Einleitung
In den drei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch der UdSSR machten die Beziehungen zwischen der unabhängigen Ukraine und dem unabhängigen Polen verschiedene Höhen und Tiefen durch. Zwar verweigerte Kiew seine Zustimmung, die ethnischen Säuberungen an den Polen durch ukrainische Nationalisten in Wolhynien und Ostgalizien 1943–1944 anzuerkennen, was Spannungen nach sich zog. Dennoch bezeichneten beide Seiten ihre gegenseitigen Beziehungen stets als strategisch, gründeten sie doch vor allem auf der Anerkennung der gemeinsamen Gefahr vonseiten Russlands und der Notwendigkeit, die Ukraine in die transatlantischen Institutionen zu integrieren.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 erreichten die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine zunächst ein außerordentlich hohes Niveau beiderseitiger Freundschaft, Solidarität und Unterstützung, um sich anschließend – nach knapp einem Jahr – vor allem unter dem Einfluss wirtschaftlicher Faktoren zu verschlechtern. Diese Kurskorrektur kam für beide Seiten plötzlich und war überraschend und schmerzhaft. Allerdings verdecken die Konflikte, die zwischen Polen und der Ukraine 2023 entstanden sind und sich ins erste Quartal 2024 hineinzogen, häufig die Bereiche, in denen die Zusammenarbeit fruchtbar und effektiv ist, aber ein geringeres Medienecho hervorruft. Zudem hatten die Streitthemen nicht zur Folge, dass sich die Regierungen oder die Gesellschaften der beiden Staaten voneinander abwandten, und sie signalisierten auch keine wesentliche Veränderung, was das lebhafte Interesse beider Staaten an den gemeinsamen Beziehungen betrifft. Im Interesse Polens liegt es, dass die Ukraine ein unabhängiges, demokratisches und reformiertes Mitglied der transatlantischen Gemeinschaft wird, und ohne Polen oder im Konflikt mit ihm wird die Ukraine diese Ziele – die vor allem die Ziele der ukrainischen Gesellschaft sind – nicht erreichen.
Polens rasche Militärhilfe war für die Ukraine überlebenswichtig
Auch wenn seit Beginn der russischen Aggression bald 30 Monate vergangen sein werden, gilt es daran zu erinnern, dass Polen als Erster und bedingungslos der überfallenen Ukraine Hilfe geleistet hat. Während andere Staaten über Hilfe in Form von nichttödlichen Waffen debattierten und sich auf eine rasche Niederlage der Ukraine einstellten, war das erste militärische Hilfspaket aus Polen bereits am Tag der Vollinvasion auf dem Weg in die Ukraine. Polnische T-72 Kampfpanzer kamen im März 2022 und Schützenpanzer im April in die Ukraine, was ermöglichte, die aus einberufenen Männern gebildeten neuen Einheiten der ukrainischen Armee zu bewaffnen. Die Lieferungen des polnischen selbstfahrenden gepanzerten Artilleriegeschützes Krab im Juni des Jahres, der ersten Exemplare dieses Typs NATO-Kaliber mit einer 155 mm-Haubitze, welche die Ukraine erhielt, und die der Ukraine gewährte Vorrangstellung beim Kauf neuer Exemplare dieses Geschützes erleichterten es ihr, die ersten Monate zu überstehen und im weiteren Jahresverlauf Erfolge zu erzielen.
Polen spielte auch eine Schlüsselrolle in der Diskussion über die Lieferung von MiG-29-Kampfjets an die Ukraine und übergab sie als Erster zusammen mit der Slowakei im März 2023. Außerdem mobilisierte Polen die ukrainischen Partner eine Koalition zu bilden, um der Ukraine Leopard 2A4-Kampfpanzer zu liefern. Vielfach in sozialen Medien geteilte Videos über die Effektivität der polnischen Ausrüstung – z. B. des Sturmgewehrs Grot, von Mehrfachraketenwerfern oder der Panzerhaubitze Goździk – riefen in der Ukraine kein geringeres Echo hervor als die Erfolge der gefeierten türkischen Kampfdrohne Bayraktar. Polen hat der Ukraine Know-how zur Verfügung gestellt, wie sowjetische Ausrüstung mit westlicher kombiniert werden kann, indem z. B. die amerikanische Luft–Boden-Rakete HARM auf MiG-29-Kampfjets installiert wird, und wurde Hauptlieferant für Kraftstoff, dessen Bedeutung sowohl für den militärischen als auch den zivilen Bedarf in Kriegszeiten kaum zu überschätzen ist. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges hat Polen 44 militärische Hilfspakete für Kiew beschlossen. Nach offiziellen Informationen des polnischen Außenministeriums betrug der Gesamtwert der Unterstützung durch die polnische Regierung in den ersten beiden Kriegsjahren ca. 4,5 Milliarden US-Dollar – ohne die Ausgaben für die Flüchtlingshilfe, die mehrere Milliarden US-Dollar umfasste.
Warschaus Unterstützung stärkt positives Image Polens in der Ukraine
Die beispiellose Unterstützung für die Ukraine zeigte sich auch in der Öffnung der Grenze und Aufnahme von Millionen Flüchtlingen, von denen bis heute ca. eine Million offiziell in Polen registriert sind. Es geht aber nicht nur um Zahlen – die Offenheit, Solidarität und Gastfreundlichkeit der Pol:innen gegenüber den ukrainischen Gästen wird langfristig in Erinnerung bleiben und auch die Konflikte auf hoher politischer Ebene werden dies nicht schmälern. Hier wurde ein moralisches Musterbeispiel aufgestellt, das auch für andere Länder Europas in Bezug auf die Opfer der russischen Aggression gelten sollte. Das polnische Sondergesetz vom März 2022, das die Bürger:innen der Ukrainede iure mit den polnischen Staatsbürger:innen gleichstellt, war eine reale Hilfe für die Millionen Flüchtlinge, darunter auch Kinder, die kostenfreien Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem erhielten. In den letzten zwei Jahren wurde Polen der wichtigste Geber im Bereich humanitärer Hilfe für die Ukraine. Insgesamt gaben die polnischen Ministerien 16 Milliarden Euro für umfassende Hilfsleistungen für die Ukraine und die ukrainischen Kriegsflüchtlinge aus.
Polen spielte bereits vor dem 24. Februar 2022 eine Schlüsselrolle, als es Frankreich und Deutschland überzeugte, dass ein Kompromiss mit Russland über die Ukraine hinweg nicht nur unmöglich, sondern schlichtweg schädlich wäre. Außerdem leistete es logistische Hilfe bei den ersten Gesprächen der ukrainischen Delegation mit Russland in Belarus und in der Türkei (März 2022) über eine Beendigung des Krieges. Diese blieben nicht deshalb erfolglos, weil die Ukraine sie abgebrochen hat, sondern weil Putin (bis heute) nicht bereit ist, einen realistischen und ehrlichen Kompromiss einzugehen, und die Kapitulation der Ukraine anstrebt.
In der Folge erreichte das positive Image Polens in der Ukraine seinen Höhepunkt. Dieser Zustand hielt viele Monate an. Noch im Mai 2023 gaben in einer Umfrage fast 95 Prozent der Befragten eine positive oder sehr positive Einstellung gegenüber Polen an. Im Dezember 2022 hatte der polnische Präsident Andrzej Duda in der Ukraine den höchsten Vertrauenswert im Vergleich zu anderen Staatsführer:innen erhalten. Dies bestätigten auch die beiderseitigen Beziehungen auf höchster politischer Ebene, der freundschaftliche, persönliche Kontakt zwischen den Präsidenten Andrzej Duda und Wolodymyr Selenskyj sowie die direkten Kontakte – Pol:innen wurden in der Ukraine geradezu bevorzugt, wollten sich die Ukrainer:innen doch, wo es nur möglich war, für die geleistete Hilfe bedanken. Es entstand die Idee, einen umfassenden bilateralen Vertrag nach dem Muster des Elysée-Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich zu unterzeichnen, der den außerordentlichen Charakter der Beziehungen zwischen Warschau und Kiew rechtlich festhalten sollte. Dazu kam es allerdings nicht.
Von ersten Rissen…
Die Liste der Gesten und Aktivitäten auf polnischer Seite und der Zeichen der Dankbarkeit auf ukrainischer Seite ließe sich lang fortschreiben. Allerdings ebbt jede Mobilisierung irgendwann ab, und je größer die Opferbereitschaft ist, desto kürzer lässt sie sich aufrechterhalten. Die polnischen Streitkräfte wurden, was ihre an die Ukraine abgegebene Ausrüstung betrifft, in großem Maße ausgetrocknet und die in den USA und Südkorea neu bestellten Rüstungsgüter sind noch nicht in Polen eingetroffen. Der öffentliche Haushalt begann die an die Ukraine vergebenen bzw. für die ukrainischen Geflüchteten eingesetzten Mittel zu spüren, und hinzu kam die rasch voranschreitende Inflation. Negative wirtschaftliche Folgen ergaben sich auch aus wichtigen Entscheidungen der Europäischen Union vom Juni 2022, als alle Handelsbeschränkungen mit der Ukraine aufgehoben wurden und angesichts der russischen Blockade ukrainischer Seehäfen am Schwarzen Meer der beiderseitige Güterverkehr auf der Straße liberalisiert wurde. Entscheidungen, für die man in Friedenszeiten den mühsamen Verhandlungsweg eingeschlagen und sicherlich mehrere Jahre gebraucht hätte, was den Marktteilnehmer:innen die notwendige Zeit zur Anpassung gegeben hätte, wurden nun sehr schnell getroffen und von Warschau mit Blick auf die Notwendigkeit des Augenblicks unterstützt. In den folgenden Monaten kehrten sie allerdings als Bumerang zurück. Hinzu kamen in Polen richtungsweisende Wahlen: die Parlamentswahlen im Oktober 2023 und die Kommunalwahlen im April 2024.
Bereits Ende 2022 begannen sich erste ernstzunehmende Risse in den polnisch-ukrainischen Beziehungen zu zeigen. Im November ging im ostpolnischen Przewodów eine Rakete nieder, die zwei polnische Staatsbürger tötete. Kiew versuchte Warschau zu überzeugen, dass es sich um eine russische Rakete handele und Polen diesen Angriff nicht unbeantwortet lassen solle. Obwohl die Daten mehrheitlich zeigten, dass es eine ukrainische Rakete war, reagierte Kiew abweisend und versuchte, Warschau, und somit die NATO, stärker in den Krieg einzubinden. Es fielen keine Worte des Bedauerns angesichts des Todes der beiden Polen, was einen bitteren Nachgeschmack hinterließ. Im April 2023 kam Präsident Selenskyj schließlich zu einem offiziellen Besuch nach Polen, nachdem er bisher nur auf der Durchreise in Polen gewesen war, wenn er den Flughafen im grenznahen polnischen Rzeszów zum Umsteigen genutzt hatte.
Ende 2022 war Polen sowohl im Import als auch im Export der größte Handelspartner der Ukraine, ein Logistikknotenpunkt mit Schlüsselbedeutung sowie der größte Kraftstofflieferant. Jedoch führten die Hauptakteure schon zu dieser Zeit schwierige Gespräche über Themen, die bald darauf die Atmosphäre zu zerstören begannen. Das schwierigste war der wachsende Zufluss des preislich konkurrierenden ukrainischen Getreides nach Polen, nachdem Russland die sog. Schwarzmeer-Getreide-Initiative blockierte. Bei dem "Getreideabkommen" handelte es sich um einen sicheren Seekorridor im Schwarzen Meer zwischen den Häfen im Raum Odessa und dem Bosporus, der dank einer von der Türkei und den UN ausgehandelten Vereinbarung zustande kam. Auf diesem Wege konnte die Ukraine von August 2022 bis Juli 2023 Lebensmittel und Getreide exportieren. Der Seekorridor hatte absolute Schlüsselbedeutung, zumal die Ukraine noch vor der russischen Invasion fast 90 Prozent ihrer Ernährungs- und Agrarproduktion auf dem Seeweg exportiert hatte. Die preisgünstigen ukrainischen Produkte, die seit Beginn der Vollinvasion zunehmend den Landweg per Schiene und Straße nahmen, überschwemmten den polnischen Markt sowie auch die Märkte in Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Bulgarien. Von 29,5 Millionen Tonnen ukrainischen Mais, Weizens, Raps und Sonnenblumenöls, welche die Ukraine zwischen Februar 2022 und Mai 2023 in die Europäische Union exportierte, gelangten 38,2 Prozent (11,3 Millionen Tonnen) in die genannten Länder und davon 13,3 Prozent nach Polen (3,9 Mio. Tonnen). Da der Transport auf dem Landweg (Schiene und Straße) deutlich teurer ist als auf dem Seeweg, war es für die ukrainischen Exporteur:innen am rentabelsten, ihre Produkte auf dem nächstgelegenen Markt zu verkaufen.
… bis zu Grenzblockaden
Das verursachte Verzerrungen und Verluste vor allem bei den lokalen Produzenten in den grenznahen Regionen. Im Ergebnis verhängte die Europäische Kommission im Mai 2023 ein Embargo über den Import (aber nicht den Transit!) der vier Produkte in die Europäische Union, das Polen und die anderen vier Länder im September einseitig verlängerten. Der Zeitpunkt war nicht optimal – Russland hatte sich im Juli aus der Getreide-Initiative zurückgezogen und im Oktober standen Parlamentswahlen in Polen an –, aber die Probleme der polnischen Bauernschaft waren nun einmal real. Sie stießen jedoch in Kiew auf Unverständnis und trafen auf Reaktionen, die den polnischen Enthusiasmus der Ukraine gegenüber deutlich abkühlten. Ministerpräsident Denys Schmyhal und Präsident Selenskyj schienen nicht zu wissen, dass Polen der Ukraine weiterhin den Transit der mit Embargo belegten Produkte ermöglicht. Selenskyjs Rede vor den Vereinten Nationen im September 2023, in der er im Zusammenhang mit dem Embargo suggerierte, dass Polen Russland gegen die Ukraine unterstützen würde – ein Vorwurf so absurd wie schlicht ungerecht und realitätsfremd –, rief in Polen große Bitterkeit und im Westen mindestens Unverständnis hervor.
Obwohl infolge des Embargos kein Getreide aus der Ukraine mehr nach Polen kam, es sei denn auf dem Transitweg in die Häfen und weiter nach Westen, begannen polnische LKW-Fahrer:innen im November 2023, polnische-ukrainische Grenzübergänge zu blockieren. Der Protest wurde am 16. Januar 2024 ausgesetzt, rief aber ein großes Echo in der Ukraine hervor, wo die Medien Polen beschuldigten, einen Handelskrieg gegen die Ukraine zu führen, den ukrainischen Logistikmarkt zerstören zu wollen und sogar den EU-Beitrittsprozess der Ukraine zu blockieren. Die polnischen Protestierenden wiederum beklagten sich über die ungleiche Konkurrenz vonseiten der ukrainischen Transporteur:innen, die infolge der Liberalisierung des Transports entstanden war – dieser unterlag nicht den strengen Anforderungen des EU-Mobilitätspakets und nahm den polnischen Kolleg:innen sowohl in der Ukraine als auch in Polen die Arbeit weg. Bald schlossen sich den LKW-Fahrer:innen die Bauern und Bäuerinnen an, die gegen den europäischen Green Deal und den Import aus der Ukraine protestierten. Die Blockade der Zufahrtstraßen zu den Grenzübergängen in die Ukraine hatte zum Ziel, der polnischen Regierung einen deutlichen Schlag zu versetzen und sie mit einem möglichen Imageverlust sowohl in der Ukraine als auch in der EU zu erpressen. Die Bauern und Bäuerinnen sind eine zahlenstarke und deutlich vernehmbare Interessengruppe in Polen (aus Bauernprotesten sind in Polen bereits mehrere politische Parteien hervorgegangen). Die Blockade der Grenzübergänge war politisch stark aufgeladen und wurde teilweise sehr wahrscheinlich auch von Russland unterstützt. Der Höhepunkt der negativen Emotionen waren einzelne Vorfälle, dass ukrainisches Getreide, das auf verminten und unter Beschuss stehenden Feldern geerntet worden war, von den Lastwagen am Grenzübergang im polnischen Dorohusk auf die Abstellgleise gekippt wurde.
Die Blockade war der stärkste Schlag für die Reputation Polens in der Ukraine. Kiew warf Warschau vor, dass es nicht entschlossen handele und Angst habe, vor den bevorstehenden Kommunalwahlen im April 2024 schwach zu wirken. Die Blockade zerstörte das positive Image Polens, das es sich nach der russischen Invasion in die Ukraine aufgebaut hatte. Im März gaben nur noch 58,4 Prozent der Ukrainer:innen an, eine positive oder sehr positive Einstellung Polen gegenüber zu haben – weniger als beispielsweise gegenüber Deutschland, Rumänien, der Slowakei oder der Türkei. Die Blockade ukrainischer Grenzübergänge wurde als wichtigeres Ereignis wahrgenommen als das Zurückhalten finanzieller Hilfe in den USA oder die ungarische Blockade des Integrationsprozesses der Ukraine in die EU. Dabei muss allerdings unterstrichen werden, dass die polnischen Protestierenden humanitäre und militärische Transporte in die Ukraine nicht in großem Stil aufgehalten haben, es handelte sich um Einzelfälle und nicht um einen systematischen Plan der polnischen Bauernschaft. Diese weiß sehr gut, dass ihre Sicherheit und ihr Wohlstand vom effektiven Widerstand der Ukraine gegen Russland abhängen. Russland wiederum wurde in diesem Themenbereich aktiv, indem es Desinformation verbreitete, um Polen und die Ukraine weiter zu spalten, denn Moskau weiß, dass ein polnisch-ukrainischer Konflikt ein wichtiger Schlüssel zum eigenen Erfolg ist.
Sind die Wogen wieder geglättet?
Nach den polnischen Kommunalwahlen und der Unterzeichnung eines neuen Handelsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine, das einen Teil der polnischen Forderungen berücksichtigt, wurden die Blockaden Anfang Mai 2024 schließlich beendet. Der Wahlkampf war vorbei (die Wahlen zum Europäischen Parlament Anfang Juni fanden keinen so großen Widerhall in der Gesellschaft) und auch der Druck der Regierung auf die Protestierenden sowie die ausgehandelten Änderungen in der Verordnung zur Liberalisierung des Handels zwischen der EU und der Ukraine ab Juni 2024 erwiesen sich als wirksam. Dies schuf eine Grundlage für die Normalisierung der polnisch-ukrainischen Beziehungen.
Gleichzeitig ist es wichtig, die Bedeutung der Konflikte um das Getreide und die LKW-Fahrer:innen sowie die Bedeutung der Grenzblockaden für die polnisch-ukrainischen Beziehungen nicht zu überschätzen. Handelskonflikte gehören, so wie auch Konflikte im Bereich der Erinnerung und des Gedenkens, zu den Beziehungen unter Nachbarländern, ähnlich wie ökonomischer Wettbewerbper definitionem zum freien Markt und internationalen Handel gehört. Es lässt sich nicht leugnen, dass der Krieg einen zusätzlichen Kontext bietet und die ums Überleben kämpfende und Europa vor einer Ausweitung des Krieges verteidigende Ukraine einer besonderen Behandlung und außerordentlicher Unterstützung bedarf. Allerdings sollten sich Engagement und Verzicht gleichmäßig auf die westlichen Partner der Ukraine verteilen und die Last nicht hauptsächlich von den Nachbarstaaten der Ukraine getragen werden. Es ist leicht, Warschau eine angebliche Abkehr von der Ukraine vorzuwerfen, denn es sind nicht die Regierungen in Berlin und anderen Hauptstädten, die unter dem Druck wirtschaftlicher Verluste für konkrete Interessengruppen und sich verschlechternder gesellschaftlicher Einstellungen gegenüber der Ukraine und den Ukrainer:innen stehen.
Es sei auch daran erinnert, dass Polen trotz Handelsstreitigkeiten seine Unterstützung für die vollständige Mitgliedschaft der Ukraine in der EU (und der NATO) nicht zurückzieht, denn es erkennt an, dass nur dieser Weg zu einem nachhaltigen Frieden nach Beendigung des Krieges führen kann. Die zutage tretende Konkurrenz und zukünftige Konflikte in diesem Bereich werden als Angelegenheit, die angesprochen werden muss, betrachtet angesichts der offenkundigen Vorteile, die eine reformierte, demokratische und vor allem souveräne Ukraine nach Beendigung des Beitrittsprozesses bietet. Der Beitrittsprozess wird lang sein und unvermeidliche Konflikte mit sich bringen, aber letztendlich haben Polen und die Ukraine ein gemeinsames Ziel.
Ein wichtiger Punkt, der aber in den laufenden Konflikten schnell übergangen wird, ist, dass Polen Kiew in der wichtigsten Angelegenheit, der Verteidigung der Ukraine gegen Russland, konsequent unterstützt. In diesem Bereich hat sich nichts geändert. Kiew weiß das gut, und hält es allzu oft für selbstverständlich, denn es meint, dass Polen auf die Ukraine angewiesen ist. Die Parole "es gibt kein freies Polen ohne eine freie Ukraine" ist eine Beschwörungsformel, die es erlaubt, sich nicht um die Beziehungen zu Warschau zu kümmern. Das Schlagwort ist aber nicht die ganze Wahrheit – schließlich ist Polen in der NATO und unterhält strategische Beziehungen zu den USA, was in der Welt von heute die allergrößte Sicherheitsgarantie ist.
Fazit
Die Hauptgemeinsamkeiten von Polen und der Ukraine gründen also vor allem auf den gleichen Sicherheitsinteressen. Das wichtigste Interesse ist der Sieg über Russland, damit es in Zukunft keine Gefahr mehr darstellt. Allerdings erklärt Kiew, dass Polen, indem es seinem Nachbarn hilft, vor allem für seine eigene Sicherheit sorge. Das ist ein Faktor, der die Offenheit für die Umsetzung der Forderungen Warschaus in anderen Bereichen der bilateralen Beziehungen einschränkt, beispielsweise bei historischen Fragen. Die Ukraine ist immer noch nicht bereit, ihre Zustimmung zu polnischen Suchaktionen und Exhumierungen der polnischen Opfer aus der Zeit des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920 sowie der ethnischen Säuberungen an Polen durch ukrainische Nationalist:innen in Wolhynien und Ostgalizien in den Jahren 1943 und 1944 zu geben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den letzten, vom Krieg gekennzeichneten, Jahren die Unstimmigkeiten in den polnisch-ukrainischen Beziehungen auf unterschiedliche Bewertungen wirtschaftlicher Fragen zurückzuführen sind. In Kiew werden sie als Konflikte vor einem politischen, nicht einem wirtschaftlichen Hintergrund behandelt. Von der gegen Russland kämpfenden Ukraine werden die Aktivitäten vonseiten Polens, die sich negativ auf die ukrainische Wirtschaft auswirken können, als Schwächung ihres Verteidigungspotenzials betrachtet – sie gelten also als unberechtigt und unmoralisch und seien letztendlich von Vorteil für den Kreml. Die Regierung in Kiew sowie die ukrainischen Medien berücksichtigen in diesem Zusammenhang nicht die negativen Auswirkungen der ukrainischen Konkurrenz auf die wirtschaftliche Situation in Polen und suggerieren, dass die wirtschaftliche Lage keine Bedeutung haben sollte angesichts der Tatsache, dass die Ukraine auch für die Sicherheit Polens kämpft.
Einer Veränderung oder Abmilderung der kritischen oder sogar kühlen Haltung gegenüber Warschau steht auch entgegen, dass Polen zurzeit nicht über mit den USA oder Deutschland vergleichbare militärische oder finanzielle Hilfe verfügt bzw. sie nicht anbietet. Insofern zahlt Polen gewissermaßen für seine Opferbereitschaft im ersten Kriegsjahr. Deutschland aber gewinnt, obgleich es damals keine Waffen liefern wollte und nur unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung seine Politik geändert hat.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Lesetipp
Dieser Text ist auch in den Ukraine-Analysen Nr. 301 erschienen neben einer Analyse der ukrainisch-slowakischen Beziehungen (Jurij Pantschenko). Externer Link: https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/301/.