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Polen und die Zukunft des Katholizismus

Dr. Anja Hennig

/ 8 Minuten zu lesen

Die Katholische Kirche hat in Polen einen hohen Stellenwert. Doch sie steht im Spannungsfeld von Glaube, Politik und Identität. In Städten und jüngeren Generationen vollzieht sich zunehmend ein Wandel.

Marsch in Breslau zu Ehren und zur Verteidigung des polnischen Papstes Johannes Paul II. Zuvor wurde bekannt, dass der spätere Papst, während seines Amts als Erzbischof von Krakau, die Missbrauchstaten mehrerer Pfarrer vertuscht haben soll. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Krzysztof Zatycki)

Im gesamteuropäischen Vergleich galt Polen bisher als eines der religiösesten Länder. Noch im Jahr 1992 gaben 94 % der Bevölkerung an, gläubig zu sein und 74 %, wöchentlich in die katholische Messe zu gehen. (Grabowska 2022b, 1). Zur Religiosität (gemessen als individueller Glaube und Kirchganghäufigkeit) kam ein großes Vertrauen in die Kirche als Institution sowie eine ausgeprägte Interaktion zwischen Religion und Politik (Hennig 2012). Interner Link: Nun scheint sich einiges zu ändern.

Die besondere Verbindung zum Katholizismus liegt in der geopolitischen Geschichte und Kultur Polens begründet. Dazu gehört das mythologische Narrativ, auserwählter Hort des (katholischen) Christentums in Europa zu sein. Vor allem aber ließen die traumatischen Erfahrungen der drei polnischen Teilungen zwischen 1772 und 1918, bei dem das Gebiet der multi-ethnischen polnisch-litauischen Adelsrepublik vom protestantischen Preußen, katholischem Österreich und christlich-orthodoxen Russland besetzt wurde, den Katholizismus zum einheitsstiftenden Identitätsmarker werden (Zubrzycki 2006, 41-44).

In der Zwischenkriegszeit entstand hingegen die politische Strömung eines katholischen und antisemitischen Nationalismus, auf den sich bis heute nationalistische Akteur/-innen und rechtsradikale Gruppierungen in Polen berufen (Hennig und Meyer-Resende, 2021). Dieser politisierte Katholizismus steht im Kontrast zur lebendigen und familiär tradierten katholischen (Volks-)kultur mit ihren Bräuchen und religiösen Festen. Angesichts der zahlenmäßig geringen religiösen Vielfalt in Polen, lässt sich auch die weiterhin sehr hohe Akzeptanz der Bevölkerung (über 80 %) von Kreuzen in öffentlichen Räumen wie Schulen oder Gerichten besser verstehen (Grabowska 2022a, 4).

JPII – der polnische Papst

Identitätsstiftend ist überdies die Tatsache, dass während der Zeit der Volksrepublik die Kirche dem kommunistischen Regime trotzte und gesellschaftlich engagierten Gruppen eigene (Frei-)räume schuf. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch Kardinal Karol Wojtyła, der 1978 als erster Pole zum Papst gewählt wurde. Als Persönlichkeit tief verehrt, unterstütze Wojtyła als Kardinal und später Interner Link: Papst Johannes Paul II. die Interner Link: polnische Oppositionsbewegung Solidarność und trug mit seinen Pilgerreisen nach Polen und seiner internationalen Präsenz Ende der 1980er Jahre zum Regimewandel bei.

Kerzen, Transparente und Kleiderbügel werden vor dem Krakauer Bischofspalast während einer Demonstration gegen die Einschränkungen des Abtreibungsgesetzes in Polen aufgestellt. (© picture-alliance, NurPhoto | Beata Zawrzel)

Moraltheologisch hingegen positionierte sich Johannes Paul II. angesichts der wachsenden Akzeptanz, dass Frauen selbstständig über ihren Körper entscheiden sowie die Erweiterung der Menschenrechtsagenda um das Recht auf sicheren Schwangerschaftsabbruch kompromisslos gegen Abtreibung; ein Vermächtnis, das die Linie der polnischen Bischöfe bis heute prägt (Hennig 2012). Sein gesellschaftspolitisches Vermächtnis erklärt andererseits, weshalb auch selbst die neuesten Missbrauchsenthüllungen nichts an dem überwiegend positiven Papstbild änderten. Über 80 % der polnischen Bevölkerung betrachten ihn laut CBOS auch im Vergleich zum gegenwärtigen Papst Franziskus weiterhin als wichtige moralische Autorität (Roguska 2023), obwohl Anfang 2023 Recherchen belegten, dass Karol Wojtyła, vor seiner Wahl zum Papst 1978, pädophile Priester geschützt hat; eine Diskussion, in der die regierende Partei PiS einen zivilisatorischen Angriff auf Polen sah.

Polnischer Katholizismus im Wandel

Nach 1989 etablierte sich formell ein kooperatives Verhältnis von Kirche und Staat. Während solche Kooperationsmodelle in Süd- und Westeuropa überwiegen, hat die Katholische Kirche in Polen den Transformationsprozess in den 1990er Jahren nutzen können, um ihre Interessen (z.B. Konkordat, Abtreibung, Schulunterricht) politisch konsequent durchzusetzen (Hennig 2012). Doch mittlerweile offenbart sich auch in Polen ein Säkularisierungstrend: Die religiöse Praxis geht seit den letzten drei Jahren deutlich zurück, Menschen treten aus der Kirche aus, das Interesse an katholischem Religionsunterricht lässt nach, es mangelt eklatant an Nachwuchs für das Priesteramt sowie für das Klosterleben und auch das Vertrauen in die Institution Kirche ist gesunken (Katolicka Agencja Informacyjna 2021). Angesichts des Generationenwandels, der Missbrauchsskandale und der moralpolitischen Einmischung der Bischöfe (repräsentiert durch das Gremium der Polnischen Bischofskonferenz (KEP) insbesondere seit dem Wahlsieg der PiS im Herbst 2015), ist dieser Wandel eigentlich wenig überraschend.

Veränderung des katholisch-religiösen Feldes

Bemerkenswert ist hingegen, dass Externer Link: im europäischen Vergleich die Bevölkerung weiterhin überwiegend religiös ist und die Kirche sich immer noch eines substantiellen Vertrauens erfreuen kann. Diesem Vertrauen stand aber bereits seit den letzten 30 Jahren eine überwiegend ablehnende Haltung gegenüber der politischen Einmischung von Kirchenvertretern entgegen, etwa durch Wahlempfehlungen oder der öffentlichen Kommentierung von Gesetzesvorhaben. Dann wiederum gaben 2006 nur 6 % und 2021 etwa 15 % der Befragten an, dass für sie die katholischen Wertgrundlagen wenig bedeutsam sind (Boguszewski 2022, 7). Diese weiterhin bestehende soziale Bedeutung katholischer Wertvorstellungen gehen mit einer eher strikten Haltung zur Regelung von Abtreibung einher: So lehnt eine Mehrheit der Polinnen und Polen zwar das fast vollständige Abtreibungsverbot von 2021 ab. Aber nur etwa 20 % würden als Begründung für einen Schwangerschaftsabbruch eine soziale Indikation akzeptieren; also wenn eine Frau sich auf Grund einer schwierigen materiellen Situation (Akzeptanz in der Bevölkerung: 21 %), einer schwierigen sozialen Lage (20 %) oder weil sie sich schlicht gegen ein Kind entscheidet (18 %), die Schwangerschaft abbrechen möchte (Bożewic 2023, 3).

Faktoren des Wandels

Diese auf den ersten Blick etwas paradoxen Entwicklungen lassen sich besser verstehen, wenn man berücksichtigt, dass sich der religiöse Wandel und der Wertewandel am deutlichsten und schnellsten im städtischen Raum, in der jüngeren Generation und bei den höher Gebildeten vollzieht. Auch ist das Vertrauen in die Kirche derer am Größten, die PiS wählen. Dazu gehört mehrheitlich die ältere Generation (Roguska 2023, 8). Somit ist für die religiöse Entwicklung auch relevant, dass etwa 40 % Interner Link: der polnischen Bevölkerung im ländlichen Raum lebt und die Gesellschaft stark altert.

Neben diesen klassischen Faktoren des sozialen Wandels, hat die verstärkte Allianz zwischen PiS und Kirchenhierarchie – und insbesondere ihre Unterstützung des fast vollständigen Abtreibungsverbotes, das 2021 vom Verfassungsgericht für rechtskräftig erklärt wurde, zu den bisher größten öffentlichen Protesten und einer Abkehr insbesondere von Frauen von der Kirche geführt (Kozłowska 2022). Als weiterer Faktor für den Rückgang, insbesondere der Messbesuche, wird die lange Zeit der Distanz während der Pandemie gesehen (Bożewicz 2022).

Aus Datenerhebung von 1991 bis 2022 zum Wandel der Religiosität in Polen, wird aus Sicht der Soziologin und Leiterin des Meinungsforschungsinstituts CBOS Mirosława Grabowska Folgendes deutlich (więż.pl, 23.9.2023):

  • Zwischen März 1992 und Juni 2022 sank der Anteil der Erwachsenen, die sich selbst als gläubig bezeichnen, von 94 % auf 84 %.

  • In derselben Zeit fiel der Anteil derjenigen, die regelmäßig ihren Glauben (einmal pro Woche oder öfter) praktizieren, von fast 70 % auf fast 42 %. Gleichzeitig stieg der Prozentsatz derjenigen, die überhaupt nicht praktizieren, von weniger als 9 % auf 19 %.

  • Der Grad des religiösen Bekenntnisses in der polnischen Gesellschaft nimmt eher langsam ab, während der Grad der Religionsausübung schneller sinkt.

  • In den Großstädten ist die regelmäßige Praxis auf ca. 30 % gesunken. Etwa 40 % geben dort an, nicht mehr zu praktizieren.

  • Bei den vier ältesten Alterskohorten der polnischen Gesellschaft ändern sich die Glaubenserklärungen nur wenig. Ein dynamischer Wandel vollzieht sich in der Generation der so genannten Millenials und den nachfolgenden Generationen. Dort sinkt auch das Bedürfnis nach katholisch praktizierter Religiosität.

Vielseitiger Katholizismus in Polen

Hinzu kommt, dass die katholische Kirche in Polen ideologisch divers ist. Unter der Interner Link: PiS-Regierung 2015 hat eine Polarisierung stattgefunden, die insbesondere den moralpolitisch radikalen und katholisch-nationalistischen Positionen eine Stimme und verstärkten Handlungsspielraum verlieh. Gleichzeitig hat die Partei die Nähe zur Kirche gesucht und ihrem Programm das katholische Wertesystem ihrer Politik zu Grunde gelegt (Hennig und Meyer-Resende, 2021). Das könnte sich mit einer neuen Regierung jetzt ändern.

Die Katholische Kirche in Polen vereint unterschiedliche ideologische Strömungen und Akteure, die sich zwischen einer offen-liberalen, einer mehrheitlich konservativen und einer geschlossen-nationalistischen Auslegung des Katholizismus verorten lassen. Der Krakauer Erzbischof Marek Jędraszewski oder das Medienimperium um den auch innerkirchlich umstrittenen Pater Tadeusz Rydzyk Interner Link: mit dem Sender Radio Maryja sind bekannte Beispiele für den fremden- und minderheitenfeindlichen Katholizismus. Während das Radioprogramm vorwiegend die ältere Landbevölkerung adressiert, sprechen radikale Anti-Abtreibungs-NGOs oder nationalistische Gruppierungen gerade auch Jüngere an (Hennig 2023).

Auf der anderen Seite melden sich Interner Link: immer deutlicher liberal-katholische Priester zu Wort, etwa Ludwik Wiśniewski, der die Bischöfe kritisierte, den Abbau des Rechtsstaates und die Politisierung des Katholizismus zuzulassen. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz steht in moraltheologischer Hinsicht allerdings dem Weg Papst Franziskus, der eine Segnung homosexueller Paare nicht grundsätzlich ablehnt, kritisch gegenüber und sieht mit Interner Link: dem deutschen Reformprozess „Synodaler Weg“ eine Spaltung der Katholischen Kirche drohen.

Reduzierte religiöse Vielfalt

Zur Katholischen Kirche (zusammen mit den ca. 50.000 Mitgliedern der Griechisch-Katholischen Kirche) fühlt sich weiterhin die absolute Mehrheit zugehörig. Die Orthodoxe Kirche hatte 2022 rund 500.000 Mitglieder. Es gibt etwa dreißig Protestantische Kirchen mit insgesamt mehr als 150.000 Mitgliedern und weitere etwa zwanzig Kirchen anderer Religionen sowie etwa 115.000 Zeugen Jehowas (European Commission 2022). Außerdem zählt Polen ca. 35.000 Muslim:innen (Statistics Poland 2020). Heute leben weniger als 10.000 Jüdinnen und Juden in Polen, einem Land, dass am Vorabend des Zweiten Weltkrieg mit über drei Millionen Jüdinnen und Juden als Zentrum des Europäischen-Jüdischen Lebens und die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft weltweit galt (World Jewish Congress).

Staatliche Privilegien der Katholischen Kirche

Durch die Verfassung von 1997 gilt Polen als laizistischer und in Fragen der Religion und Weltanschauung neutraler Staat, in dem Kirchen und Religionsgemeinschaften formell gleichberechtigt sind. Wie in anderen katholischen Staaten auch, schreibt allein für die katholische Kirche ein Konkordat (in Polen 1997) die Grundlage der Beziehungen zum Staat fest. Ein besonderes Gremium stellt die Gemeinsame Kommission von Episkopat und Regierung dar, die 1989 eingesetzt wurde, um zunächst Fragen der Rückerstattung von nach 1950 konfisziertem Eigentum zu klären. Längst wird sie genutzt, um Themen wie Religionsunterricht oder die Regulierung von Abtreibung mit der Regierung zu diskutieren (Hennig, 2012, 213).

Die Katholische Kirche finanziert sich mehrheitlich über ihre Mitglieder. Zugleich erhält sie Unterstützung vom Staat, der die Religionslehrer:innen bezahlt und Erleichterungen bei der Einkommens- und Grundsteuer bis hin zur Steuerbefreiung kirchlicher Rechtsträger gewährt. Auch muss sich die Katholische Kirche als zweitgrößte Immobilienbesitzerin seit 2016 nicht an Restriktionen beim Verkauf von Land und Immobilien halten (Hennig 2016). Externer Link: Hinzu kommt der 1950 gegründete Kirchenfond, der die Instandhaltung von Kirchen oder sakralen Gegenständen und karitativ-pflegerische Tätigkeiten der Kirche mit staatlichen Geldern unterstützt.

Die Zukunft des Staat-Kirche Verhältnisses nach der PiS Regierung

Die zukünftige Regierungskoalition aus derInterner Link: Bürgerkoalition, dem Dritten Weg und der Neuen Linken strebt deutliche Veränderungen im Verhältnis von Kirche und Staat an. Das ist interessant, da sie sich gerade in ihrem Verhältnis zum Katholizismus (Die Linke ist eher anti-klerikal und moralpolitisch progressiv, der Dritte Weg liberal-katholisch und moralpolitisch restriktiv) unterscheiden.

Einig ist man sich aber, dass Kirche und Staat klarer getrennt sein sollen. Das betrifft die Liquidierung des Kirchenfonds ebenso wie die Wiederaufnahme der Finanzierung von In-vitro-Maßnahmen und Verhütungsmitteln (Demagog, 9.10.203). Es ist auch zu vermuten, dass sich der öffentliche Radius radikaler Kräfte verkleinern wird. Dies könnte jene liberal-katholische Richtung stärken, die vor allem durch Priester und Laienzirkel etwa um die intellektuellen Foren der liberal-katholische Monatshefte wie Externer Link: „Znak“ oder Externer Link: „Więż“ vertreten wird.

Das Thema Abtreibung wird hingegen noch länger virulent bleiben. Hier steht der Vorschlag im Raum, ein Referendum zur Regulierung von Abtreibung abzuhalten, einem von der Interner Link: Partei Lewica eingereichten Gesetzesentwurf zur Liberalisierung entgegen.

Weitere Inhalte

Anja Hennig ist Politikwissenschaftlerin an der Europa-Universität Viadrina. Sie forscht u.a. zum Verhältnis von Religion und Politik in Europa und den deutsch-polnischen Beziehungen. Zu ihren Publikationen gehören Moralpolitik und Religion, Bedingungen politisch-religiöser Kooperation in Polen, Italien und Spanien und ein Sammelband zu Illiberaler Politik und Religion. E-Mail Link: ahennig@europa-uni.de