Wie nach den massenhaften "Überprüfungen" von russischen NGOs seit Mitte März (inzwischen mehr als 600) durch Staatsanwaltschaft und andere Behörden zu erwarten war, kommen nun langsam die behördlichen Beanstandungen. Betroffen sind inzwischen russlandweit mindestens 43 NGOs mit ganz unterschiedlichen Profilen, von Menschenrechtsorganisationen wie dem "Antidiskriminierungszentrum" in St. Petersburg (es beschäftigt sich vor allem mit den Rechten von Roma), Memorial Rjasan (eine durchaus typische regionale Memorial-Organisation mit der Mischung aus Geschichtsaufarbeitung, Einsatz für Menschenrechte und soziale Fürsorge für Opfer politischer Verfolgung), über eine "Gesellschaft zur Hilfe für Mukoviszidose-Erkrankte" in Irkutsk bis zu einem Kranich- und Storchenpark am Amur im Fernen Osten.
An Hand der bisher von den Staatsanwaltschaften, manchmal auch dem Justizministerium ergangenen Bescheide lassen sich bisher grundsätzlich zwei unterschiedliche Vorgehensweisen ausmachen. Die erste, bisher wesentlich kleinere Gruppe umfasst zehn Organisationen, die alle eine sogenannte "predstawlenije" erhalten haben, also die "Anweisung", eine behördlich festgestellte Rechtsverletzung zu beseitigen. Gegen fünf von ihnen sind auch gleich Geldstrafen verhängt worden, was erheblich unangenehmer ist, rechtlich (und wohl auch praktisch) für die Organisation aber keinen wesentlichen Unterschied macht, weshalb ich in der Analyse beide Gruppen zusammen behandele.
Ich möchte die Logik hinter diesen "Anweisungen" am Beispiel des "Menschenrechtszentrum Memorial" erläutern. Dem Menschenrechtszentrum wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, dass es sich, obwohl es sich "politisch betätige" und Geld aus dem Ausland bekomme, nicht als "ausländischer Agent" beim Justizministerium hat registrieren lassen. Damit sei der "Agentenpassus" des NGO-Gesetzes verletzt, der eben das vorschreibe.
Dabei wird von der Staatsanwaltschaft nicht die gesamte Tätigkeit des Menschenrechtszentrums als "politisch" eingestuft, sondern – wie auch in den anderen Fällen – nur ein vergleichsweise junges Teilprogramm, das sogenannte OWD-Info. OWD ist die Abkürzung für "Abteilung für innere Angelegenheiten" und ist die kleinste Verwaltungsabteilung des Innenministeriums. Das OWD-Info entstand mit der zunehmenden Kriminalisierung von Demonstranten und anderen Oppositionellen im vergangenen Jahr als Initiative junger Aktivisten, die, in schöner Tradition ihrer Dissidenten-Vorgänger aus der Sowjetunion, wahrscheinlich politisch motivierte Aktionen von Strafverfolgungsbehörden dokumentieren.
Vielleicht ist der Vergleich doch etwas zu hoch gegriffen, aber im Grunde ist es die gleiche Arbeit, die seit dem Ende der 1970er Jahre die Untergrund-"Chronik der laufenden Ereignisse" leistete. Damals mit Schreibmaschine und Kohlepapier konspirativ in Wohnungen, heute mit Computern, Smartphones und im Internet. Vor zwei Monaten kamen die OWD-Info-Macher im Menschenrechtszentrum Memorial unter, nachdem sich ihre Arbeit professionalisiert hatte und mit den zunehmenden staatlichen Repressionen auch immer umfangreicher geworden war.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, gerade das OWD-Info sei "politisch", folgt einem klassischen Zirkelschluss: Da es im heutigen Russland, das sich selbst eine Demokratie nennt, mit liberaler Verfassung, freien Medien und vor allem einer unabhängigen Gerichtsbarkeit keine politisch motivierte Strafverfolgung gebe, könne die Dokumentierung von als "politisch motiviert" eingeschätztem staatlichen Vorgehen gegen Oppositionelle nur eine "politische Tätigkeit" sein. Also: Agent.
Für das Menschenrechtszentrum Memorial (wie auch für das Antidiskriminierungszentrum oder die Wahlbeobachter von Golos, die mit strukturell ähnlichen Argumentationen von der Staatsanwaltschaft als "politisch" eingestuft worden sind) gibt es nun zwei Möglichkeiten, auf diese amtliche Behauptung einer Rechtsverletzung (hinter der natürlich eine gesetzliche Strafandrohung steht, nämlich hohe Geldstrafen und sogar Gefängnis) zu reagieren: Es kann sich als "Agent" registrieren lassen (was für Memorial ausgeschlossen ist) oder gegen die "Anweisung" der Staatsanwaltschaft mit dem Argument vorgehen, kein Gesetz verletzt zu haben. Die Chancen, vor Gericht zu gewinnen, sind erfahrungsgemäß klein. Die NGOs mit "Anweisung" müssen also, so sie sich nicht als "Agenten" registrieren lassen, mit großer Wahrscheinlichkeit mit ihrer Liquidierung rechnen.
Die andere, größere Gruppe besteht bis heute aus 31 Organisationen. Sie sind "gewarnt" worden (russisch: "predostereschenije"), dass ihre Satzungen "politische Tätigkeit" zuließen. Meist bezieht sich diese "Warnung" auf Passagen in der Satzung, dass die entsprechende NGO in der einen oder der anderen legalen und legitimen Weise im Rahmen der Satzungsziele "Einfluss auf die Öffentlichkeit" oder "Einfluss auf die staatliche Politik" zu nehmen gedenkt (die Satzungen sind im Übrigen alle irgendwann einmal in meist mühevollen Abstimmungsprozessen von den Justizbehörden genehmigt worden).
Nun werden diese NGOs in den "Warnungen" darauf hingewiesen, sich erst als "Agenten" registrieren zu lassen, bevor sie damit anfangen könnten, diese Satzungsziele zu verwirklichen (was sie, dieser Logik folgend, bisher noch nicht getan haben). Der "Agentenpassus" im NGO-Gesetz fordert genau diese Reihenfolge für NGOs, die Geld aus dem Ausland bekommen: erst registrieren, dann "politische Tätigkeit".
Die so "gewarnten" NGOs haben also noch keine unmittelbaren Sanktionen zu gewahren. Aber ihnen ist damit gezeigt worden, dass sie am Haken der Strafverfolgungs- und Justizbehörden hängen, da, wie gerade zeigt, allein die Staatsanwaltschaft definiert, was "politische Tätigkeit" heißt.
Damit zeichnet sich langsam die Strategie hinter dem gegenwärtigen Vorgehen gegen die NGOs in Russland ab: Einige werden wohl zugemacht werden. Der größeren Gruppe der anderen wird damit zugleich gezeigt, was ihnen droht, wenn sie nicht auf ausländisches Geld verzichten oder sich nicht anderweitig brav verhalten. Es geht also darum, die bisher noch vom Kreml weitgehend unabhängigen NGOs unter direkte Kontrolle zu bringen – oder zu schließen.
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