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Notizen aus Moskau: NGO-Agenten-Gesetz – vom kontrollierten Koma aufs Sterbebett? | Russland-Analysen | bpb.de

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Notizen aus Moskau: NGO-Agenten-Gesetz – vom kontrollierten Koma aufs Sterbebett?

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Wie in meinem Russlandblog schon mehrfach beschrieben (zuletzt hier: Externer Link: http://russland.boellblog.org/2013/02/04/russlands-traum-vorerst-ausgetraumt/), haben die seit dem Frühjahr 2012 verabschiedeten repressiven Gesetze (wie fast alle "politischen" Gesetze in Russland) mehrere Funktionen: Sie sollen einschüchtern, sie sollen ablenken, sie sollen "dem einfachen Volk" signalisieren, wer zu den "Feinden Russlands" gehört, und ganz zuletzt sollen sie auch angewendet werden, selektiv versteht sich. Mit diesen vielen neuen, gegen Opposition und Protest gerichteten Gesetzen ist es nun wie mit den aktuellen oder erst kürzlich beendeten staatlichen Großbauten (zum Beispiel für den ASEAN-Gipfel bei Wladiwostok im Vorjahr, für die Sotschi-Winterolympiade im nächsten Jahr oder einer neuen, zusätzlichen Moskauer Ringautobahn in naher Zukunft): Sie werden immer grandioser, zugleich aber immer schlechter geplant. Nicht zuletzt wegen ihrer zunehmenden Größe und Grandiosität läuft die Korruption immer mehr aus dem Ruder. Wie z. B. Kirill Rogow schreibt (Externer Link: http://www.novayagazeta.ru/columns/56667.html) und auch in vielen anderen Berichten, unter anderem besonders glaubwürdig bei Transparency International (Externer Link: http://www.transparency.org.ru/) nachzulesen ist, hat sich seit Putins Amtsantritt generell eine Kick-Back-Rate von 30 Prozent eingependelt, die aber bei den erwähnten Großbauten in letzter Zeit auf 60 bis 70 Prozent hochschnellte. Gleichzeitig werden die Projekte noch mangelhafter umgesetzt, wie jüngst das Putinsche Schimpfen über Sotschi zeigte, das er nun, wenn ich das richtig verstanden habe, lieber von türkischen Firmen zu Ende bauen lässt. Man will sich ja in einem Jahr nicht völlig blamieren (Nur zur Sicherheit: Vergleiche mit BER oder Stuttgart 21 eignen sich, vor allem der Korruption wegen, allenfalls bedingt). Fehler und Fallen werden immer erst entdeckt, wenn es zu spät ist. Ähnlich ist es mit den neuen Gesetzen. Sie sind meist schnell, geradezu im Eiltempo gestrickt, handwerklich schlecht, es sind viele auf einmal, manche werden nicht fertig, viele wiederum sind unfertig, wenn sie in Kraft treten. Man kann die Gesetzeschreiber, die in diesen, politisch besonders wichtigen Fällen in der Präsidentenadministration sitzen und nicht im Parlament, fast verstehen. Warum sich anstrengen, wenn nachher von Staatsanwaltschaft, Polizei, Geheimdienst und Gerichten ohnehin alles so angewandt wird, wie sie wollen? Dieses Schicksal teilt auch das berühmt-berüchtigte NGO-Agentengesetz. Seine Fallen liegen in zwei Bereichen. Die erste Falle habe ich schon öfter beschrieben (u. a. hier: http://russland.boellblog.org/2013/01/21/sergej-mag nitskij-dima-jakowlew-und-der-aufstand-der-anstandigen/). Sie ist aber wichtig und prinzipiell genug, um sie hier noch einmal genau anzuschauen. Für viele NGOs lässt dieses Gesetz keinen Kompromiss mit dem Staat mehr zu. Sich selbst als "Agent" zu bezeichnen, liegt jenseits dessen, was für die Organisation auch bei der größten Verbiegung ethisch und moralisch noch erträglich wäre. Deshalb, und nicht weil sie so mutig wären (was sie dennoch sind!), haben eine ganze Reihe NGOs, darunter Memorial, Transparency International Russland und die Moskauer Helsinki Gruppe im vergangenen Herbst erklärt, sie würden sich dem Gesetz unter keinen Umständen beugen, sondern lieber brechen.

Insbesondere für Memorial hat das Putinsche Agentenspiel (und niemand soll sagen, das sei dem Kreml nicht bewusst) einen ganz besonders bitteren Beigeschmack, denn es war schlechte Tscheka-NKWD-MGB-KGB-Tradition, also von Trotzkij über Stalin bis hin zu Chruschtschow, Breschnjew und Andropow, als "Feinde" eingestufte Menschen als "ausländische Agenten" zu denunzieren (und sie immer wieder, oft unter Folter, dazu zu zwingen, sich selbst "zu bekennen"), um sie dann, je nach Grausamkeitsgrad von Herrscher und Zeit, von Staats wegen zu ermorden oder für lange Zeit in den Gulag und seine Nachfolgelager zu stecken. Zu Memorials selbst gestellten Kernaufgaben gehört es, diese Praxis aufzudecken, ihre Opfer zu rehabilitieren und für die Opfer selbst, so sie überlebt haben, bzw. für ihre Angehörigen und Nachkommen zu sorgen. Allein das reicht aus, jeden Kompromiss mit einem Staat auszuschließen, der ein (falsches!) Selbstbekenntnis als "ausländischer Agent" fordert. Für den Kreml, der sich bis dahin in der Offensive wähnte und die NGOs in der erwünschten Ecke zu haben glaubte, zeigte sich plötzlich, dass er nur noch die Wahl hatte zwischen einem großen, internationalen Skandal und dem Eingeständnis, das NGO-Agentengesetz sei vielleicht doch keine so gute Idee gewesen. Keine schöne Wahl. Vor allem eine, die so oder so keinen Gewinn verspricht. Zum Glück für den Kreml verbirgt sich im Gesetz aber noch die zweite Falle, die Beamte des Justizministeriums (denen, das muss ihnen zur beruflichen Ehre gesagt werden, das Gesetz aus professionell-juristischen Gründen von Anfang an nicht so recht gefallen wollte) mit Hilfe von NGO-Anwälten, nach langem, langem Studium, gefunden haben und die Justizminister Alexander Konowalow Ende Januar verkündete (Externer Link: http://www.pmem.ru/index.php?id=643): Das NGO-Agentengesetz widerspricht fundamental dem eigentlichen NGO-Gesetz, das ja erst 2006 beschlossen und verkündet worden war, ebenfalls zur Züchtigung der NGOs und zur Verhinderung einer "Orangener Revolution" à la Ukraine auch in Russland. Dieses (nun schon wieder alte) NGO-Gesetz verbietet NGOs schlicht jegliche "politische Tätigkeit" unter Androhung ihrer Auflösung. Wenn sich nun also eine NGO als "Agent" registrieren ließe (wie es das NGO-Agentengesetz fordert), weil sie sich "politisch betätigt” und Geld aus dem Ausland bekommt, müsste das Justizministerium sie sofort schließen.

Denn "politische Tätigkeit" ist nach dem weiter geltenden bisherigen NGO-Gesetz ja verboten. So nebenbei monierte Konowalow auch noch, seine Juristen seien schlicht nicht in der Lage, rechtlich belastbar zu beurteilen, was das denn nun sei, "politisch tätig” zu sein. Kurz: Das Gesetz wird vorerst nicht angewandt. Man müsse das erst weiter studieren. Und um auch ganz sicher zu gehen, wurden flugs die regionalen Vertretungen des Justizministeriums, die mitunter ein munteres Eigenleben zum Wohle der Provinz-Mächtigen führen, schriftlich angewiesen, jeden Schritt in Bezug auf das NGO-Agentengesetz mit der Zentrale in Moskau abzustimmen. Dieser interne Brief fand seinen Weg in die Presse (Externer Link: http://hro.org/node/15707), damit auch wirklich nichts anbrennt. Somit befindet sich das Gesetz in einem Zustand, der einem kontrollierten Koma gleicht. Es lebt, ist aber in jeder Hinsicht ruhig gestellt, kann andererseits jederzeit durch die Injektion eines Gegenmittels ins wirkliche Leben zurückgeholt werden. Für den Kreml ist das zwar nicht ideal, aber wohl akzeptabel. Denn eine weitere Hauptaufgabe hat das Gesetz längst erfüllt, indem es im Bewusstsein vieler Menschen in Russland (das Wort von der "Öffentlichkeit" will mir immer nur schwer aus der Tastatur) die Begriffe "NGO" und "ausländischer Agent" durchaus fest miteinander in Verbindung gebracht hat. Die einzelnen Komponenten können später wie "Trigger" wirken: Wenn für nötig befunden, werden sie in den staatlichen Medien oder von hohen Amtsträgern ausgesprochen. In vielen ansonsten von Wissen über NGOs eher unbelasteten Köpfen verbinden sie sich dann wieder: NGO? Ach ja, das waren doch die Verräter und Agenten. Für die NGOs ist der staatliche Teilrückzug des NGO-Agentengesetzes also bei Leibe kein Sieg in der Schlacht, immerhin aber ein weiterer abgewehrter einzelner Angriff. Den Sieg soll nun eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bringen, die 11 NGOs (vgl. die Pressemitteilung auf S. 9) Anfang Februar eingereicht haben. Wobei das "nun" im vorigen Satz nicht ganz richtig ist, da die Beschwerde schon seit zwei Monaten intensiv vorbereitet wird. Vom halben (wohl eher taktischen) Rückzieher des Kremls Ende Januar konnten die NGOs also noch nichts wissen, als sie sich im November 2012 zu diesem Schritt entschlossen. Er sollte ursprünglich vor allem eine weitere Verteidigungslinie aufbauen, sollte sich der Kreml doch zur Generalattacke entschließen. Möglich ist die Beschwerde, weil sich die russischen NGOs als "potentielle Opfer" des NGO-Agentengesetzes sehen. "Potentielle Opfer" können nach den Regeln des EGMR auch schon gegen diskriminierende und die Europäische Menschenrechtskonvention verletzende Gesetze Beschwerde einlegen, wenn sie noch gar nicht geschädigt wurden, um einer, vielleicht irreversiblen, Schädigung zuvor zu kommen. Natürlich kann es passieren, dass der EGMR solche Beschwerden nicht annimmt, aber das wird sich zeigen. Solange die Beschwerde dort liegt, bietet sie einen gewissen Schutz. Sollte sie angenommen werden, es zur Verhandlung kommen und der EGMR das Gesetz für mit der Menschenrechtskonvention nicht vereinbar erklären, wäre das für Russland ein Novum: Ein Gesetz, das noch nicht angewandt wurde, ist schon höchstrichterlich für rechtswidrig erklärt. Möglich, dass das der Todesstoß für dieses eine Gesetz wäre. Es bleiben aber noch viele andere.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.

Fussnoten