Zusammenfassung
Polens Linke hatte es in den vergangenen Jahren schwer. Nach der Ablösung der von der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej - SLD), der Nachfolgepartei der polnischen Kommunisten, geführten Regierung von Marek Belka waren Polens Linke jahrelang fast in der Bedeutungslosigkeit versunken. Der an Korruptionsaffären und internen Streitigkeiten fast zerbrochenen Partei, von der sich ein Erneuerungsflügel um Marek Borowski im Jahr 2004 abspaltete und mit Mitgliedern der Arbeitsunion (Unia Pracy - UP) die Polnische Sozialdemokratie (Socjaldemokracja Polska - SdPl) gründete, ohne bei Wahlen nennenswerte Erfolge erzielen zu können, gelang es erst im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen im Juni 2010 mit ihrem Kandidaten und Parteivorsitzenden Grzegorz Napieralski, der überraschend 13,7% der Stimmen erzielte, wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Allerdings schien dieser Wahlerfolg eher durch die Wahlentscheidung solcher Menschen verursacht worden zu sein, die sich vom verbreiteten Pathos und den religiösen Gefühlen in Teilen der Bevölkerung nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk nicht mehr repräsentiert sahen. Das klare Bekenntnis von Napieralski zum säkularen Staat schien hier genau zu passen. Ohne die Erschließung neuer, alternativer, städtischer und (post)moderner Milieus erscheint es aber zweifelhaft, ob der SLD der turn around zu einer modernen sozialdemokratischen Partei gelingt, die attraktiv für die gesellschaftliche Mitte und städtische Milieus ist und auch Antworten auf die wichtigen Fragen des Landes wie z. B. die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und die Energiesicherheit zu geben vermag.
Polens Linke - lange Zeit ein Trauerspiel
Die wichtigste Partei der politischen Linken in Polen ist seit Entstehen der III. Polnischen Republik die SLD. Zunächst ging sie als Sozialdemokratie der Republik Polen (Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej - SdRP) im Januar 1990 aus der kommunistischen Partei Polens hervor, die seit 1948 unter der Bezeichnung Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza - PZPR) regierte, um gemeinsam mit anderen Parteien, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Organisationen im Jahr 1990 die Demokratische Linksallianz zu gründen. Im Jahr 1999 wurde dieses Bündnis von etwa 30 Parteien und Gruppierungen in eine einheitliche Partei unter der gleichen Bezeichnung, SLD, umgewandelt, die vor allem von den Spitzenpolitikern der SdRP dominiert wurde, die gleichzeitig ihre Auflösung bekannt gab.
Weitere Parteien mit sozialistischem bzw. sozialdemokratischem Profil laut eigener Deklaration sind die Polnische Sozialdemokratie, die 2004 als Abspaltung der SLD entstand, und die Polnische Sozialistische Partei (Polska Partia Socjalistyczna - PPS), die bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründet worden war, zur Zeit der Volksrepublik Polen verboten war, da sich Teile der Partei der Zwangsvereinigung mit der polnischen kommunistischen Partei, die den Namen Polnische Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza - PPR) trug, zur PZPR im Jahr 1948 verweigert hatten, und die im November 1987 noch im Untergrund neu gegründet wurde. Zu nennen sind auch die Arbeitsunion, die erste Partei aus dem Milieu der Gewerkschaft Solidarnosc, die sich für ehemalige Mitglieder der PZPR öffnete, die Union der Linken (Unia Lewicy - UL), die im Dezember 2004 als Koalition linker Parteien gegründet wurde, und der Zusammenschluss Linke und Demokraten (Lewica i Demokraci - LiD), der im Herbst 2006 von den Parteien SLD, SdPl, der PD (Partia Demokratyczna - Demokratische Partei), die aus der Freiheitsunion (Unia Wolnosci - UW), einer Post-Solidarnosc-Gruppierung um Intellektuelle wie Tadeusz Mazowiecki oder Bronislaw Geremek hervorgegangen war, und der UP gegründet wurde. Bereits im Frühjahr 2008 hörte der Zusammenschluss LiD formal auf zu existieren, nachdem die SLD die Zusammenarbeit mit der PD beendet hatte.
Schließlich können als linke Parteien noch die im Jahr 2007 entstandene Frauenpartei (Partia Kobiet), die im Februar 2004 gegründeten Grünen (Zieloni 2004) sowie die gleichfalls im Februar 2004 wenige Tage früher registrierte Partei der Grünen der Republik (Partia Zielonych Rzeczypospolitej) angeführt werden. Während sich die erstgenannte grüne Partei als ökologisch, pazifistisch und feministisch versteht, sieht sich die andere grüne Partei als eher rein ökologische und basisdemokratische Partei, die nur bedingt zu den neuen sozialen Bewegungen zu rechnen ist.
Alle diese genannten Parteien und Zusammenschlüsse liegen heute nach Umfragen des angesehenen Meinungsforschungsinstituts CBOS mit Ausnahme der SLD in Umfragen bei 1% (Frauenpartei) oder sogar darunter, so dass sie nahezu ohne Bedeutung sind. Die SLD kommt in diesen Umfragen auf 16%, der höchste Wert seit Februar 2004. Damals befand sich die SLD in einer tiefen Krise. Zwar stand sie noch der Regierung vor - 2001 war mit 41% der Stimmen ein erdrutschartiger Wahlsieg in den Parlamentswahlen errungen worden -, aber Ministerpräsident Leszek Miller war in der Bevölkerung und auch in der eigenen Partei zunehmend unpopulär, führte seit 2003 nur noch eine Minderheitsregierung und trat nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Mai 2004 zurück. Der parteilose Nachfolger und angesehene Wirtschaftsprofessor Marek Belka, der bis zu den regulären Neuwahlen im Herbst 2005 die Regierung als Ministerpräsident führen sollte, konnte aber den Niedergang der SLD ebenso wenig aufhalten wie der nach parteiinternen Querelen im Frühjahr 2005 gewählte, damals mit 31 Jahren sehr junge neue Vorsitzende Wojciech Olejniczak. Die SLD wurde in der Bevölkerung vor allem mit Korruption und zahlreichen Affären assoziiert und musste zwischenzeitlich gar um den Wiedereinzug ins Parlament fürchten. Zwar gelang dieser mit 11,3% bei den Parlamentswahlen im Jahr 2005, aber zugleich war es das schlechteste Ergebnis seit der Parteigründung und auch in den darauf folgenden vorgezogenen Parlamentswahlen von 2007 gelang mit 13,15% keine wirkliche Erholung.
Damit hatte die SLD ihr in den 1990er Jahren aufgebautes politisches Kapitel in kurzer Zeit auf dramatische Weise verspielt, nachdem lange Zeit aufeinander folgende Wahlen neue Erfolge gebracht hatten. Zwar war die erste Regierungsbeteiligung von 1993 bis 1997 auf eine Wahlperiode beschränkt, aber dennoch nahm der prozentuale Stimmenanteil sowohl 1997 wie auch 2001, als die nächste Regierung von der SLD gestellt wurde, zu. Zudem stellte sie mit Aleksander Kwasniewski, dem Vorsitzenden der SdRP bis 1995, über zwei Amtszeiten von 1995 bis 2005 einen in der Bevölkerung äußerst beliebten Präsidenten. Wie ist dann dieser in seinen Ausmaßen dramatische Niedergang zu erklären?
Die SLD hatte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Volksrepublik Polen lange Zeit ein doppeltes Handicap zu bewältigen. Erstens wurde die Partei in der politischen Auseinandersetzung stets verkürzt als postkommunistische Partei bezeichnet. Im Gegensatz zu den tschechischen Sozialdemokraten ist die SLD in der Tat eine Nachfolgepartei - der PZPR. Diese Bezeichnung war zwar von der Genese her korrekt, programmatisch jedoch nahezu von Beginn der Transformation an fraglich. Schließlich stützte die Partei den demokratischen Wandel, die Privatisierung und die marktwirtschaftlichen Reformen und auch die Mitgliedschaft in NATO und EU. Habituell schien die Bezeichnung postkommunistisch allerdings lange Zeit zutreffend zu sein, wohl bis zur Wahl von Olejniczak zum Parteivorsitzenden im Jahr 2005. Bis dato bestimmten mächtige Provinzfürsten, die sogenannten Barone, die Geschicke der Partei und betrieben Politik vor allem hinter den Kulissen auf der Basis alter Netzwerke aus kommunistischer Zeit. Die Sicherung von Einfluss in Politik, Medien und Wirtschaft schien an erster Stelle zu stehen und nicht Good Governance oder gar konzeptionelle Überlegungen über eine neue Partei. Zweitens hat es die SLD aufgrund leichter Wahlerfolge, die durch die Zerstrittenheit der post-Solidarnosc-Parteien, die sozialen Härten der Transformation und eine verbreitete paternalistische Einstellung in der Bevölkerung möglich wurden, versäumt, sich programmatisch neu aufzustellen, neue Wählerschichten vor allem im städtischen Milieu zu erschließen und auch die kommunistische Unrechtsherrschaft entschieden aufzuarbeiten.
Die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen vom Juni 2010, nach dem Tod des amtierenden Präsidenten Lech Kaczynski beim Flugzeugabsturz bei Smolensk, stellten für die Partei aber einen Neuanfang dar, der sich in einem unerwartet guten Ergebnis in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen niederschlug.
Auf zu neuen Ufern: Die Präsidentschaftswahlen und ihre Folgen
Spitzenkandidat der SLD in den Präsidentschaftswahlen des letzten Jahres war der Parteivorsitzende Grzegorz Napieralski, der im Mai 2008 überraschend in einer Kampfabstimmung den damaligen glücklosen Vorsitzenden Wojciech Olejniczak abgelöst hatte, ohne dass dies in den Umfragen nennenswerte Zuwächse hervorgerufen hätte. Das gute Abschneiden von Napieralski in den Präsidentschaftswahlen war denn auch nahezu unerwartet, zumal er sehr kurzfristig den eigentlich vorgesehenen Spitzenkandidaten Jerzy Szmajdzinski ersetzen musste, der gleichfalls bei der Katastrophe von Smolensk ums Leben gekommen war. In den Umfragen wurde Napieralski zwar sehr bald als dritter Kandidat eingestuft, allerdings im Mai noch mit einem geschätzten Ergebnis von 5%, im Juni dann von 10%. Und auch die SLD lag in der Sonntagsfrage im Juni 2010 mit 8% doch noch beträchtlich hinter dem Wahlergebnis von Napieralski mit 13,7%.
Was sind die Gründe für diese Entwicklung, die die SLD inzwischen sogar bei 16% in neuesten Umfragen landen lässt und Napieralski Spitzenwerte bei Befragungen hinsichtlich des Politikervertrauens sichert? Offensichtlich hat es Grzegorz Napieralski geschafft, einen geschickten Wahlkampf zu führen und die richtigen Themen anzusprechen, die ihn deutlich von den Kandidaten Bronislaw Komorowski von der konservativ-liberalen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska - PO) und Jaroslaw Kaczynski von der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwosc - PiS) unterschieden. Dabei hatten prominente Vertreter der Linken wie der ehemalige Ministerpräsident Wlodzimierz Cimoszewicz, um deren Kandidatur die SLD sich lange bemüht hatte, oder Marek Borowski von der SdPL und Tomasz Nalecz, gleichfalls SdPL, der heute politischer Berater des Präsidenten Komorowski für Geschichte und nationales Erbe ist, von einer Kandidatur abgeraten, Cimoszewicz Napieralski gar bescheinigt, noch kein reifer Politiker zu sein. Napieralski verband im Wahlkampf jedoch erfolgreich soziale Fragen wie z. B. Arbeitnehmerrechte mit Aspekten des Bildungssystems und mit weltanschaulichen Zuspitzungen. Gerade im letzten Punkt und weniger in einem guten Wahlkampf oder in der doch recht blassen Persönlichkeit von Napieralski, der weder über das öffentliche Auftreten eines Aleksander Kwasniewski noch über den Machtinstinkt eines Leszek Miller verfügt, ist der eigentliche Grund für den Wahlerfolg der SLD zu suchen.
Die seit dem Jahr 2005 andauernde und sich ab und an verschärfende Auseinandersetzung zwischen der konservativ-liberalen PO und der national-konservativen PiS lässt den Wählern zu wenig Alternativen. Soziale Forderungen, die von PiS regelmäßig in der Vergangenheit formuliert wurden - erinnert sei nur an den griffigen Wahlkampfslogan von PiS aus dem Jahr 2005 »Solidarisches Polen vs. liberales Polen« (Polska solidarna vs. Polska liberalna) -, sind nicht im Stande, die national-religiöse und häufig aggressive Ansprache zu überdecken, die auf Wähler der Mitte und die junge städtische Mittelschicht abschreckend wirkt. Für religiös indifferente Menschen mit deutlich linken sozialen und politischen Ansichten ist der Unterschied zwischen PO und PiS zudem nicht sehr groß. Während im Jahr 2007 nach zwei Jahren Regierungszeit von PiS die PO noch die einzige Alternative zu einer Herrschaft von PiS und den ihr zugeschriebenen Projekten einer radikalen moralischen Erneuerung in Form der IV. Republik zu sein schien, wirkt diese Gefahr heute nicht mehr sehr real und die Politik von Ministerpräsident Donald Tusk wird wieder stärker im Lichte eigener politischer Überzeugungen und Ansichten und letztlich auch im Lichte der Bilanz seiner Regierungszeit wahrgenommen.
Auch ist eine Ermüdung an patriotisch-religiösen Themen wahrzunehmen gewesen, die Napieralski geschickt ausnutzte. Zwar wurde die Trauer nach der Katastrophe von Smolensk landesweit und alle Schichten und Milieus übergreifend empfunden, aber die offensichtliche Instrumentalisierung der Katastrophe zu politischen Zwecken und das deutliche Engagement von hohen Kirchenvertretern z. B. für die Beisetzung des Präsidentenpaares Lech und Maria Kaczynski auf dem Wawel in Krakau, trotz verbreiteter Bedenken, schürte Ängste vor einer Vermischung von weltlichen und religiösen Angelegenheiten.
Allerdings ist noch offen, ob es der SLD dauerhaft gelingen wird, neue Wählerschichten anzuziehen. Dabei hat sich Napieralski nach dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen im Juni letzten Jahres zweifellos geschickt verhalten. Zwar qualifizierte er sich mit seinem Ergebnis nicht für die Stichwahl zwischen Komorowski und Kaczynski am 4. Juli 2010, aber sein gutes Ergebnis ließ die verbliebenen Kandidaten um ihn und seine Wählerschaft intensiv werben. In dieser Situation vermied es Napieralski, eine Wahlempfehlung abzugeben. Die sozialen Programmpunkte von PiS waren der SLD wohl näher, aber die mit PiS in den Augen der SLD-Wähler verknüpfte national-religiöse Rhetorik und der strikte Antikommunismus ließen heftige Abwehrreaktionen vermuten. Eine Wahlempfehlung zugunsten einer liberalen, stark am Markt orientierten Partei wäre aber mindestens ebenso ungeschickt gewesen. Also wartete Napieralski ab und versucht seitdem vor allem seine innerparteiliche Position zu festigen.
Welches ist aber bisher die Hauptwählerschaft der SLD bei diesem überraschenden politischen comeback und mit welchen Themen versucht die Partei diese Wählergruppen und womöglich neue Wählerschichten anzusprechen?
Programmatische Neuansätze
In ihrem aktuellen Parteiprogramm formuliert die SLD klassische sozialdemokratische bzw. linke Positionen. Sie spricht sich für gleiche Bildungschancen und für eine kostenlose Gesundheitsfürsorge im Rahmen einer Pflichtversicherung aus, für Gleichberechtigung von Mann und Frau und eine Gender-Politik, für die Stärkung der Zivilgesellschaft, für den Schutz von Arbeitnehmerrechten und dergleichen mehr.
Allerdings sieht sich die SLD gegenwärtig mit dem Problem konfrontiert, dass sie einen Teil einer potentiellen linken Wählerschaft überhaupt nicht erreicht. Wie die Untersuchungen der Wahlforscher im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 zeigten, haben für Napieralski vor allem Menschen mit linken politischen Ansichten - was immer das auch heißen mag -, Menschen mit etwas mehr Distanz zu religiösen Praktiken und Menschen mit einer etwas höheren Ausbildung aus großen, aber nicht den größten Städten und mit einem etwas über dem Durchschnitt liegenden Einkommen gestimmt. Die Verlierer der Transformation, Menschen mit geringerer Ausbildung, häufig auf dem Land ansässig, stimmten aber für Kaczynski und sind in ihren Werten stark religiös und national geprägt, so dass für sie die SLD auf absehbare Zeit keine Alternative darstellen dürfte. So sind es vor allem Vertreter technischer Berufe der mittleren Ebene und auch Angestellte, die die Wählerschaft der SLD ausmachen. Hausfrauen, Schüler und Studenten, Facharbeiter, unqualifizierte Arbeiter deklarieren sich deutlich stärker als Anhänger von PO oder PiS denn als Unterstützer der SLD. Auch die naheliegende Vermutung, dass vor allem junge Menschen auf den fast »hippen« Wahlkampf von Napieralski angesprochen haben, scheint nicht ganz zu passen, wenn nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS sich im Juli letzten Jahres nur 6% der Schüler und Studenten für die SLD, aber 37% für die PO und immerhin 29% für PiS aussprachen. Auch wenn solche Analysen nur eine Momentaufnahme darstellen, so scheint es doch noch ein weiter Weg zu parlamentarischen Mehrheiten oder zu einer Dominanz der politischen Debatte zu sein - häufig eine notwendige Voraussetzung für einen Regierungswechsel.
Entscheidend könnte es daher für die SLD sein, aus den engen Debatten der eigenen Partei herauszutreten und Anschluss an urbane linke Milieus zu finden, die es auch in Polen gibt. Im Verbund mit ihnen könnte man eventuell genügend politische Kraft entwickeln, um die politische Agenda mitzubestimmen. Zurzeit kommen spannende intellektuelle Angebote jedoch nicht aus dem Umfeld der SLD, sondern vor allem aus zwei Milieus: Auf der einen Seite von jungen Konservativen, die um das Museum des Warschauer Aufstands (Warschau) und um das Krakauer Zentrum politischen Denkens (Osrodek Mysli Politycznej) herum konzentriert sind - beides Institutionen, die normativ PiS nahe stehen. Auf der anderen Seite aus dem Milieu der Zeitschrift Krytyka Polityczna (Politische Kritik), die seit 2002 besteht und von der bis heute 25 Nummern vorliegen. Sowohl PO wie auch SLD fallen im Vergleich mit diesen Milieus intellektuell etwas dürftig aus. Es erscheint daher wichtig für die SLD, einen engeren Zugang zu dem letztgenannten Milieu zu finden.
Alternative und linke Milieus in Polen
Der Zeitschrift Krytyka Polityczna (KP) ist es in den letzten Jahren gelungen, ein breites intellektuell anregendes linkes Milieu zu etablieren. Neben der Zeitschrift selbst, die zwei- bis dreimal im Jahr ein Themenheft herausgibt, existiert auch ein Verlag, der seit 2007 vor allem philosophische und gesellschaftspolitische Bücher polnischer Autoren oder Übersetzungen renommierter ausländischer Autoren wie z. B. des slowenischen Philosophen Slavoj iek oder der amerikanischen Philosophin und Geschlechterforscherin Judith Butler herausgegeben hat. Zudem bestehen mittlerweile auch über 20 politische Klubs der KP in den größeren Städten Polens, die lokale linke Milieus bilden und sich in gesellschaftliche Fragen einmischen sollen. Mit Hilfe von Seminaren, Vorträgen, Workshops, Festivals und Kontakten zu anderen gesellschaftlichen Organisationen sollen sie nach Selbstauskunft der KP dabei mitwirken, ein linkes Ethos in Polen zu etablieren. Dabei berufen sich die Schöpfer der KP auf Stanislaw Brzozowski, einen polnischen Philosophen und Literaturkritiker, der gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts großen Einfluss in Polen ausübte, auf die vom Publizisten Wilhelm Feldman, der mit der literarischen Moderne verbunden war, von 1901 bis 1914 herausgegebene Zeitschrift »Krytyka« (Kritik) und auf die zu Zeiten der verbotenen Solidarnosc in den 1980er Jahren erschienene Zeitschrift gleichen Namens, mit der u. a. der prominente Dissident und Solidarnosc-Aktivist Jacek Kuron verbunden war. Es wird hier eine lange Traditionslinie aufgemacht, die stark mit der PPS aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verknüpft ist - allerdings in moderner Gestalt.
Die Themen, die dabei aufgegriffen werden, umfassen u. a. Fragen der sozialen Gerechtigkeit, den Populismus, Aspekte der Vergangenheit, die Frage der Monogamie, die Rolle der Intellektuellen, um nur einige Themen zu nennen. Dem erst 32-jährigen Chefredakteur Slawomir Sierakowski ist es gelungen, einen breiten Kreis von prominenten Publizisten, Intellektuellen und Schriftstellern für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, u. a. die auch in Deutschland bekannte Schriftstellerin Olga Tokarczuk oder die Frauenrechtlerin Magdalena roda.
Dennoch fällt es schwer, den realen Einfluss der KP zu bewerten. Zweifellos gelingt es ihr, zunehmend wichtige gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen und mit intellektuellem Tiefgang zu präsentieren. Allerdings sind weder die Grünen noch die Globalisierungsgegner, in Polen als Alterglobalisci bezeichnet, oder die Frauenpartei im Parlament vertreten und die SLD kommt mit ihrem Wählermilieu, wie aufgezeigt wurde, und ihren Spitzenvertretern doch recht anti-intellektuell daher. Zudem ist die polnische Gesellschaft trotz aller Veränderungen der letzten zwanzig Jahren habituell konservativ, was sich z. B. an der nach wie vor starken Präsenz religiöser Normen, der Wertschätzung der Familien als Hauptträger der Werte und nicht zuletzt auch an der Dominanz der beiden konservativen Parteien PO und PiS ablesen lässt. Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass aus dem Milieu der KP, selbst in Verbindung mit Globalisierungsgegnern oder den Grünen, in absehbarer Zeit eine politische Kraft entstehen könnte. So ist man denn auf die Flexibilität und die Kooperation mit der SLD angewiesen.
Veränderungen der Parteienlandschaft oder wer ist der polnische Zapatero?
Der jahrelang scheinbar zementierte Dualismus der beiden konservativen Parteien PO und PiS scheint gegenwärtig langsam zu reißen. Zwar gibt es in Polen nicht wie in Deutschland mit SPD, der Linken und den Grünen gleich drei Parteien, die mit gesellschaftlich und politisch als links deklarierten Positionen verknüpft werden, aber Umfragen zeigen trotz des geringeren parteipolitischen Angebots einen langsamen Umschwung in Richtung Links. Frühere Vermutungen von Politologen, wonach sich in Polen womöglich eine aus zwei Parteien bestehende politische Landschaft analog den Vereinigten Staaten von Amerika etablieren könnte, d. h. Parteien wie die Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe - PSL) oder die SLD ähnlich wie die populistische Bauernpartei Selbstverteidigung (Samoobrona) oder die rechtsnationale bzw. nationalistische Liga Polnischer Familien (Liga Polskich Rodzin - LPR) nach den Parlamentswahlen von Herbst 2007 von der politischen Bühne verschwinden könnten, sind heute nicht mehr aktuell. Nach den letzten Umfragen des führenden Meinungsforschungsinstituts CBOS zur Wählergunst stehen die liberal-konservative PO des Ministerpräsidenten Donald Tusk und die oppositionelle national-konservative Partei PiS von Jaroslaw Kaczynski im März 2011 für 35% bzw. 18% der Wählerschaft. Nimmt man noch die gleichfalls konservativen Parteien Polen ist am Wichtigsten (Polska Jest Najwazniejsza - PJN), eine im November 2010 entstandene PiS-Abspaltung mit 3% und die an der Regierung beteiligte PSL mit 4% hinzu, so scheint das konservative Lager nach wie vor erdrückend. Allerdings erhält die SLD in dieser Umfrage von März 2011 16%, der höchste Wert seit Februar 2004 - damals 18% und ein Beleg für die stetig steigende Notierung. Weitere Daten belegen zudem, dass sich deutlich mehr Menschen für ein solidarisches Polen und damit potentiell für linke Positionen aussprechen, als der Prozentsatz der SLD in Umfragen vermuten lässt.
Damit wird die SLD angesichts der Parlamentswahlen im Herbst dieses Jahres plötzlich koalitionsfähig, zumal die PO von Ministerpräsident Tusk von ihrem Hoch von über 50% Anfang des Jahres 2008, also kurz nach den gewonnenen Parlamentswahlen, deutlich verloren hat. Die Parteistrategen diskutieren denn auch intensiv Koalitionsoptionen und dabei scheint eine potentielle Koalition zwischen PiS und SLD nicht mehr ganz ausgeschlossen. Die Nähe der sozialen Postulate spricht sogar dafür, während die national-religiöse Rhetorik die SLD eher abschrecken dürfte. Zumindest wehrt Napieralski bisher alle Avancen von Seiten Jaroslaw Kaczynskis (PiS) ab. Da absehbar ist, dass die PO nach den Wahlen zwar stärkste politische Kraft bleiben dürfte, aber erstens nicht allein wird regieren können und sie zweitens ihren Koalitionspartner PSL verlieren könnte, der aktuell in Umfragen unter der 5%-Hürde liegt, muss Napieralski lediglich auf ein besseres Angebot warten. Zudem hat er innerparteilich und auch unter den frisch gewonnenen Wählern zuviel zu verlieren, da kaum jemand so polarisiert wie Jaroslaw Kaczynski - und dies besonders auf der linken Seite.
Allerdings wird es für die SLD schwer werden, aus der Rolle des eventuellen Juniorpartners herauszuwachsen, wenn sie nicht intellektuell und personell ein anspruchsvolleres Programm präsentiert. Offene Fragen, über die es sich gesellschaftlich zu streiten lohnte, liegen förmlich auf der Hand. Es ist das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, der Umgang mit In-vitro-Fertilisation, eine adäquate, nicht polarisierende Geschichtspolitik, Arbeitnehmerrechte, die sozialen Sicherungssysteme, um nur einige Punkte anzuführen. Ein Projekt einer neuen polnischen Linken, die diese Fragen kreativ aufgreift, würde tatsächlich einen polnischen Zapatero benötigen, d. h. einen charismatischen Parteiführer, dem es gelingt, die verschiedenen linken Milieus zu einigen und zu einer echten Wahlalternative zu formen. Grzegorz Napieralski scheint dieses Potential nicht zu besitzen, aber andererseits wurde er auch vor den Präsidentschaftswahlen unterschätzt. Entscheidend wird wohl eine enge Kooperation mit linken Milieus wie der Krytyka Polityczna sein, was aber im Herbst eine Regierungsbeteiligung ausschließen würde, da ansonsten die zersetzenden Kräfte der linken Szene dominieren würden. Für die SLD scheint dies aber die einzige Möglichkeit zu sein, den engen Rahmen der Partei zu überwinden und auch wieder verstärkt junge Wähler zu gewinnen. Der eigentliche Reifetest für Napieralski ist also, wie er mit dem Kapital des Wahlerfolges umgehen wird.
Über den Autor
Prof. Dr. Stefan Garsztecki, Politologe, Professor für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas an der TU Chemnitz.
Lesetipp:
Stefanie Peter/Philipp Goll: In der Schönen Neuen Welt. Wie die Zeitschrift Krytyka Polityczna die Grenzen zwischen Politik und Kunst aufhebt und Polens Kulturszene umkrempelt, in: Jahrbuch Polen 2011 Kultur, herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2011. S. 88-100.