ein halbes Dutzend weiterer Großstädte gilt. Etwa die Hälfte seiner Einnahmen bezieht der Staatshaushalt aus zwei Steuern: der Rohstoffsteuer und der Mehrwertsteuer. Die Rohstoffsteuer stammt vorwiegend aus ziemlich menschenleeren Gebieten im hohen Norden und in Sibirien. Der größte Teil der Mehrwertsteuer kommt, siehe oben, aus Moskau, St. Petersburg und ein paar anderen größeren städtischen Zentren. Den größten Teil der anderen Hälfte der Staatseinnahmen bringt der Zoll zusammen. Sie bestehen vor allem aus Abgaben für den Export von Rohstoffen und dem Zoll auf den Import von Produktions- und Verbrauchsgütern.
Der Zentralstaat verteilt diese Einnahmen unter der großen Masse der armen Regionen. Für diese Verteilung gibt es aber keinerlei feste oder gar transparente Regeln. Sie geschieht nach politischen Erwägungen des Kremls, aufgrund mehr oder weniger zufälliger Verbindungen zwischen einzelnen Regionen und einzelnen Leute oder Gruppen im Moskauer Machtzentrum und aufgrund guter Lobbyarbeit in Moskau durch Vertreter der Regionen. Die Hauptaufgabe war bisher, die jeweilige Region ruhig zu halten. Dafür durften sich die regionalen Eliten ziemlich unverschämt bereichern. Im vorigen Jahr wurden zwei Gouverneure, aus Sachalin und der Republik Komi, samt einiger ihrer Mitarbeiter wegen Korruption verhaftet. Vorige Woche kam noch der Gouverneur der Region Kirow, Nikita Belych, hinzu. Schon diese Verhaftungen haben das bis dahin gut austarierte Loyalitätssystem Zentrum-Regionen ins Schwanken gebracht. Durch die Direktmandate wird es nun zusätzlich durcheinander gebracht. Bisher spielte die regionale Bevölkerung in den Beziehungen Kreml – Gouverneure kaum eine Rolle. Sie musste nur ruhig gehalten werden und durfte nicht aufmucken. Dazu diente das aus Moskau bereit gestellte Geld. Nun soll aber diese Bevölkerung genau zu einer Zeit die (aus Kremlsicht) richtigen Kandidat wählen, in der es mit dem Geld immer schlechter wird.
Zurück zu den Wahlchancen. Allen Umfragen nach werden sich die Mehrheitsverhältnisse in der neuen Duma von der alten kaum unterscheiden. Mit den Direktmandaten kann Einiges Russland wohl wieder eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zusammen bekommen. Das liegt auch daran, dass sich die Parlamentsparteien in vielen Wahlkreisen abgesprochen haben und ihre Kandidaten nicht gegeneinander antreten lassen. So versuchen sie, ihre bisherigen Prozentanteile an den Mandaten auch für die Direktwahlkreise festzuschreiben. Andere als die schon jetzt im Parlament vertretenen Parteien haben kaum Chancen, die Fünfprozenthürde zu überwinden. Jabloko und vielleicht noch Rodina haben wohl Chancen, mehr als drei Prozent zu erreichen. Das würde ihnen für die kommenden fünf Jahre die staatlichen Parteizuschüsse sichern, und das Recht, automatisch an den nächsten Wahlen teilnehmen zu dürfen.
Der einzige Unterschied in der Zusammensetzung der neuen zur alten Duma könnten ein paar nicht zu den bisherigen Parlamentsparteien gehörige, direkt gewählte Abgeordnete sein. Einige Beobachter gehen davon aus, dass der Kreml damit sein "Wohlwollen" mit einigen der wohl sicher an der Fünfprozenthürde scheiternden Parteien (darunter möglicherweise auch Jabloko) ausdrücken könnte und demonstrieren will, dass es sich doch tatsächlich um demokratische Wahlen handele. Einen ersten Hinweis darauf dürfte die Registrierung von öffentlich bekannten Oppositionskandidaten wie Wladimir Ryschkow im Altaj liefern. Ryschkow war dort bis zur Abschaffung der Direktwahlkreise 2003 viermal hintereinander direkt gewählt worden und tritt nach seiner Trennung von der Parnas-Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Michail Kasjanow für Jabloko an. Direktwahlkandidaten müssen bis zum 22. Juli ihre Kandidatur gegenüber den Wahlkommissionen erklären und haben dann bis Anfang August Zeit, die jeweils notwendigen 15.000 Unterschriften zu sammeln. Allein das wird im Sommer für oppositionelle Kandidaten ohne berühmt-berüchtigte "administrative Ressourcen" keine einfache Aufgabe werden.
Doch wozu all dieser Aufwand, wenn die Duma ohnehin kaum etwas zu sagen hat? Für die Opposition wird es vor allem darum gehen, den Wahlkampf dazu zu nutzen, überhaupt wieder "sichtbar" zu werden. Das gilt auch für eine eventuelle Parlamentspräsenz nach den Wahlen. Selbst wenige Abgeordnete haben weit bessere Chancen, medial zu den Menschen durchzudringen als keine. Außerdem bietet eine Vertretung im Parlament im legalistischen Russland immer noch einen, wenn auch nur kleinen, zusätzlichen Schutz gegen allerlei Unbill von Seiten der Justiz, des Geheimdienstes und der Polizei. Und das nicht nur für die Abgeordneten, sondern auch für ihre Partei und ihre Unterstützer.
Ansonsten gilt wie im Fußball die Regel, "Nach der Wahl ist vor der Wahl". Die Dumawahlen sind nur eine Etappe auf dem Weg zu den Präsidentenwahlen im Frühjahr 2018.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Externer Link: Jens Siegerts Russlandblog.
Die Russland-Analysen werden von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde erstellt. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb veröffentlicht sie als Lizenzausgabe.