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Parteien-Analyse im Vorfeld der Parlamentswahl | Polen | bpb.de

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Parteien-Analyse im Vorfeld der Parlamentswahl

Jarosław Flis

/ 8 Minuten zu lesen

Die polnischen Parteien lassen sich nur schwer mit der klassischen „Links-Rechts“-Verortung beschreiben. Für einen verständlicheren Zugang zum Parteiensystem, analysiert Jarosław Flis sie entlang mehrdimensionaler Achsen.

Am 15. Oktober 2023 findet die zehnte Parlamentswahl der Dritten Polnische Republik statt. Erneut gilt die Wahl als richtungsentscheidend für die Zukunft des Landes. (© picture-alliance, NurPhoto | Mateusz Wlodarczyk)

Politische Verortung von Parteien

Die polnische Politik unterscheidet sich von den Gewohnheiten, die in der westlichen Politik entwickelt wurden. Das Hauptproblem besteht in der klassischen, aber irreführenden Unterscheidung zwischen „Links und Rechts“. Die Links-Rechts-Spaltung ist das Ergebnis von Unterteilungen auf zwei verschiedenen Achsen:

Die erste bezieht sich auf wirtschaftliche Fragen. Auf der einen Seite stehen die Befürworter:innen staatlicher Interventionen, insbesondere in Form von Sozialleistungen, auf der anderen Seite die des freien Marktes. Die zweite Achse bezieht sich auf Werte und Identität. Auf der einen Seite sind die Befürworter:innen individueller Freiheiten und Pluralität. Dementgegen stehen die Befürworter:innen nationaler Identitäten und traditioneller Familienmodelle.

Eine Reihe von Umständen hat die Hauptachse der politischen Spaltung so geformt, dass auf der einen Seite diejenigen stehen, die die Ausweitung der individuellen Freiheit als sozialen Fortschritt betrachten, obwohl sie im wirtschaftlichen Bereich staatliche Eingriffe als wichtigen sozialen Faktor sehen. Auf der anderen Seite sind es diejenigen, die für den freien Markt und traditionelle Gemeinschaften eintreten – die so genannte „Rechte“.

Dies lässt sich auf eine etwas ungewöhnliche Weise am Beispiel des Ausgangs der US-Wahl im Jahr 2020 verdeutlichen. Die untenstehende Grafik wurde auf der Grundlage der Expertenumfrage Global Party Survey erstellt – die Schwerpunkte der Kreise zeigen die ideologischen Gegensätze, während die Größe der Kreise der Parteienunterstützung entspricht.

(© bpb, Jarosław Flis)

Das US-amerikanische Beispiel zeigt zwei ähnlich starke Gruppierungen: Die Republikaner und die Demokraten, die das Seil zwischen der traditionell verstandenen Linken und Rechten spannen. Dieses Muster ist mit einigen Einschränkungen, auch in anderen Ländern zu beobachten – wie beispielsweise bei der Bundestagswahl 2021. Neben der Rivalität zwischen den großen Parteien SPD und CDU, sind weitere Spannungen zu beobachten. Andere, teils neuere Parteien – wie die FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Linke oder die Alternative für Deutschland – machen die Politik weniger zu einem Tauziehen zwischen zwei ähnlich starken Lagern, wie es in den USA der Fall ist. Dennoch haben die Begriffe „Rechts“ und „Links“ weitgehend eine ähnliche Bedeutung. Betrachtet man jedoch die Ergebnisse der letzten polnischen Parlamentswahlen 2019 in diesem Schema, ergibt sich ein völlig anderes Bild.

(© bpb, Jarosław Flis)

Verortung polnischer Parteien

Fünf Parteien sind in den Sejm eingezogen, das sind mehr als in den USA, aber weniger als in Deutschland. Zieht man eine „Linie“ zwischen der derzeitigen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), und der ideologischen Position der vorherigen Regierung der „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska, PO) und der „Polnischen Volkspartei“ (Polskie Stronnictwo Ludowe, PSL), so verläuft diese Linie fast genau senkrecht zur Richtung des Tauziehens in den USA, d.h. der traditionellen Links-Rechts-Spaltung.

Natürlich gibt es auch in Polen Parteien, die in die traditionelle Einteilung passen. Allerdings bilden sie eindeutig schwächere Kräfte und sind weit von der Hauptachse der Rivalität entfernt. Die traditionelle marktkonservative „Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit“ (Konfederacja Wolność i Niepodległość, KON) trat bei diesen Wahlen zum ersten Mal im polnischen Parlament auf. Auch der „Bund der Demokratischen Linken“ (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD), die sich in ihrem Namen auf die Linke beruft, war zuvor an keiner polnischen Regierung beteiligt – sie war 18 Jahre lang in der Opposition vertreten.

Diese neue Achse der Spaltung kann als die „Top-Down“-Spaltung bezeichnet werden, nicht nur wegen der grafischen Darstellung. Vor allem spiegelt sie eindeutig eine vertikale Differenzierung der Gesellschaft wieder. Der wohlhabendere und besser ausgebildete Bevölkerungsteil neigt zu den Ansichten des „Tops“ – also zum Individualismus in wirtschaftlichen und moralischen Fragen. Der ärmere Bevölkerungsteil setzt in beiden Bereichen seine Hoffnungen auf die Gemeinschaft.

Eine solche Spaltung beginnt sich in vielen europäischen Ländern herauszubilden, aber nirgendwo hat sie das politische Leben so sehr bestimmt wie in Polen. Es ist ein entscheidender Vorteil für die PiS-Partei, dass die von ihr vertretenen Positionen, also das Festhalten an Traditionen und kollektiven Identitäten sowie soziale Leistungen für die Ärmeren, von einem deutlich größeren Anteil der Polen geteilt werden – als die alternativen „Tops“ und gängige ideologische Pakete der Linken und Rechten.

Sitzverteilung nach d‘Hondt

Ein weiterer wichtiger politischer Faktor ist aus der Grafik abzulesen. Die Kreise, die die Stärke der polnischen Parteien zeigen, sind aufgeteilt: der schwarze Rand zeigt den Anteil der Wähler:innenstimmen, während der bunte Kreis den gewonnenen Sitzen entspricht. Der Unterschied zwischen den Kreisen ist auf das d’Hondt-Verfahren zurückzuführen, nach dem im polnischen Wahlsystem die Sitze verteilt werden. Dadurch können größere Parteien mehr Sitze erhalten, als die Anzahl der für sie abgegebenen Stimmen es voraussetzen würde, was wiederrum zu Lasten der kleineren Parteien geht.

Dies ist jedoch nicht mit den USA vergleichbar, wo es für kleine Parteien überhaupt keinen Platz auf der politischen Bühne gibt – oder mit dem britischen System, in dem kleinere Parteien praktisch nur am Rande existieren. Das polnische System ermutigt dagegen den Zusammenschluss von Parteien zu Wahlbündnissen und verschafft ihnen einen Vorteil, wenn es ihnen gelingt, in einer Situation vereint zu bleiben, in der ihre Gegner:innen gespalten sind.

Wahlbündnis der Opposition

Solche Vorteile konnte die Bürgerplattform bei den Wahlen 2007 und 2011 verzeichnen, während bei den darauffolgenden Wahlen 2015 und 2019 die PiS eine absolute Mehrheit erreichte. Der Zusammenschluss von Parteien zum Wahlbündnis ist jedoch keine einfache Aufgabe, wenn diese ideologisch weit voneinander entfernt sind. Eine künstliche Vereinigung könnte zur Folge haben, dass die Stimmen einiger Wähler:innen zu anderen Parteien abwandern.

Seit mehr als einem Jahr wurde auf der Oppositionsseite über einen möglichen Zusammenschluss der Kräfte diskutiert. Dies war von besonderer Bedeutung, denn neben den im Parlament vertretenen drei Parteien (PO/KO, SLD und PSL), die bei den Senatswahlen 2019 zusammenhielten, gab es auch eine neue Gruppierung: die vom Fernsehstar Szymon Hołownia gegründet „Polska 2050“. Das Ergebnis der Diskussion war ein Zusammenschluss der letztgenannten Gruppierung, mit der PSL, die ebenfalls eine zentristische Position auf der politischen Bühne einnimmt. Aktuelle Umfragen zeigen, dass sich das Kräfteverhältnis nicht grundlegend geändert hat, wie die Grafik zeigt.

PiS vor der Wahl

Die PiS hat im Vergleich zur letzten Wahl an Unterstützung verloren, auch wenn sie in Umfragen noch immer die stärkste Partei ist. Allerdings stehen ihr bei dieser Wahl vier Gruppierungen entgegen – KO, Die Linke, Der Dritte Weg und die KON – die sich gegen eine Koalition mit der Regierungspartei ausgesprochen haben. Die ersten drei Parteien haben sich darauf geeinigt, ihre Kandidat:innen bei den Senatswahlen zu koordinieren. Die Konfederacja, die Politiker:innen mit nationalistischen und systemfeindlichen Ansichten in ihren Reihen hat, zählt nicht zu diesem Bündnis.

PiS-Politiker:innen deuten allerdings die Möglichkeit einer Koalition mit der KON an. Dies ist insofern zweifelhaft, da die KON als einzige Partei das Vorzeigeprojekt der PiS-Regierung – die Sozialleistungen – offen angreift. Sie ist außerdem sehr skeptisch gegenüber den Hilfen für die Ukraine und ukrainische Geflüchteten. Unter strategischen Gesichtspunkten liegt es im Interesse der KON, die PiS an der Macht abzulösen – und sei es nur wie im italienischen Beispiel eine überparteiliche („technische“) Regierung.

Dennoch kann das Regierungslager auf die psychologische Wirkung des ersten Platzes im Wahlkampf und die mögliche Unterstützung von Präsident Andrzej Duda zählen, dem der erste Schritt der Regierungsbildung vorbehalten bleibt. Diese Hoffnungen könnten sich jedoch vor allem deshalb als vergeblich erweisen, weil im Gegensatz zu 2019, die negativen Bewertungen der Regierung in der Öffentlichkeit überwiegen. Während in der ersten Amtszeit der PiS-Partei die Lebenszufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten deutlich anstieg (als Fortsetzung des Trends, der in den letzten Jahren der PO-PSL-Regierung begann), ging diese Zufriedenheit nach 2020 zurück. Sie ist zwar immer noch höher als vor acht Jahren, aber auch die Erwartungen der Bevölkerung sind in dieser Zeit gestiegen. Negative Bewertungen der Regierung sind auch das Ergebnis zahlreicher Machtmissbräuche, gescheiterter Vorzeigeprojekte – wie der Steuerreform – und regierungsinterner Konflikte, die in den letzten Jahren ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht haben. Infolgedessen äußern sowohl die Wähler:innen der anderen Parteien, als auch unentschlossene Wähler:innen mit überwältigender Mehrheit sehr negative Gefühle gegenüber der Regierungspartei. Die PiS könnte das gleiche Schicksal wie die schwedischen Sozialdemokraten oder die spanischen Volkspartei erleiden, die in den letzten Wahlen zwar stärkste Parteien wurden, aber keine Verbündeten für eine parlamentarische Mehrheit gefunden hatten.

Wahlverhalten und Wahlkampf

Die wichtigste Oppositionspartei, die Bürgerplattform, hat ihre Bastionen in den Städten und deutlich weniger Unterstützung in kleineren Ortschaften. Dieses Phänomen hat sich in der letzten Legislaturperiode noch verschärft. Währenddessen ist es der PiS gelungen, ländliche Wähler:innen in Gebieten anzusprechen, die früher wichtige Bastionen der Bürgerplattform waren. Sozialtransfers und eine allgemeine Verbesserung des Wohlstands haben auch Wähler:innen aktiviert, die zuvor gar nicht wählen gegangen sind. Es ist nicht klar, ob dies ein dauerhafter Gewinn für die Regierungspartei ist. Donald Tusk und insbesondere die Politiker:innen von „Der Dritten Weg“ scheinen den Ernst der Lage erkannt zu haben konzentrieren Interner Link: ihre Wahlkampfaktivitäten auf Regionen abseits großer Städte. Die Regierungspartei hingegen erweckt den Eindruck, als wolle sie den Land-Stadt-Konflikt eher anheizen als ihn zu entschärfen. Diese Strategie passt nicht zu einem wichtigen Teil ihrer Wählerschaft – die gemäßigt konservativen Unentschlossenen – die dem sozialen Konflikt besonders negativ gegenübersteht.

Auch die Angriffe auf die Opposition, insbesondere auf ihren Anführer, erzeugen nicht die Wirkung, die sich die Vertreter:innen des Regierungslagers womöglich vorgestellt haben. Möglicherweise ist die polnische Wählerschaft solchen politischen „Ringkämpfen“ gegenüber gleichgültig geworden. Denn im Wahlkampf erwecken die Anführer der beiden wichtigsten Kräfte den Anschein, dass diese Wahl über den Zusammenbruch der Nation oder der Demokratie entscheide. Die Argumentation – vor allem auf Seiten des regierenden Lagers, aber auch in einigen Teilen der Opposition – wird meist ad absurdum geführt.

Die Fieberhaftigkeit der Opposition hat ihre Berechtigung. Interner Link: Denn die Ressourcen des Staates, einschließlich der öffentlichen Medien, werden vom Regierungslager in der Wahlkampagne hemmungslos ausgenutzt. Doch trotz dieses offensichtlichen Missbrauchs, ist die Position der Opposition viel schwächer, als bei der vorherigen Parlamentswahl.

Kommunale Effekte

Ein schwer zu prognostizierender Faktor ist die Stärke der lokalen Kandidat:innen. Im polnischen Wahlsystem stellen die Parteien einen deutlichen Überschuss an Kandidat:innen auf. Selbst bei einer Partei, die die Hälfte der Stimmen erhält, kann nur einer von vier Kandidat:innen mit einem Sitz rechnen. Die überzähligen Kandidat:innen am Ende der Liste können theoretisch dank der Konzentration der Wählerstimmen mit einem Erfolg rechnen. In der Praxis sind die Chancen dafür jedoch sehr gering. Ihre Bemühungen tragen dagegen zum Erfolg der Gesamtpartei bei, da sie es sind, die durch ihre persönlichen Kontakte die weniger an der nationalen Politik beteiligten Wähler:innen überzeugen können. Auch wenn die Opposition, durch die Aufteilung in mehrere Listen, bei der Umwandlung von Stimmen in Sitze geschwächt wird, stellt sie dank dieser Aufteilung mehr Kandidat:innen als die Regierungspartei auf. Diese „Handelsvertreter:innen“ können das Endergebnis der Wahlen bestimmen.

Prognose

Vor der Wahl sind mehrere Szenarien ähnlich wahrscheinlich. Es könnte zu einer klassischen Machtverschiebung kommen, also zur Niederlage des regierenden Lagers und zur Bildung einer Regierung durch eine Oppositionskoalition aus drei Parteien – ähnlich wie bei den letzten Wahlen in Schweden. Es könnte bei der Regierungsbildung aber auch zu einer Lähmung kommen, wie man sie von mehreren Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern kennt.

In den vergangenen vier Legislaturperioden hat Polen jedoch klare Regelungen und relativ stabile Regierungen mit einer parlamentarischen Mehrheit erlebt. Auch wenn es vor jeder dieser Wahlen Zweifel daran gab, ob ein solches Szenario möglich sei. Vieles deutet darauf hin, dass die PiS nach den Wahlen nicht mehr an der Macht sein wird. Allerdings wird es wahrscheinlich kein so überwältigender Sieg der Opposition wie 2007 sein. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Ausgang der Wahlen bis zum letzten Moment offen sein wird.

Aus dem Polnischen von Karolina Golimowska

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Jarosław Flis ist Professor an der Jagiellonen-Universität in Krakau, an der Fakultät für Management und soziale Kommunikation und am Zentrum für quantitative Politikforschung. Er ist Soziologe und beschäftigt sich mit Wahlverhalten, Wahlsystemen und politischer Kommunikation.