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Analyse: @Russia.com: Online- und Offline-Protest | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: @Russia.com: Online- und Offline-Protest

Maxine David

/ 14 Minuten zu lesen

Der vorliegende Beitrag untersucht die Online-Demographie in Russland und deren Bedeutung für Offline-Protest und politische Reformen. Die Vorteile des Internet und der sozialen Medien für gesellschaftliche Bewegungen sind klar und unbestritten. Sie bieten eine Plattform zur Verbreitung von Informationen sowie zur Organisierung von Offline-Protesten.

Das Future Media Forum fand 2013 in Moskau, Russland statt. (© picture-alliance/dpa)

Die Verbindung von Online-Engagement und Offline-Engagement in Form von Straßenprotesten wirft die Frage auf, ob wir einen gesellschaftlichen Aufbruch erleben, der zu einem weitreichenden Wandel führt. Die Antwort des Staates erfolgte allerdings schnell, sie war repressiv und hat der Durchschnittsbevölkerung in Russland Angst eingeflößt. Die Agenda der Reformer wurde abgewürgt. Trotzdem könnte für Reformkräfte auch in Zukunft Online-Engagement das beste der zur Verfügung stehenden Instrumente sein.

Soziale Medien in der Krise 2011/12

In den Jahren seit dem sogenannten arabischen Frühling ist die Rolle der sozialen Medien für einen sozialen und politischen Wandel vielfach behandelt worden. Es ist auch nach der Wahrscheinlichkeit gefragt worden, dass Russland eine solche Transformation erfährt, was auf die weitreichende Enttäuschung im Westen über die politische Entwicklungsbahn des Landes hinweist. Seit der Erklärung des damaligen Ministerpräsidenten Putin, dass er mit Präsident Medwedew in der kommenden Wahlperiode die Ämter tauschen werde, sind diese Fragen umso vordringlicher geworden. Der angekündigte Ämtertausch war der Katalysator für die wohlorganisierten und stark besuchten Straßenproteste, die im Dezember 2011 nach den Parlamentswahlen, im März nach den Präsidentschaftswahlen und am Vorabend von Putins Re-Inauguration als Präsident im Mai 2012 stattfanden. Für die Organisierung und Dynamisierung all dieser Proteste sind die Instrumente, die die sozialen Medien bieten, insbesondere Twitter und "VK" ("W kontakte"; dt.: "Im Kontakt"), das sehr populäre Gegenstück zu Facebook, von zentraler Bedeutung gewesen. In welchem Maße können aber nun die sozialen Medien tatsächlich als Instrumente für einen Wandel wirksam werden, und wie weit ist deren Nutzung in der Gesellschaft des Landes vorgedrungen? Dieser Artikel beschreibt, wie weit die sozialen Medien verfügbar sind und von der Protestbewegung in Russland genutzt werden. Insbesondere sollen hier demographische Daten betrachtet werden, um festzustellen, wie repräsentativ Online-Aktivitäten der Bevölkerung in Russland insgesamt sind. Eine solche Analyse ist erforderlich, um die Wahrscheinlichkeit eines langfristigen Wandels im politischen und sozialen Leben abschätzen zu können.

Theorien zum Online-Engagement

Der wichtigste Beitrag des Internet für soziale Bewegungen ist die Funktion als Informationsquelle, insbesondere bei Themen, die in den Mainstream-Medien weniger präsent sind. Zusätzlich bietet das Internet ein Forum, über das Protest organisiert und politische Ansichten dargestellt werden können. Das Kommunikations- und Mobilisierungspotential des Internet für soziale Bewegungen ist unbestritten. Ebenso oft angesprochen, wenn auch problematischer, ist das Potential des Internet zur Identitätsbildung, die wichtig ist, wenn der Protest fortgeführt werden und konsistent sein soll. Das Internet übernimmt jetzt eine ähnliche Funktion wie die Urbanisierungsprozesse früherer Zeiten, indem es vermeintlich nicht miteinander verbundene Gruppen an einem Ort zusammenbringt und ein Verständnis dafür befördert, in welchem Maße gemeinsame Situationen und Interessen bestehen. Das Potential des Internet hat allerdings seine Grenzen: Es ist keine effizientes Instrument zur Vertrauensbildung und Konfliktlösung – und das sind lebenswichtige Funktionen, wenn es Trennlinien zwischen Gruppen zu überwinden gilt. Während das Internet oft als ungeregelt (und unregelbar) gilt, stehen in Wirklichkeit verschiedene gesellschaftliche Gruppen – die Regierung, NGOs, Forscher und Privatunternehmen – in einem Wettbewerb um die verschiedenen Regeln und Normen, die vorherrschend sein werden. Russland ist gegenwärtig dabei, diesen Raum auszuhandeln, arbeitet aber mit einem hohen Niveau staatlicher Einmischung und in einem Kontext, in dem die Regierung ein großes Interesse daran hat, dass die "digitale Kluft" aufrechterhalten wird. Bei dem Kampf um die Ausgestaltung der herrschenden Regeln und die eigene beständige Online-Präsenz sind Finanzen eine wichtige Variable, da es oft die reicheren Organisationen sind, die das Online-Potential am effektivsten nutzen. Theoretische Argumente zur Bedeutung der Finanzen für einen effektiven Einsatz des Internet und der sozialen Medien werden auch hier durch die Situation in Russland gestützt: Es sind dort die relativ wohlhabenden urbanen Mittelschichten, die die Stimme des Online-(und des Offline-)Protests verkörperten und bis heute verkörpern. Ein Umstand, der von Putin und seinen Anhängern durchaus wahrgenommen wurde. Wenn Online-Aktivität politischen und sozialen Wandel mit sich bringen soll, dann muss sie durch ein Offline-Engagement ergänzt werden, das die Gruppen persönlich zusammenbringt. Das scheint von den Aktivisten in Russland sehr wohl verstanden worden zu sein. Die Proteste in Moskau, St. Peterburg und darüber hinaus wurden weitgehend online organisiert und bekanntgemacht, hatten aber ihre größte Wirkung durch die Teilnehmerzahlen und ihre Nachhaltigkeit (zwischen Dezember 2011 und Mai 2012) erreicht. Dadurch wurden monatelang Bilder von enormen Teilnehmerzahlen – die in dieser Art nicht charakteristisch für Russland waren – über die ganze Welt verbreitet (oft über soziale Medien). Der damalige Nachrichtenkorrespondent der BBC in Moskau Daniel Sandford bezeichnete die Proteste vom Dezember 2011 als "in vielerlei Art ein politisches Wiedererwachen" für Russland. Die tatsächliche Frage war jedoch, wer erwacht war und wie die Regierung damit umgehen würde. Dieses politische Wiedererwachen hatte nämlich seine Wurzeln in der Online-Welt der Blogs und Tweets von Regierungsgegnern – lange vor den Straßenprotesten vom Dezember 2011. Diese Gegner waren und sind jedoch nicht unbedingt repräsentativ für ganz Russland. Digitale Trennlinien bestehen zweifellos an den nationalen Grenzen, aber auch innerhalb Landes; und die beschränken sich nicht allein auf Unterschiede im Wohlstand. Demographische Daten zur Nutzung sozialer Medien zeigen auch andere Trennlinien, hinsichtlich derer bestimmte Teile der Gesellschaft "online" sind oder eben nicht. Diese Daten legen nahe, dass die Online-Welt geteilt ist und sich elitär gibt.

Online-Demographie

Die Existenz einer digitalen Kluft wird bereits durch einen flüchtigen Blick über die entsprechenden Daten sehr schnell deutlich. Die Zahlen zur Internetnutzung in Russland für Juni 2012 zeigen eine Verbreitung von 47,7 %. Das ist im Vergleich zu europäischen Staaten wie Deutschland mit 83 % Verbreitung und Polen mit 64,9 % wenig. Insgesamt entfallen 13,1 % der europäischen Internetnutzer auf Russland; das ist angesichts der Bevölkerungszahlen wenig beeindruckend. Es muss jedoch daran erinnert werden, dass die Nutzung des Internet in Russland im 21. Jahrhundert ein exponentielles Wachstum erfahren hat. Im Jahr 2000 waren nur 2,1 % der Bevölkerung Internetnutzer, bis 2007 stieg dieser Wert auf 20,8 %, 2009 waren es 32,3 % und derzeit liegt er nahe der 50%-Marke. Innerhalb dieser Zahlen bestehen große soziale Trennlinien. Die Daten für das Jahr 2011 zeigen, dass nur 20 % der "VK"-Nutzer Frauen sind, dass die übergroße Mehrheit der Nutzer dort zwischen 25 und 44 Jahren alt sind (rund 80 %), dass nur rund 11 % weniger als 25.000 US-Dollar verdienen und über 40 % einen Bildungsstand oberhalb der Mittelschule haben (bei 90 % mit Mittelschulbildung). Trennlinien durch Bildungsstand lassen sich überwinden: Es gibt viele Anzeichen, dass Organisationen als Billdungsorte für die Nutzung digitaler Medien fungieren können. Allerdings wird es ohne den politischen Willen des Staates keinen eindeutiger Weg geben, wie andere Faktoren überwunden werden können, durch die die Online-Aktivität nicht voll repräsentativ ist. Weitere Beschränkungen für eine voll repräsentative Protestbewegung bestehen insoweit, als das Internet höchst nützlich sein kann, um jene zu mobilisieren, die an Politik und Engagement bereits interessiert sind, es aber wenig hilfreich ist, um andere Menschen für diesen Bereich zu interessieren. Das ist im Kontext eines Staates wie Russland, wo die Zivilgesellschaft am Anfang ihrer Entwicklung steht, von außerordentlicher Bedeutung. Aus all diesen Gründe ist es üblich, von einer "digitalen Kluft" zu sprechen, einer Trennlinie, die in der Gesellschaft in Russland ebenso vorhanden ist, wie anderswo. Obgleich diese Trennlinie nicht als unüberwindbar betrachtet werden kann, sind die Aussichten, dass diese Kluft in Russland überhaupt oder gar schnell geschlossen werden könnte, eher dürftig. Ungeachtet des jüngsten Zuwachses, und auch mit Blick auf potentielle Abweichungen in den Statistiken, lässt sich doch mit Sicherheit sagen, dass gegenwärtig die Hälfte der Bevölkerung Russlands das Internet nicht nutzt. Angesichts des staatlichen Monopols über Presse und Fernsehen erzeugt der fehlende "Anschluss" so vieler gewöhnlicher Bürger riesige Probleme für jede Oppositionsbewegung, die weitreichende Unterstützung für politische Veränderungen wachrütteln, alternative Informationsquellen bieten oder Desinformation und Propaganda der Regierung entgegenwirken will. Selbst unter Berücksichtigung des Bevölkerungsanteils, der mit der Online-Welt verbunden ist, sind die Zahlen derjenigen, die sich auf das Internet als primäre oder sekundäre Nachrichtenquelle stützen, sehr gering. Das Fernsehen bleibt weiterhin die weitaus wichtigste Nachrichtenquelle. Laut Jahresbericht 2010–2011 des Lewada-Zentrums gaben 84 % der Befragten an, dass für sie staatliche oder private Fernsehsender ihre primäre Nachrichtenquelle sind. Nur 6 % nannten als erstes das Internet. Bei der Frage nach der zweitwichtigsten Quelle steigt der Wert zwar auf 11 %, doch ist das immer noch reichlich wenig, wenn man dem den kombinierten Wert von 46 % für das staatliche oder private Fernsehen als zweiter Nachrichtenquelle gegenüberstellt. Die digitale Kluft ist deshalb so bedeutsam, weil es der Regierung den Raum für das Argument gibt, die Oppositionsbewegung in Russland sei nicht repräsentativ für die Bevölkerung, weswegen es ihr an Legitimität fehle. Dieses Argument schafft die Möglichkeit für eine harsche Reaktion.

Die Proteste und die Antwort des Staates

Die Antwort des Staates auf die Straßenproteste erfolgte schnell und war repressiv. Der Staat versuchte, Protestierer von einer Mobilisierung abzuschrecken, indem er viele von ihnen festnahm, und dann juristisch gegen eine (bislang) kleine Zahl von Protestierenden vorging, und zwar in einer Art und Weise, die an die Schauprozesse der Sowjetzeit erinnert. Das jüngste Urteil und die anschließende Freilassung auf Kaution des Oppositionsführers Alexej Nawalnyj ist nur der prominenteste dieser Fälle. Zu den anderen bekannteren Personen, gegen die Verfahren eröffnet wurden, gehören Sergej Udalzow und Leonid Raswosschajew. Ein anderes Verfahren, das eher dazu bestimmt war, einfache Leute durch Angst ruhigzustellen, ist das um die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz im Mai 2012, das im Juni 2013 gegen zwölf gewöhnliche Protestierer vor Gericht eröffnet wurde. Darüber hinaus hat die Duma Gesetze verabschiedet, die Proteste wirksam kriminalisieren. Der Staat hat auch auf andere Methoden zurückgegriffen, die aus der Sowjetzeit bekannt sind; es wird eine eigene "Salamitaktik" eingesetzt, um die verschiedenen Bevölkerungsteile voneinander zu spalten sowie die Opposition zu isolieren und neutralisieren. Die letztgenannten Methoden scheinen bisher Aussichten auf realen Erfolg zu haben. Angesichts der digitalen Kluft und des Umstandes, dass die Proteste sich weitgehend auf Westrussland und die großen Städte dort beschränken, ist Putin in die Offensive gegangen. Er schreibt opponierende Stimmen einer undankbaren Mittelschicht zu, die angesichts ihres privilegierten Lebens, für das die fleißigen arbeitenden Bevölkerungsschichten und Regierung zu zahlen hätten, nun scheinheilig gegen die Politik dieser Regierung protestierten. Die Antwort auf den Online-Protest war komplexer. Autoritäre Staaten haben sich bisher meist entschieden, das Eindringen externer Akteure in den eigenen Staat zu einzuschränken, unter anderem durch eine Sperrung des Internetzugangs zu bestimmten Schlüsselzeiten, um eine Region zu "schließen" oder sogar das ganze Land von auswärtiger Kommunikation abzuschneiden. In bestimmten Staaten sind die Bürger jedoch stärker dieser Gefahr ausgesetzt, da der Staat hier in der Lage ist, bei ihren Online-Aktivitäten tatsächlich "den Stecker zu ziehen". Der Schlüsselfaktor, auf den in diesem Zusammenhang am meisten verwiesen wird, ist die Anzahl der Internetanbieter und der Verbindungslinien zur Außenwelt. Eine weitaus wichtigere Überlegung für eine Analyse, inwieweit ein bestimmter Staat zu einer flächendeckenden Sperrung des Internet in der Lage ist, wäre jedoch, die Anzahl, Diversität und Sicherheit der physischen Verbindungswege zu betrachten. Russland steht bei beiden Aspekten als recht belastbar da, was die relativ ausgefeilten Strategien erklären könnte, mit denen der Staat bisher versucht hat, die Internetnutzung zu kontrollieren. Statt heftiger Repression, wie sie im Nachbarstaat China eingesetzt wird, hat sich Russland für Methoden der "zweiten und dritten Generation" entschieden: Es setzt "rechtliche und technische Instrumente sowie nationale Informationskampagnen ein, um den Medienraum für sich zu gestalten sowie abweichende Meinungen und Opposition einzudämmen." Letztere haben sich zu recht gewieften Taktiken ausgewachsen: Als Nawalnyj Anfang 2012 Opfer eines gefälschten Interviews mit "Voice of America" wurde, bei dem er mit abfälligen Bemerkungen über Oppositionsaktivisten zitiert wurde, kursierten schnell Spekulationen, dass es sich um einen vom Staat betriebene Fälschung handle, die der FSB in Werk gesetzt hat. Das Internet kann also gleichermaßen für Oppositionsaktivisten wie auch für die amtierende Regierung ein effektives Instrument sein. Es geht aber nicht nur um das Internet; auch traditionellere Kommunikationsformen sind anfällig für Übergriffe. Open Democracy hat intensiv spekuliert, dass der FSB und andere kremlnahe Strukturen bei all jenen, die dem Kreml nicht wohlgesonnen sind, Telefongespräche registriert und Gespräche gesetzeswidrig aufgezeichnet haben. Tatsächlich gibt das System für operative Fahndungsmaßnahmen (SORM) einer Reihe von Sicherheitsbehörden das Recht, Informationen abzugreifen. Zu den Erfahrungen hiermit gehören das Abhören des Telefons von Gennadij Gudkow, dem damaligen Vizevorsitzenden des Sicherheitsausschusses der Staatsduma, Aufzeichnungen privater Gespräche von Boris Nemzow, die im Internet auftauchten; es betraf auch britische und US-amerikanische Diplomaten sowie den stellvertretenden Generalkonsuls Großbritanniens in Jekaterinburg, der seinen Hut nehmen musste, nachdem Bilder von ihm mit einer Prostituierten öffentlich gemacht wurden. Es ist lebhaft spekuliert worden, dass der FSB für diese Aufnahmen und deren Verbreitung verantwortlich ist.

Schlussfolgerungen

Die Vorteile des Internet und der sozialen Medien für gesellschaftliche Bewegungen sind klar und unbestritten. Sie bieten eine Plattform zur Verbreitung von Informationen sowie zur Organisierung von Offline-Protesten; und sie können dazu genutzt werden, das Gefühl einer gemeinsamen Identität zu entwickeln, wobei das letztere in zersplitterten Gesellschaften äußerst wichtig ist. Soziale Medien und das Internet spielen auch bei der Offenlegung von staatlichem Vorgehen, das international anerkannten Prinzipien angemessenen staatlichen Handelns zuwiderläuft, eine sehr wichtige Rolle. Zusammen mit Offline-Aktivität, kann Online-Engagement ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem angestrebten Wandel, ja sogar einer Transformation sein. Für diejenigen, die in Russland Veränderungen herbeiführen wollen, bestehen allerdings schwerwiegende Probleme. Das wichtigste und wirkungsmächtigste ist vielleicht die Angst, die durch das Vorgehen gegen die Straßenproteste und die Protestierer erzeugt wurde, und die Andersdenkende davon abschreckt, öffentlich ihre Unzufriedenheit zu zeigen. Wenn nur eine kleine Zahl von Protestieren erscheint, legitimiert das wiederum den Diskurs des Staates und dessen Argumentation, dass die überwiegende Bevölkerungsmehrheit mit dem Satus Quo zufrieden ist. Wo von Einzelnen orthodoxere Wege zu Veränderungen beschritten werden, handelt der Staat schnell und statuiert ein Exempel, wie es etwa bei dem populären Bürgermeister von Jaroslawl Jewgenij Urlaschow der Fall war, der im Juli 2013 wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde. Solche Verhaftungen können nicht ohne Wirkung auf einfache Bürger bleiben, da diese sich dann fragen, wie groß für sie das Risiko einer Verhaftung ist, wenn selbst prominente Aktivisten und Politiker nicht immun sind. Das zweite Problem ist Desinteresse. Bisher ist die Opposition weitgehend auf die Mittelschicht beschränkt geblieben, und der Versuch, die Mehrheit der Bürger hinter einer gemeinsamen Sache zu vereinigen, ist gescheitert. Die digitale Kluft (bei der es kurzfristig wenig Aussichten auf Überbrückung gibt) bedeutet im Zusammenspiel mit dem fortgesetzten Bezug von Nachrichten über die durch den Staat monopolisierten Medien, dass die Vorteile der sozialen Medien für eine Mobilisierung längst nicht hinreichend verbreitet und spürbar sind. Dadurch wirkt ein Zusammenspiel von Angst, Apathie und Desinteresse der Reformagenda der Opposition entgegen. Für reformorientierte Russen erscheint also Offline-Engagement keine unmittelbare Antwort zu sein. Bisher sind die größeren Straßenproteste darin erfolgreich gewesen, dass sie außerhalb von Russlands inneren Problemen die Wahrnehmung geschärft haben. Sie haben aber der Regierung auch die Gelegenheit zu einer Botschaft gegeben, mit der verdeutlicht wird, was mit jenen geschieht, die öffentlich zu protestieren wagen. Sehr viel weniger klar ist, ob eine solche Taktik auch gegenüber dem Online-Engagement funktionieren wird. Zweifellos steht der Regierung eine Reihe von Mitteln zur Verfügung, die zu einem Teil auch eingesetzt werden. Ein anhaltender Versuch, die Internetdienste innerhalb Russlands einzuschränken, ist besonders schwierig, außer vielleicht für die großen Marktführer, was die jüngste, "versehentliche" Sperrung von "VK" durch den Kreml erklärt. Darüber hinaus würde eine Überwachung und eine Reaktion auf die wachsende Zahl von Websites und Internetquellen dem Staat einen längerfristigen Einsatz eines großen Teils seiner Ressourcen in dieser Richtung abverlangen. Auf jeden Fall würde sich Russland durch die Einführung von Beschränkungen ein gehöriges Maß an Aufsehen und Kritik aus dem In- und Ausland einhandeln. Dass Russland bei diesen Fragen empfindlich ist, demonstrierte die Rechtfertigungsrhetorik, die im Kern zwar einen Sicherheitsdiskurs stützt, dabei aber auf die Notwendigkeit eines sicheren Internetraumes zum Schutz bestimmter schutzbedürftiger Gesellschaftsgruppen und zur Abwehr terroristischer und extremistischer Bedrohungen verweist. Neben dem Schaden für ihre Legitimität, die eine solche Kritik mit sich bringen würde, liefe die Regierung Gefahr, jene Unternehmer zu verschrecken, die das Land benötigt, und die es nun anzulocken versucht. So verzeichnete beispielsweise der russische Aktienmarkt nach dem Urteil gegen Nawalnyj herbe Verluste. Während solche Einbrüche oft nur kurzfristiger Natur sind, beeinträchtigt jedoch jede Art Verluste die Haltung der Investoren und des Marktes. Für Reformkräfte könnte also auch in Zukunft Online-Engagement das beste der zur Verfügung stehenden Instrumente sein. Übersetzung: Hartmut Schröder

Lesetipps

Fussnoten

(Dr.) ist Dozentin für Europäische Politik an der Universität Surrey. Sie analysiert Außenpolitik mit den Schwerpunkten Russland, EU und Großbritannien. Ihre jüngste Veröffentlichung (gemeinsam herausgegeben mit Jackie Gower und Hiski Haukkala) ist 2013 unter dem Titel "National Perspectives on Russia. European Foreign Policy in the Making?" bei Routledge erschienen.