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Gesellschaftliche Perspektiven im Jahre 2013 - Wandel der Sozialstruktur und Regimeakzeptanz | Russland-Analysen | bpb.de

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Gesellschaftliche Perspektiven im Jahre 2013 - Wandel der Sozialstruktur und Regimeakzeptanz

Henning Schröder

/ 8 Minuten zu lesen

Der Rückgang der Protestaktivität im Jahre 2012 bedeutet nicht, dass die innere Situation Russlands sich wieder stabilisiert und die Putin-Administration den politischen Prozess unter ihre Kontrolle gebracht hat. Öffentlichkeitsstrukturen und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse haben sich verändert. Dem staatlichen Fernsehen ist mit dem Internet eine Konkurrenz erwachsen, die bisher unkontrolliert ist. In den Städten hat das Wirtschaftswachstum der Jahre 2000–2008 eine Schicht geschaffen, die Gestaltungsraum und Mitsprache einfordert. Zugleich bestehen die starken Gegensätze zwischen Arm und Reich fort, und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der am Rande des Existenzminimums lebt, erwartet von der Führung eine Besserung seiner Lage. Das Misstrauen gegenüber der Führungsschicht, die durch die Bank als korrupt wahrgenommen wird, ist groß. Die Zustimmungswerte für Putin, der lange Jahre erfolgreich als Integrationsfiguragierte, sinken. Die internen Probleme sind also keineswegs überwunden und die Regierung steht vor einer schwierigen Aufgabe.

Ruhe nach dem Sturm?

Ein Jahr nach den Massendemonstrationen in Moskau ist in der russischen Hauptstadt wieder Ruhe eingekehrt. Versuche von Oppositionsgruppen, abermals Großdemonstrationen zu organisieren, waren wenig erfolgreich. Es gelang ihnen zwar, einige Tausend Demonstranten auf die Straßen zu bringen, doch die Mobilisierung blieb weit hinter der im Winter 2011/2012 zurück. Offenbar ist die Protestbereitschaft nach den Präsidentenwahlen und der Amtseinführung der neuen Administration deutlich zurückgegangen. Doch ob dies bedeutet, dass die Lage im Innern stabil ist, und die dritte Putin-Administration die politische Situation kontrolliert, das steht dahin. Beobachter aus verschiedenen Lagern bezweifeln, dass die Ursachen, die zu den Protesten geführt haben, verschwunden sind. Die neugegründete "Stiftung für die Entwicklung der Zivilgesellschaft" etwa, die der Präsidialadministration nahe steht, vertrat in einer Analyse der politischen Krise 2011/2012 die Ansicht, dass die "Problemmotivatoren" der Proteste fortbestehen würden, nur die Form des Massenprotests habe sich erschöpft. Allerdings sei die politische Mobilisierung im Rahmen sozialer Netzwerken eine Novität, die inzwischen in den Werkzeugkasten der "Polittechnologen" – der spin doctors – aufgenommen worden sei. Der think tank des Präsidenten geht also davon aus, dass die Probleme, die für die Unzufriedenheit in der Gesellschaft im Jahre 2011 verantwortlich waren, fortbestehen. Er dachte zugleich darüber nach, wie die neuen Protestformen für die eigenen Zwecke instrumentalisier werden können. Auch Anatolij Tschubajs, der Vorstandsvorsitzende des Konzerns Rosnano und ein über lange Jahre ein einflussreicher Akteur in der russischen Innen- und Wirtschaftspolitik, der zur Putin-Administration eine gewisse Distanz wahrt, sieht keine Entspannung der Situation. Er betont die strukturellen Ursachen und die Eigendynamik des sozialen Prozesses: "Jegor Gajdar hat gesagt, dass ein Staat mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen über 15.000 US$ nicht lange autoritär bleiben kann. Eben das passiert, das heißt heute: in Russland ist eine Mittelklasse entstanden. Zugegeben, vorläufig gibt es sie nur in Moskau, Petersburg und ein bisschen in Jekaterinburg, ja, sie hat keine klaren Führer …, aber der Prozess ist in Gang gekommen, den kann man nicht aufhalten. … Es wird noch zehn Veranstaltungen geben, wo 3.000 Leute hingehen, aber dann versammelt sich plötzlich eine halbe Million. Davon bin ich zu 100 % überzeugt! Der Zug fährt nicht zurück." (Itogi 44/855 vom 29.10.12 http://www.itogi.ru/russia/2012/44/183529.html) Sowohl im engeren Führungskreis wie in der politischen Klasse allgemein herrscht der Eindruck vor, dass die politische Situation nach wie vor gespannt ist. Das Abflauen der Proteste wird nicht als Rückkehr zu den stabilen Verhältnissen der ersten beiden Amtszeiten Putins 2000–2004 und 2004–2008 aufgefasst, in der das Regime von der plebiszitären Zustimmung der Bürger getragen wurde. 2012 und 2013 nehmen die Beobachter nach wie vor ein erhebliches Potential an Unzufriedenheit wahr, das über kurz oder lang auch wieder zu öffentlichen Protesten führen könnte.

Die Reichweite der Moskauer Massenproteste

Die Demonstrationen des Winters 2011/12 wurden durch die Fälschungen bei den Dumawahlen im Dezember 2011 ausgelöst. Doch die Fälschungen, die bei diesen Wahlen auch in Moskau und anderen größeren Städten stattfanden, und mit ungewöhnlicher Dreistigkeit durchgeführt wurden, waren nur der Anlass für die Proteste. An den Wahlen entzündete sich der Unwillen, die angestaute Unzufriedenheit machte sich Luft. Die Gründe für die Unzufriedenheit mit der politischen Führung waren vielfältiger. Umfragen der Lewada-Stiftung zu den Kümmernissen der Bevölkerung in den Jahren 2005–2012 zeigen, das materielle Probleme im Vordergrund stehen (vgl. Tabelle 6 auf. S. 16–17). Am drückendsten wurden und werden die Preissteigerungen empfunden – weit über zwei Drittel der Befragten geben dies als Ihre Hauptsorge an. Eng damit verbunden ist die Angst vor Armut, die etwa die Hälfte der Respondenten beschäftigt, und vor Arbeitslosigkeit, die ein Drittel angeben. Der Anteil der Befragten, die Korruption als Problem sehen, ist zwischen 2005 und 2012 von 24 % auf 35 % gewachsen. Der Prozentsatz derjenigen, die soziale Ungerechtigkeit thematisieren, bewegt sich dem Lewada-Zentrum zufolge in einem ähnlichen Größenbereich und hatte den höchsten Wert aber 2008, ehe die Erfahrung der Wirtschaftskrise – die 2009 in aller Deutlichkeit wahrgenommen wurde – dazu führte, dass dieses Thema gegenüber den existentiellen Sorgen etwas in den Hintergrund trat. Die entsprechende Umfrage des WZIOM für das Jahr 2012 (vgl. Tabelle 7 auf S. 17–18), die etwas anders angelegt ist, zeigt zwar im einzelnen andere Werte, bestätigt die Erhebungen von Lewada jedoch in der Tendenz: Armut, Preisanstieg und die Wohnungsfrage – bei der es neben der Wohnungsnot vor allem um den starken Anstieg der Nebenkosten geht – stehen im Vordergrund. Danach folgen sofort Korruption und Bürokratie. Bei den Respondenten des WZIOM lösen sie beinahe im gleichen Maße Sorgen aus wie die sozialen Themen. Für die Mehrheit der Bevölkerung stehen also auch 2012 und 2013 die existentiellen Probleme im Vordergrund. Preisanstieg, die Frage der Wohnungskosten, die Angst vor Verarmung, die unzureichende Gesundheitsversorgung, das sind die Themen, die die Masse der Bürger beschäftigen. Über Terrorismus, die Bedrohung der Demokratie und die Einschränkung von Menschenrechten machen sich die meisten Befragten keine Gedanken. Dass "Korruption und Bestechlichkeit" bzw. "Korruption und Bürokratismus" ein wichtiges Thema ist, weist aber auf ein Misstrauen gegenüber der Obrigkeit hin, das auch durch die Vorstellung von der ungerechten Einkommensverteilung in der Gesellschaft genährt wird. Die Moskauer Massenproteste im Winter 2011/2012 thematisierten zwar dieses Misstrauen, sie griffen auch das Thema Demokratie auf, doch sie ignorierten die existentiellen Probleme, die die Mehrheit der Bevölkerung inner- und außerhalb von Moskau bewegen. Insofern waren die Proteste typisch für die Haltung Moskauer Mittelschichten, für die Armut, Inflation und Arbeitslosigkeit eher ein theoretisches Problem darstellen, die aber fallweise für Themen wie Demokratie und Gerechtigkeit mobilisierbar sind. Die Proteste sind aber nicht repräsentativ für die Bevölkerungsmehrheit, für die materielle Sorgen im Vordergrund stehen.

Veränderung in der Gesellschaft

Das Auftreten dieser Moskauer "Mittelschicht" im Winter 2011/2012 ist Ergebnis des gesellschaftlichen Strukturwandels, den Russland seit 1999 durchlaufen hat. Nach der Finanzkrise 1998 hatte sich mit der wirtschaftlichen Erholung und dann beschleunigt mit dem Ansteigen der Energiepreise auch die materielle Lage der Bevölkerung gebessert. Waren es im Jahre 2000 noch 42,3 Mio. Russen (29 % der Gesamtbevölkerung), deren Einkommen unter dem Existenzminimum lag, so hatte sich diese Zahl im Jahre 2011 auf 18 Mio. (12,7 %) reduziert. Das durchschnittliche Realeinkommen hatte sich indes gegenüber 1995 verdoppelt. Die wachsenden Einkommen führten zu Verschiebungen in der Gesellschaft. Erhebungen des Lewada-Zentrums (vgl. Grafik 10 auf S. 18) zeigen, dass bei Fortbestehen großer sozialer Unterschiede die Einkommensgruppen zunehmen, die in relativem Wohlstand leben. Im Jahre 2001 hatten nur 28 % genug Geld, um sich Kleidung und Nahrungsmittel zu kaufen – also die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Und nur 6 % konnten sich darüber hinaus langlebige Konsumgüter – Fernseher, Waschmaschinen etc. – leisten. Elf Jahre später – 2012 – gaben 49 % der Befragten an, dass das Einkommen für Lebensmittel und Kleidung ausreichte, weitere 18 % vermeldeten, dass es auch für langlebige Konsumgüter langte. Diese letzte Gruppe, deren Angehörige über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus auch größere Ausgaben tätigen können, ist, was den Lebensstandard angeht, in etwa mit Mittelschichten westlicher Industriegesellschaften zu vergleichen. Zwischen 2001 und 2008 war eine fortgesetzte Besserung der materiellen Situation zu beobachten, viele Befragte erfuhren dies als sozialen Aufstieg. Diese Aufwärtsmobilität war ein wichtiges Moment, das das Putin-Regime stabilisierte und für das positive Image des Präsidenten verantwortlich war. Die Finanzkrise des Jahres 2008 wurde als Schock erfahren. Die Auswirkungen wurden statistisch 2009 sichtbar: viele Russen stiegen vorübergehend wieder ab, der Anteil derjenigen, deren Lebensstandard in etwa dem westlicher Mittelschichten entsprach, halbierte sich – er fiel übers Jahr von 17 % auf 9 %. Allerdings wurde dieser Rückschlag bald überwunden – der Wert stieg wieder auf 18 %. Mit dem Erstarken der mittleren Einkommensgruppen ist eine Schicht entstanden, die nach Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse nun bereit ist, sich auch mit moralischen, kulturellen oder politischen Fragen zu befassen. Diese Entwicklung bildet die Grundlage für das Auftreten von Kräften, die man der Bürgergesellschaft zurechnen kann und die nun auch Mitspracherechte einfordert. Alexej Kudrin, der ehemalige Finanzminister, der seit 2012 außerhalb des engeren Führungszirkels steht und einen regierungskritischen think tank leitet, formulierte dies in einem Spiegel-Interview folgendermaßen: "Einen wichtigen positiven Trend aber sehe ich: Eine neue, aktive Zivilgesellschaft ist entstanden." Indes ist der große soziale Gegensatz zwischen der kleinen Macht- und Geldelite auf der einen und der Masse der Bevölkerung auf der anderen Seite nicht überwunden. Immer noch verfügt nur eine winzige Minderheit über den Zugriff auf die politischen und ökonomischen Ressourcen. Selbst wenn man die Elitenvertreter aller Ebenen – von der föderalen Führung bis hinunter in die Regionen und Kommunen – einbezieht, macht diese Gruppe kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung aus. Demgegenüber stehen 2012 ca. 30 % Arme (mit Einkommen unter dem Existenzminimum oder nicht weit darüber) und weitere 50 %, die eine weitere Besserung ihrer Lage erwarten.

Wachstum, Medien und gesellschaftliche Stimmungen

Für die politische Führung schafft dies reale Probleme. Einerseits muss sie auf die sozialen Forderungen der Mehrheit der Bevölkerung eingehen und ihnen materielle Zugeständnisse machen. Andererseits muss sie auch die sozial abgesicherten Schichten in einigen großen Städten, die nun erwarten, dass man ihnen politische Mitspracherechte einräumt, einbinden – oder sie politisch isolieren. Eine Voraussetzung für die Lösung dieser Aufgaben ist ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum, das es erlaubt, erhöhte Sozialleistungen zu finanzieren. Eine andere die Kontrolle über die wichtigsten Medien. In den ersten beiden Amtszeiten Putins war letzteres der Fall gewesen: Die Administration hatte den Zugriff auf die wichtigsten Fernsehsender und konnte mit ihrer Hilfe auf die politischen Haltungen der Bevölkerung einwirken. Seit einigen Jahren ist dem staatlich kontrollierten Fernsehen mit dem – bisher gänzlich unkontrollierten – Internet ein Konkurrenzmedium entstanden, das inzwischen von 30–40 % der Russen täglich genutzt wird. Die Führung hat also ihr Medienmonopol verloren und muss nach anderen Wegen suchen, um die öffentliche Meinung zu kontrollieren.

Fussnoten

lehrt am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin regionale Politikanalyse mit dem Schwerpunkt Osteuropa.