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Analyse: Wirtschaftswachstum, Sozialstaat und geistig-moralische Wende - Die innenpolitische Agenda der dritten Putin-Administration | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Wirtschaftswachstum, Sozialstaat und geistig-moralische Wende - Die innenpolitische Agenda der dritten Putin-Administration

Hans-Henning Schröder

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Vertrauenskrise und gezinkte Wahlen

Der Weg in die dritte Amtszeit stand für Wladimir Putin unter einem schlechten Stern. Das Vertrauen in die politische Führung und die Beamtenkaste war in Russland 2010/2011 auf einen neuen Tiefpunkt gesunken, die allgemeine Unzufriedenheit war groß. Als Präsident Dmitrij Medwedew am 24. September dem Parteitag von "Einiges Russland" vorschlug, Wladimir Putin als Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im März 2012 zu benennen, und dieser selbst erklärte, er habe das gemeinsam mit Medwedew bereits einige Jahre zuvor verabredet, da reagierte die russische Öffentlichkeit in hohem Maße irritiert. Die Beliebtheitswerte Putins sanken merkbar. Als er am 20. November im Moskauer Sportkomplex Lushniki einem Freistilkampf beiwohnte, löste sein Auftritt nach dem Kampf bei den 20.000 Zuschauern ein Pfeifkonzert aus – für Putin, der jahrelang auf einer Popularitätswelle geschwommen war, eine unangenehme Überraschung. Die Manipulationen bei den Dumawahlen am 4. Dezember 2011 brachten das Fass schließlich zum Überlaufen. Unmittelbar nach der Wahl kam es in der russischen Hauptstadt zu spontanen Demonstrationen und Zusammenstößen mit den Ordnungskräften. Die folgenden Massendemonstrationen am 10. und 24. Dezember zeigten die Stärke der Moskauer Protestbewegung. Die Krise des Putinschen Machtarrangements war offensichtlich. Die politische Führung musste in dieser schwierigen Situation alles tun, um den Wahlsieg Putins bei den Präsidentenwahlen im März 2012 zu sichern. Zwei Optionen waren denkbar: Man konnte versuchen, die urbanen Mittelschichten, aus denen sich das kritische Potential zum Teil rekrutierte, durch politische Zugeständnisse und Zulassung neuer Parteien einzubinden und den Kandidaten als Mann der Mitte und der Zukunft zu verkaufen. Die andere Option war, die konservative Bevölkerungsmehrheit zu mobilisieren und sie der kritischen Opposition entgegenzustellen – mit der Perspektive, die kritischen Gruppen auszugrenzen. Der Kandidat Putin musste in diesem Fall als konservativer Bewahrer und Schützer der Unterprivilegierten auftreten. In der Übergangsphase zwischen Duma- und Präsidentenwahlen tat die russische Politik beides: Medwedew brachte noch als Präsident eine Reihe von Gesetzen auf den Weg, die die Zulassung neuer Parteien erleichterten, Direktwahlen für die Gouverneure und für die Duma ein gemischtes Wahlsystem einführte. Außerdem initiierte er ein Projekt, das er "Offene Regierung" nannte, und das die Bürger stärker in die Regierungsarbeit einbeziehen wollte. Andererseits wurde aber im Vorgriff auf die Präsidentenwahlen die Präsidialadministration umbesetzt – neuer Leiter wurde nun Sergej Iwanow, ein Putin-Vertrauter eher konservativen Zuschnitts. Ein Team um den noch aus der Sowjetära bekannten Filmregisseur Stanislaw Goworuchin organisierte die Wahlkampagne und setzte dabei auf die konservative Grundstimmung in der Bevölkerung und die verbreitete Angst vor Veränderung. Mit Hilfe der staatlich kontrollierten elektronischen Medien und gestützt auf die föderalen und regionalen Apparate sprach die Kampagne große Teile der Bevölkerung an. Am 4. März 2012 ereichte Putin in der Tat ein Wahlergebnis von 63,6 % und wurde damit zum dritten Mal Präsident Russlands. Die politische Krise allerdings war damit keineswegs überwunden, da deren Ursache, die gesellschaftliche Strukturverschiebung, weiter bestand: Die erstarkten urbanen Mittelschichten forderten politische Beteiligung, während große Teile der Bevölkerung, die in den großen und kleinen Industriestädten am Rande der Armut existierten, von der Zentrale Subventionen und soziale Sicherungen erwarteten.

Sozialstaat und die "moralisch gesunde Gesellschaft"

Wie die dritte Putin-Administration diese schwierige Situation angehen wollte, zeichnete sich schon in den programmatischen Äußerungen ab, die im Vorfeld veröffentlicht wurden. Das Wahlprogramm, das im Januar erschien, betonte die positiven Leistungen der russischen Politik und die großen Fortschritte des Landes im innen- und außenpolitischen Bereich. Die Armut, die Ineffizienz der Apparate, die Korruption und das schlechte Unternehmensklima – all dies wurde nicht verschwiegen, doch lösen sollte sie "eine moralisch gesunde Gesellschaft". Den "geistigen Reichtum und die Einheit des multinationalen russischen Volkes" wollte man pflegen, den Bürgern "Ergebenheit gegenüber der Familie" und "Verantwortung für das Schicksal des Vaterlandes" nahe bringen und so die Probleme lösen. Dieses nationalkonservative Credo verband sich mit der Forderung nach sozialen Garantien: "Der arbeitende Mensch in Russland darf nicht arm sein" war die Kernforderung. Angemessene Entlohnung, wachsende Renten und erschwingliche Wohnungen wurden als Ziele herausgestellt. Den Autoren des Programms war durchaus bewusst, dass eine Garantie einer Besserung der Lebensverhältnisse und des Ausbaus sozialer Sicherungen nur auf Basis einer wachsenden Wirtschaft möglich war. Daher sah das Programm eine Umstrukturierung der Ökonomie vor, hohe Investitionen und die rasche Entwicklung innovativer Industrien. Technischer und ökonomischer Fortschritt gingen Hand in Hand mit nationalkonservativer Konsolidierung. Im Bereich des politischen Systems waren die Versprechungen schmallippiger. Zwar sollte "die Macht" in den Dienst des Volkes gestellt, die Korruption eingedämmt werden, doch verschwieg das Programm, wie man dies bewerkstelligen wollte. Das Programm der dritten Putin-Administration war also ein Dreiklang aus geistig-moralischer Wende, Modernisierung der Wirtschaft und Ausbau des Sozialstaats. Es zielte auf die unterprivilegierte Bevölkerungsmehrheit außerhalb der Metropolen, denen man bessere Lebensverhältnisse versprach, während man sie in ihren antimodernen Vorstellungen bestätigte. Große Teile der urbanen Mittelklasse und der Oberschichten wurden in diesem Programm nicht angesprochen. Auch die Modernisierung der Wirtschaft, notwendig, um Wachstum und höhere Sozialleistungen zu garantieren, erscheint in diesem Programm eher als Fremdkörper.

Soziale Garantien und Ökonomie

Es war der Putinschen Führung klar, dass die Anhebung des Lebensstandards und der Ausbau sozialer Sicherungen unabdingbare Grundlage jeder erfolgreichen Politik sein mussten. Schon auf dem Nominierungsparteitag von "Einiges Russland" hatte Putin in seiner Rede am 24. September 2011 versprochen, die Renten noch im Lauf des Jahres 2011 um 19 % zu erhöhen. Der durchschnittliche Nominallohn sollte bis Ende 2014 auf das anderthalbfache steigen und 30.000–32.000 Rubel (ca. 800 Euro) betragen. Diese Versprechen richteten sich nicht an die erfolgreichen urbanen Mittelschichten, sondern an jene Bevölkerungsmehrheit, die außerhalb der Hauptstadt in prekären Verhältnissen lebte, aber nach wie vor als Rückhalt des Regimes galt. Nach der Wahl machte Putin sich daran, diese Versprechungen umzusetzen. Am 7. Mai, dem Tag nach seiner Amtseinführung unterzeichnete er elf Erlasse, die den Rahmen für die künftige Politik setzen sollten – darunter fünf zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Darin wurde eine große Zahl konkreter Maßnahmen benannt, durch die die Situation in der Wohnungspolitik, bei der demographischen Entwicklung, in der Sozialpolitik, im Gesundheitswesen und bei der Wirtschaftsentwicklung verbessert werden sollte. U. a. sollte der Reallohn bis 2018 auf das 1,4–1,5fache steigen, Lehrergehälter sollten bis zu diesem Zeitpunkt wenigstens auf das Durchschnittseinkommen angehoben werden, Ärzte sollten 2018 das Doppelte des Durchschnittseinkommens verdienen. Bis zum Oktober 2012 wollte man eine Strategie zur Entwicklung des Rentensystems ausarbeiten, das Rentner belohnte, die nach Eintritt in das Rentenalter weiterarbeiten. Für das Gesundheitswesen wurden Richtzahlen zur Senkung der Todesfälle durch Kreislauferkrankungen, Krebs und Tuberkulose ausgegeben. Auch die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen sollte reduziert werden. Dazu wollte man die medizinische Forschung verbessern, eine gesunde Lebensführung propagieren und das Gesundheitssystem ausbauen. Zur Finanzierung der höheren Sozialleistungen galt es, die Wirtschaftsentwicklung voranzutreiben. Die Erlasse vom 7. Mai forderten daher die Schaffung von 25 Mio. hochtechnologischen Arbeitsplätzen bis 2020, die Steigerung der Investitionsquote auf 25 % bis 2015 und 27 % bis 2018 und die Zunahme der Arbeitsproduktivität zwischen 2011 und 2018 um 50 %. Im Businessrating der Weltbank wollte man von Platz 120 (2011) auf Platz 50 (2015) bzw. 20 (2018) vorrücken. Erreicht werden sollte das durch eine Reihe gesetzgeberischer Maßnahmen, durch Straffung der Haushalts-, Steuer- und Beschaffungspolitik, durch die Privatisierung einer Reihe von staatlichen Unternehmen und durch eine entschiedene Verbesserung des Geschäfts- und Investitionsklimas. Zugleich sollten umfassende Modernisierungsprogramme aufgelegt werden – für Sibirien und den Fernen Osten, für die Flugzeugindustrie und für Innovation insgesamt. Im Einzelnen werden die Schwächen der Volkswirtschaft – Energieabhängigkeit, fehlende Infrastruktur, unzureichende Innovation, fehlende Investitionen – benannt und eine Reihe von Abhilfemaßnahmen vorgeschlagen. Ob die vorgegebenen Richtzahlen allerdings tatsächlich erreichbar sind, das bewerten die Experten des Wirtschaftsministeriums eher skeptisch. In der Prognose der Wirtschaftsentwicklung bis 2030, die sie im Januar 2013 vorlegten, nahmen sie pflichtschuldigst eine "Zielszenario (forciert)" als Optimalvariante auf, sie zeigten aber auch, wie unwahrscheinlich deren Eintreten war. Voraussetzung dafür waren eine positive demographische Entwicklung, ein anhaltender Anstieg der Energiepreise und ein erhöhter Kapitalzufluss von außen. Letzteres, so die Experten des Wirtschaftsministeriums, setze die Wirtschaft möglichen Krisen auf externen Finanzmärkten aus. Und ein Sinken der Energiepreise, so wurde am Rande angemerkt, würde die Rahmenbedingungen der Szenarien doch wesentlich verändern. Damit stellte das Wirtschaftsministerium selbst die Frage, ob die versprochene Besserung der sozialen Lage – unabdingbar für die Sicherung der inneren Stabilität – in der Realität zu finanzieren sein wird. Und in der Tat weisen die Wirtschaftsdaten im Frühjahr 2013 auf Probleme bei der Umsetzung der ehrgeizigen Planvorgaben hin. In den ersten Monaten des Jahres verlangsamte sich das Wachstum. Und in Reaktion darauf bestellte der Präsident am 15. April den Ministerpräsidenten ein, um mit ihm über die notwendige Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung zu sprechen.

Geistige Wende und alte Feindbilder

Lohnsteigerungen, Wohnungsbau und Ausbau der sozialen Sicherungen waren substantielle Elemente der Politik, die das Verhältnis zwischen Regime und Gesellschaft stabilisieren sollte, sie schufen den Unterbau für die nationalkonservative Wende. Die Putin-Administration setzte darauf, dass große Teile der russischen Bevölkerung durch nationalistische Parolen ansprechbar sind. Bei den ersten Dumawahlen 1993 hatte die LDPR Schirinowskijs mit ihrem obskuren Rechtsradikalismus 22  % der Stimmen erhalten und war damit stärkste Partei geworden. Im Dezember 2003 erreichte die rechtsnationale Partei Rodina ("Heimat"), geführt von Sergej Glasjew und Dmitrij Rogosin, 9 %, obwohl die Präsidialadministration im Vorfeld versuchte, sie unter der Fünfprozentmarke zu drücken. Eine starke Xenophobie war verbreitet, die sich immer wieder gewaltsam Luft verschaffte – etwa bei Pogromen in Kondopoga im September 2006 oder bei den fremdenfeindlichen Ausschreitungen Tausender von Fußballfans auf dem Moskauer Manegenplatz im Dezember 2010. Rechte Ideologen wie Alexander Prochanow, Alexander Dugin oder Sergej Kurginjan konnten ihre obskuren Theorien in den elektronischen Medien verbreiten und genossen durchaus Ansehen. Auch die politische Führung nutzte immer wieder Elemente nationaler Rhetorik, wenn etwa Putin in einer Wahlrede im November 2007 der Opposition vorwarf, sie habe keine Unterstützung im Volk und schleiche wie Schakale um die ausländischen Botschaften herum. Doch seit Anfang 2012 bediente sich die politische Führung nationalistischer Rhetorik in immer stärkerem Maße. Dazu trug gewiss bei, dass Putin den intelligenten Manipulator Wladislaw Surkow, der über Jahre Parlament und Parteien "gelenkt" hatte, aus der Präsidialadministration entfernt, und durch Personen ersetzt hat, die – wie Sergej Iwanow – eher dem konservativen Lager zuzurechnen sind. Putins Wahlprogramm aus dem Januar 2012 war – wie auch seine Rede zur Lage der Nation im Dezember desselben Jahres – von Begrifflichkeiten und Ideen durchzogen, die dem rechtsnationalen Narrativ entstammten – der "Größe Russlands", der "Geist und Einheit des russländischen Volkes" oder die Formel von der "einzigartigen, ununterbrochenen tausendjährigen Geschichte, auf die gestützt wir innere Stärke und den Sinn nationaler Entwicklung gewinnen". Das nationale Narrativ war die Begleitmusik zu praktischen Maßnahmen, mit denen man die Opposition ausschalten wollte. Prominente Vertreter der Straßenproteste wurden wie z. B. Gennadij Gudkow aus der Duma entfernt oder wie Aleksej Nawalnyj mit Strafprozessen überzogen. Die Duma verabschiedete Gesetze, die Regelverstöße bei Demonstrationen mit hohen Haftstrafen belegte, Nichtregierungsorganisationen, die Mittel aus dem Ausland erhalten, als "ausländische Agenten" brandmarken und – im Rahmen von Kinderschutz – die Sperrung von Webseiten im Internet ermöglichte. Die Provokation, die eine weibliche Punkband namens "Pussy Riot" in der Moskauer Erlöserkathedrale inszenierte, erlaubte es der Führung, sich für die Wahrung russischer Werte einzusetzen – und damit breite Zustimmung zu ernten. In diesem Klima bediente man sich auch eines Obskuranten wie des Publizisten und Polittechnologen Sergej Kurginjan, der am 9. Februar mit Unterstützung der Präsidialadministration einen "Allrussischen Elternkongress" organisierte, bei dem Sergej Iwanow im Präsidium saß und Putin unangekündigt mit einer Grußadresse auftrat. Kurginjan, der Unternehmer und Bürokraten mit Besitz im Ausland ebenso als Feinde ansieht wie "den Westen" insgesamt, propagierte eine nationale Revolution, um "das Volk" vor der Vernichtung und "das Land" vor dem Zerfall zu retten. Auf dem Kongress gründete Kurginjan eine "nationale Opposition" und begründete dies mit dem Argument, dass man die Straße nicht der liberalen Opposition überlassen dürfe. Es wurde bald auch deutlich, dass die rechte Mobilisierung, die das Regime stabilisieren soll, zugleich eine Gefahr darstellt, da sie sich gegen jene Elitengruppen wendet, die die politische Führung stützen. Die Spannung zwischen einem rechtem, gegen Beamtenkorruption gewandten Populismus und der Notwendigkeit das Elitenkartell zusammenzuhalten, kommt in den Gesetzesprojekten zum Ausdruck, das Ministern, Abgeordneten und Beamten verbietet, Konten bzw. Immobilien und Unternehmen im Ausland zu besitzen. Es wurde im August 2012 von einigen Abgeordneten der Partei "Einiges Russland" eingebracht und am 21. 12. von der Duma in erster Lesung verabschiedet. Die vorgesehenen Regelungen riefen bei den Betroffenen naturgemäß Unruhe hervor. Daher brachte der Präsident im Februar seinerseits ein Gesetz ein, das Auslandsguthaben von Beamten, Ministern und Abgeordneten verbot, und das ebenfalls in erster Lesung verabschiedet wurde. Nach Medienkommentaren zu urteilen, war der Entwurf des Präsidenten sehr viel mehr den Interessen der Betroffenen angepasst als das ursprüngliche Gesetz. Offenbar hielt es die Präsidialadministration nicht für opportun, den ersten Entwurf abzulehnen, da das Vorhaben – Bekämpfung der Beamtenkorruption – in der Bevölkerung großen Rückhalt hat, und wählte aus diesem Grunde einen Weg, der nicht gleich sichtbar macht, dass man Beamten und Politiker schützen will. Ein weiteres politisches Projekt stellte auch eine Belastung für das Elitenkartell um Putin dar – die "Deoffschorisazija" (Entoffshorisierung), die Putin in seinem Bericht zur Lage der Nation im Dezember 2012 angekündigt hatte. Dabei ging es darum, das "unpatriotische" Verhalten vieler Großunternehmer und Finanzmagnaten zu unterbinden, die ihr Kapital ins Ausland brachten und in Steueroasen wie Zypern, Luxemburg, Österreich oder den Virgin Islands anlegten, statt es in Russland zu investieren. Der Abfluss von Kapital war der politischen Führung ein Dorn im Auge, zumal sie dringend Investitionen brauchte, um eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums zu erreichen. Das patriotische Narrativ legitimierte die Politik der "Entoffshorisierung" und verschaffte ihr populistische Unterstützung. Dennoch musste sie behutsam eingesetzt werden, wollte man nicht in Gefahr laufen, den Kapitalabfluss noch zu beschleunigen. Bei den außerplanmäßigen Prüfungen der Nichtregierungsorganisationen hingegen, die seit Februar 2013 in großer Zahl durchgeführt wurden, war die Gefahr gering, die eigenen Eliten vor den Kopf zu stoßen. Zwar gab es Proteste des Menschenrechtsbeauftragten und aus dem Menschenrechtsrat beim Präsidenten, doch konnte die Präsidialadministration damit rechnen, dass ihre Feinbildpropaganda, die die NGOs als Einflussagenten des Auslandes darstellte, in der Öffentlichkeit Glauben finden und so über negative Integration der Stabilisierung des Regimes dienen würde.

Fazit

Der politische Kurs der dritten Putin-Administration ist darauf ausgerichtet, die politische Krise, die im Winter 2011/2012 aufgebrochen ist, zu überwinden und das Regime zu stabilisieren. Dabei versucht sie nicht, die urbanen Mittelschichten, aus denen heraus der Protest entstand, zu integrieren und ihnen wenigstens begrenzte Partizipationsmöglichkeiten zu bieten, sie setzt vielmehr auf Einschüchterung der Opposition und Mobilisierung der Bevölkerungsmehrheit über nationale Rhetorik – verbunden mit Ausbau der Sozialleistungen und Maßnahmen zur Besserung der Lebensverhältnisse. Die Ansätze zum Ausgleich der massiven Einkommensunterschiede und zur Korruptionsbekämpfung, die in der Anhebung von Einkommen und Renten und dem Verbot von Auslandsguthaben für Politiker und Beamte enthalten sind, könnten in der Tat auf eine neue, sozial orientiert Politik hinweisen, wären sie nicht mit der Unterdrückung und Einschüchterung der Opposition sowie der Mobilisierung des rechten "Sumpfes" verbunden. So bleibt der Eindruck, dass es allein um eine autoritäre, nationalkonservativ legitimierte Stabilisierung geht, die den kleinen Schönheitsfehler hat, dass sie die Balance des Elitenkartells gefährdet. Obendrein kann man sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass Präsident Putin das rechte Milieu, das er nutzt, nicht mehr zur Gänze kontrolliert. Und das ist gewiss Grund zur Sorge.

Lesetipps

  • Roberts, Sean: The Kremlin’s uncompromising approach to opponents threatens political stability. The Finnish Institute of International Affairs. Briefing Paper 118 (2012), 3. 12. 2012, http://www.fiia.fi/assets/publications/bp118.pdf, 7. Dezember 2012

  • Trenin, Dmitri, Alexei Arbatov, Maria Lipman, Alexey Malashenko, Nikolay Petrov, Andrei Ryabov, Lilia Shevtsova: The Russian Awakening. A Joint Paper by the Carnegie Moscow Center, Moskau, November 2012, http://www.carnegieendowment.org/files/russian_awakening.pdf

  • Lipman, Maria: Doppelte Polarisierung. Russlands gespaltene Gesellschaft, in: Osteuropa, 62.2012, Nr. 6–8, S. 9–22, http://www.osteuropa.dgo-online.org/issues/issue.2012.1348653600000

Fussnoten

lehrt am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin regionale Politikanalyse mit dem Schwerpunkt Osteuropa.