Die Olympischen Winterspiele in Sotschi beginnen in zwei Monaten, also sehr bald. Und dieser Blog hat sie noch nicht zum Thema gehabt. Wohl ein Versäumnis. Wenn ich so nachdenke, liegt das aber daran, dass mir dazu eher zu viel einfällt als zu wenig. Man könnte über Sotschi und die Korruption schreiben. Über Sotschi und den Nordkaukasus. Über Sotschi, Abchasien und Georgien. Über Sotschi und die Umwelt. Über Sotschi und den Umgang mit der eigenen Bevölkerung. Über Sotschi als Sicherheitsproblem. Über Sotschi als nationales und persönliches Prestigeprojekt. Über Sotschi und den Polizeistaat. Über Sotschi als nationale Selbstversicherung. Über Sotschi, Russland und Doping. Und selbstverständlich auch über Sport. Also im Schnelldurchgang: Offiziell rund 40 Milliarden Euro kosten die Sotschi-Spiele inzwischen. Das ist gut sechsmal mehr als ihre Vorgänger in Vancouver 2010 (was in Kanada ziemlich kritisch diskutiert wurde). Es gibt wohl niemanden in Russland, der oder die nicht davon überzeugt ist, dass ein erheblicher Teil dieses Geldes geklaut worden ist. Aber es geht ums nationale Prestige. Und geklaut wird überall im russischen Staat. Deshalb schaut man erstmal weg, zumindest bis der Medaillenspiegel feststeht (und Russland, so natürlich die große Hoffnung bei Führung und Volk, ganz oben zu finden ist).
Der Nordkaukasus bleibt unruhig (bis auf die mit viel Blut und Leid erkaufte Ruhe in Tschetschenien). Die nordkaukasischen Regionalpotentaten haben, zumindest bis Sotschi, eine carte blanche. Hauptsache es bleibt ruhig. Ansonsten gibt es in Russlands Süden Russlands Polizei, Geheimdienst, Armee, noch mehr Polizei, noch mehr Geheimdienst und noch mehr Armee. Alles, was auch nur ansatzweise verdächtig ist, wird kontrolliert und reglementiert. Sotschi wird eine Festung sein, wie es bisher nur G8- oder G20-Tagungsorte waren. Hoffentlich (und ich hoffe das wirklich und selbstverständlich aus ganzem Herzen!) geht alles gut. Ob deswegen aber alle paar Tage (ausländische) Journalisten drangsaliert werden müssen, regionale Umweltaktivisten festgesetzt oder ins Ausland getrieben, und die 30 armen Greenpeace-Aktivisten (als Warnung für alle, die auf die Idee kommen könnten, die weltweite Olympiaaufmerksamkeit für ihre auch noch so berechtigten Anliegen nützen zu wollen) zu hohen Haftstrafen verurteilt werden müssen, wage ich zu bezweifeln, fürchte aber, damit hier im Land in der Minderheit zu sein. Für Sotschi ist (fast) nichts zu teuer. Georgien und Abchasien vergessen wir während der Olympischen Spiele lieber. Das ist zu verwickelt und stört, seit Putins persönlicher Lieblingsfeind Michail Saakaschwili nicht mehr georgischer Präsident ist, nicht wirklich. (Zu) Viele Doping-Disqualifizierungen russischer Athleten könnten die Spiele natürlich verderben. Bei fast allen großen Sportereignissen der jüngeren Vergangenheit waren russische Sportler überdurchschnittlich unter den Dopingsündern vertreten. Mitte November entzog die internationale Antidopingagentur WADA dem nationalen russischen Doping-Labor in Moskau die Zulassung.
Da fehlte wohl das Vertrauen in die notwendige Unabhängigkeit und Objektivität. Das IOC erklärte aber flugs, die Dopingkontrollen während der Spiele seien auch so gesichert. Doch das Gastgeberland bloßstellen? Das passt weder zum IOC, noch zu anderen internationalen Sportverbänden. Und in Russland selbst glauben ohnehin die meisten, dass Dopingkontrollen nur eine (natürlich westliche – immer dieser Rechtstaat!) Abart des unfairen Wettkampfs sind, nicht das Doping selbst. Hier treffen sich Volk und Führung erneut in der zynischen (aber vielleicht gar nicht so falschen) Annahme, dass ohnehin alle dopen. Das war der Schnelldurchlauf. Nun komme ich zum Wesentlichen. Sotschi war und ist als Krone der Putinschen Konsolidierung des russischen Staates gedacht. Das wiedererstarkte (Kremldiktion: "von den Knien wieder auferstandene") Russland zeigt sich und der Welt seine wiedergewonnene Kraft und Herrlichkeit. Und es zeigt sie sich selbst. Das darf der tief verunsicherten (und gespaltenen) Nation nicht misslingen. Einen Vorgeschmack gibt schon der Fackellauf. Die Fackel, mit der die olympische Flamme seit Wochen kreuz und quer durchs Land getragen wird, ist eine Spezialanfertigung der russischen Rüstungsindustrie, des Stolz-, Herz-, und Reststücks russischer Innovationskraft. Viele Millionen Rubel hat die Entwicklung gekostet. In den sozialen Netzwerken wird, mal höhnisch, mal bangend, gezählt, wie oft sie schon ausgegangen ist (Schon Ende Oktober, in St. Petersburg, war man bei 30 mal angekommen).
Nun war die Fackel schon am Nordpol und im westlichen Kaliningrad, im Fernen Osten und im All. Auf den 5642 Meter hohen Elbrus, den höchsten Berg Europas, wird sie zum Schluss erneut in dünne Luft getragen, bevor mit ihr im nahen Sotschi, dem südlichsten Punkt Russlands, das olympische Feuer entzündet wird. Das war, natürlich, die längste Fackeltour der olympischen Geschichte. Ein wenig erinnert das an einen Hund, der sein Gelände markiert, um allen Konkurrenten zu zeigen, von wo sie sich gefälligst rauszuhalten haben. Das Hohelied auf die Staatsmacht mit ihrem Führungsmann Wladimir Putin, die Russland wieder zur "Siegernation" gemacht hat (siehe auch meinen Blogeintrag zur "einfachen Erinnerung" http://russland.boell blog.org/2013/10/30/russische-erinnerung-bisher-lieber-einfach-als-kompliziert/), kommt bisher noch ein wenig heiser herüber.
Aber bisher gibt es die Siege von Sotschi ja auch noch nicht. Bang wird es, sollten sie ausbleiben. Einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Versuch hat dieser Tage der auch in Deutschland bekannte, vielseits geschätzte und als FAZ-Kolumnist tätige Schriftsteller Viktor Jerofejew geliefert. In der gemäßigt kremlkritischen Tageszeitung "Kommersant" sang er ein Lied auf den "kräftigen Hausherrn", der die Spiele ermöglicht, ja durch seinen Willen erst möglich gemacht habe. Wer damit gemeint ist, wird nicht gesagt, versteht sich aber von selbst. Hier ein paar ausgewählte Zitate: "Als mir der Bürgermeister von Sotschi, Anatolij Pachomow, ein Mann mit willensstarkem Blick, mit Stolz und Zuneigung die olympischen Objekte kosmischen Maßstabs zeigte, glaubte ich meinen Augen nicht… Wir bekommen am Schwarzen Meer die Olympiastadt Sotschi, umgewandelt, nicht wiederzuerkennen…" "Die Sonne Russlands, sage ich dem Bürgermeister mit einem leichten Lächeln, geht nun in Sotschi auf…" "Ja, Sotschi dient unserer Europäisierung. Und stellen Sie sich vor… was die Sportler und Touristen denken werden, wenn sie nach Sotschi kommen? Sie sagen: Man hat uns gesagt, Russland sei ein Kühlschrank. Aber Russland, das sind Palmen und Bambusgewächse! Riviera!" "Wissen Sie, ich habe vor zehn Jahren eine Autobiographie mit dem Titel "Der gute Stalin" geschrieben… Der schlechte Stalin, das ist 1937. Aber der gute erfreut das Volk, baut Staudämme, straft, aber nicht millionenfach. Und nun hat jemand in der Art der guten Stalins sich der Olympiade in Sotschi angenommen und die Sache bis zu Ende gebracht." "Wir haben nicht das schlechteste Regime… Wenn wir eine Revolution machen, dann erwartet uns eine neue Katastrophe… Ich sage: Danke den kräftigen Bauleuten und Bauherren in Sotschi! Erfolg den Sportlern! Glück den Fans!" Hier nicht an Maxim Gorki und den Weißmeerkanal zu denken, ist unmöglich. Gorki reiste 1933 zusammen mit Alexej Tolstoj, Boris Pilnjak, Ilf und Petrow, Soschtschenko und anderen sowjetischen Schriftstellern an den von Gulaghäftlingen oft buchstäblich mit ihren Händen gegrabenen Wasserweg von Leningrad ans Weiße Meer. Unter seiner, des unangefochtenen Doyens der sowjetischen Literatur jener Zeit Herausgeberschaft verfassten sie eine verlogene Eloge auf den Bau des Kanals. Was treibt nun den "eigentlich" dem liberalen, putinkritischen, "europäischen" Lager des russischen Politikkosmos zugerechneten Jerofejew dazu, Putin unverhohlen mit dem "guten Stalin" zu vergleichen (im deutschen Kontext: dem, der die Autobahnen gebaut hat)? Möchte er sich eventuell mit dem großen Gorki gleichsetzen? Spürt er vielleicht mit feiner Nase, dass ein wenig vorauseilende Unterordnung dieser Tage angebracht ist? Oder wird er dereinst allen Kritikern spöttisch entgegen halten, das sei doch alles hochironisch gemeint, und wie hätte auch nur irgendjemand mit Verstand das ernst nehmen können? Natürlich ist Putin kein Stalin und Russland nicht die Sowjetunion. Allein der Hauch eines Vergleichs führt analytisch in die Irre. Die heutigen Herrscher Russlands sind geldgeile Kapitalisten und keine Revolutionäre. Aber das (jeweils eigene) Bild Stalins in allen russischen Köpfen ist so groß und wirkmächtig, dass nur wenige der Versuchung wiederstehen können, mit ihm zu spielen, es (aus)zu nutzen. Was auch immer sich Jerofejew mit diesem Sowjetstyle-Text gedacht hat: Es lässt nichts Gutes ahnen.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.