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Notizen aus Moskau: Putin und die Zivilgesellschaft | Russland-Analysen | bpb.de

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Notizen aus Moskau: Putin und die Zivilgesellschaft

Jens Siegert

/ 5 Minuten zu lesen

Wenn man will, kann das erste Putin-Präsidentenjahr (3. Auflage) ziemlich schnell abgehandelt werden. Nachdem der Protestwinter Putin und den Seinen ordentlich Angst eingejagt hat, schlagen sie nun seit vorigem Sommer nach dem altem Tschekistenmotto zurück, dass der Konter immer etwas härter ausfallen muss als der vorher abgewehrte Angriff. Und er muss den Gegner an einer möglichst empfindlichen, am besten auch entscheidenden Stelle treffen.

Pussy Riot während der Verhandlung am 17. August 2012 in Moskau. (© AP)

Damit wäre zum Einen erklärt, warum es so einen Overkill von neuen repressiven Gesetzen gibt. Und zum anderen machte auch das Hauptziel, die unabhängige russische NGO-Szene Sinn. Wie gesagt, das ist eine schnelle, einfache und wohl auch nicht falsche Erklärung. Aber sie erklärt nur die eine Seite und sagt wenig über die andere. Will man tiefer schauen, kommt man, wie fast immer, um ein wenig Geschichte (und sei es auch nur Zeitgeschichte) nicht herum. Warum also gestaltet sich das Verhältnis Putin-Zivilgesellschaft kompliziert? Erst einmal ist da nichts Verwunderliches dran. Fast alle An-Der-Macht-Befindlichen der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts haben sich mit den selbstorganisierten Gruppen schwer getan, die erst "Bürgerintiativbewegung", "Neue Soziale Bewegungen" und heute "Zivilgesellschaft" – besser wäre natürlich "Bürgergesellschaft" – genannt werden. Das liegt erst einmal daran, dass sie anders als der Staat selbst organisiert von unten und nicht von oben funktionieren. Das liegt dann praktisch aber vor allem daran, dass sie in den Augen der Obrigkeit prinzipiell stören. Umso seltsamer müssen sie jemandem vorkommen, der mit der Vorstellung eines allumfassenden Staates groß geworden ist und seine berufliche Karriere im wichtigsten Allumfassungsinstrument dieses Staates gemacht hat. Die Kontrolle des Widerspenstigen ist immer schwierig. Putins erste Bekanntschaft mit dem, was später einmal die Zivilgesellschaft werden sollte, datiert, soweit wir von ihm selbst wissen, auf die 1970er Jahre in Leningrad. Damals war er an der Zersetzung von Dissidentenzirkeln beteiligt. Ein gewisser Stolz auf den Erfolg dieser Arbeit lässt sich in seinen Erzählungen durchaus noch heute erkennen. Umso unangenehmer muss es für den noch ganz neuen Präsidenten 2001 (2. Jahr, 1. Auflage) gewesen sein, dass sich gerade die doch eher als schwach, wenig organisiert und machtpolitisch weniger wichtig eingestuften NGOs als widerständigste Gesellschaftgruppe erwiesen und sich nicht, wie vorher schon politische Parteien, Presse und Wirtschaft in den neu entstehenden Putinschen Korporationsstaat einsortieren ließen. Vielleicht wird dieser erste Versuch im Kreml heute auch als nicht entschieden genug bewertet. Jedenfalls endete er mit einer Art Burgfrieden. Die NGOs arbeiteten in verschiedenen Räten und Kommissionen mit, wobei der Staat auf scharfe Daumenschrauben und die geplante Bildung einer Art "Vertretungskammer" für zivilgesellschaftliche Organisationen verzichtete.

Runde zwei begann mit den sogenannten "Revolutionen" in Georgien (Rosen) und der Ukraine (orange). Ähnlichem in Russland, also aus Kremlsicht dem "Umsturz mit Hilfe ausländischer Finanzierung für russische NGOs", sollte vorgebeugt werden. 2005/2006 wurden deshalb die bestehenden, NGOs betreffenden Gesetze zusammen gefasst und durch umfassende Berichtspflichten ergänzt. Kernstück der Neuerungen waren weitgehende Kontrollbefugnisse des Justizministeriums, die bis in die Satzungen der NGOs reichten und erstmals auch das Recht des Staates vorsahen, NGOs aus politischen Gründen zu schließen. Praktisch änderte sich, nachdem die Hysteriewelle angesichts des Machtwechsels in der Ukraine erst einmal abgeebbt war, aber kaum etwas – von der erzwungenen Bürokratiewelle innerhalb der NGOs einmal abgesehen. Jetzt rollt die dritte Welle. Diesmal wird es wohl einer ausgewählten Anzahl von NGOs an den Kragen gehen. Andere werden durch Straf- und Schließungsandrohungen er- und abgeschreckt. Ob sich im Ergebnis viel ändert, bleibt abzuwarten. Bisher sind die russischen NGOs aus jeder Runde mit Putin stärker, kompetenter und mit besserer Reputation heraus gekommen als sie reingegangen sind. Aber "bisher" ist natürlich keine Garantie. Nun zur Geschichte, die sich ja bekanntlich nicht wiederholt, aber trotzdem manchmal Muster aufweist, die man wieder zu erkennen glaubt und die dann das Denken weiter bringen. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich ein russischer Staat, die noch nicht Sowjetunion genannte frühe Republik, ihrer gesellschaftlichen Organisationen entledigt. Auch das geschah in drei Phasen: 1921 der erste Versuch, noch ohne richtigen Drive, unterbrochen vom Tauwetter der Neuen Ökonomischen Politik; dann wieder 1929/1930, auch eher halbherzig und vom großen Hunger gestört; endgültig dann ab 1934/35, also noch vor dem Großen Terror, der ja aber vor allem seiner Organisation wegen unter Stalins Grausamkeiten noch hervorragt und nicht, wie oft angenommen wird, aufgrund der Zahl der Opfer. Nun ist Putin nicht Stalin und 2013 ist nicht 1935. Banal aber wichtig. Die endgültige Vernichtung vom Staat unabhängiger Vereinigungen Mitte der 1930er Jahre war aus staatlicher (Stalins) Sicht nur "sinnvoll" im Rahmen der Totalisierung eines schon weitgehend von seiner Umwelt isolierten und hoch neurotischen Staates.

Heute wird mit all dem mehr gespielt, als das es wirklich so ernst wäre, auch wenn es für einzelne Akteure bis zum Verlust der Freiheit ernst, der Heimat und, in Einzelfällen, auch todernst sein kann. Russland und auch seine Elite sind eng in ein völlig anderes internationales (Wirtschafts-)System eingebunden. Es wäre eine unwahrscheinliche Form von Selbstverleugnung, das alles ernsthaft aufs Spiel zu setzen. Zum anderen sind wir in Russland. Und Russland ist das Land der Kampagnen – und die dauern nie ewig. Um genau zu sein, haben sie in den vergangenen 100 Jahren, egal ob sie nun gegen Volksfeinde oder den Alkohol vom Zaum gebrochen wurden, nie länger als 20 Monate gedauert. Kampagnen sind im Apparat selten unumstritten. Sie werden durch den Elan der Führung angetrieben, gewinnen eine Zeit lang Kraft aus dem Wettbewerb der Ausführenden und erlahmen, wenn es neue, wichtigere, dringendere Aufgaben zu erledigen gibt Mitunter werden sie auch von obenm abgebrochen, weil sie für die Machthabenden selbst zur Gefahr zu werden drohen. Kampagnen kosten Kraft. Sie überfordern über kurz oder lang jeden Apparat. Auch die gegenwärtige Kampagne gegen "NGO-Agenten", so wage ich ein wenig kühn zu behaupten, wird also bald zu Ende gehen. 10 Monate sind schon vorbei und die ersten Anzeichen gibt es schon. Anfang Juni erklärte Justizminister Alexander Konowalow, die "Überprüfungen" der NGOs hätten rund 100 Agenten ans Licht gebracht. Diese 100 haben wohl inzwischen alle (siehe meinen schon erwähnten "Zwischenbericht") einen Bescheid der Staatsanwaltschaft bekommen. Jetzt fehlt noch die Bestrafung der ausgesuchten Opfer. Dann kann man – aus Sicht des Staates – wieder zum Alltag über gehen. Eines wird aber wohl noch darüber hinaus geschehen. Der Staat wird versuchen, die unabhängigen NGOs auseinander zu dividieren. Denn nichts scheint oben so übel aufgestoßen zu sein wie die Tatsache, dass sich bis heute keine einzige NGO als "Agent" hat registrieren lassen. Daran ist der Kreml natürlich selbst Schuld. Die Gesetze lassen den NGOs kaum einen anderen Ausweg. Das hat drei Gründe. Zum einen ist die Selbstbezichtigung als "Agent" (und genau die fordert das Gesetz) gefährlich. Im Zusammenhang mit anderen Gesetzen, wie dem verschärften Landesverratgesetz, kann darauf aufbauend später schnell eine Straftat konstruiert werden. Im Konstruieren aber zeigt sich die Staatsanwaltschaft unter Billigung der Gerichte in jüngster Zeit wieder fast auf der Höhe sowjetischer Zeit. Zum zweiten – und das zielt auf Putins Miss-Verstehen, mit dem dieser Text begann – kann sich das »Agenten«-Bekenntnis keine echte NGO leisten. Ein großer Teil ihres sozialen und politischen Kapitals besteht ja gerade aus dem guten Ruf, keines Herrn Agent zu sein. Und zum dritten will ich am Schluss noch ein klein wenig Pathos hinzufügen. In den vergangenen 25 Jahren ist in gar nicht mehr so kleinen Teilen der russischen Gesellschaft ein Gefühl der eigenen Würde als BürgerInnen so stark gewachsen, dass die durch das »Agentengesetz« geforderte Selbsterniedrigung und das vor dem Staat Zu-Kreuze-Kriechen einfach nicht mehr geht. Der russischer Staat unter Putin hat dazu, freilich un(frei)willig, einiges beigetragen.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.

Fussnoten