Zusammenfassung
Die bisherigen Vorbereitungen für die Wahl des Staatspräsidenten und die Umstände, unter denen der 10. Mai 2020 als Wahltermin abgesagt wurde, werfen ein klares Licht auf die komplizierte politische Lage in Polen. Auf der einen Seite stehen Jarosław Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), die erbittert an der Macht festhalten, auf der anderen Seite eine Opposition, die noch nach Mittel und Wegen sucht, um eine Chance bei der Wahl zu haben. Der schwierige Kampf gegen die Covid-19-Krise hat zusätzliche, große Probleme aufgeworfen. Insbesondere auf Seiten der PiS kam es zu eklatanten Verstößen gegen die Verfassung und die Grundsätze des demokratischen Parlamentarismus.
Wenige Tage vor der für den 10. Mai 2020 angesetzten Wahl des Staatspräsidenten kam es zu einer überraschenden Wende: Jarosław Kaczyński, der die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit mit harter Hand führt, einigte sich mit Jarosław Gowin auf die Verschiebung der Wahl. Gowin ist Vorsitzender der Partei Verständigung (Porozumienie), die als Juniorpartner an der Regierung beteiligt ist. Ohne diese Partei hätte die PiS keine Mehrheit im Parlament. Kurze Zeit später entschied die Staatliche Wahlkommission (Państwowa Komisja Wyborcza – PKW), dass der Marschall des Sejm, in diesem Falle die PiS-Politikerin Elżbieta Witek, einen neuen Wahltermin festsetzen müsse. Laut Verfassung muss der erste Wahlgang innerhalb von 60 Tagen nach seiner Verkündung stattfinden. Inzwischen haben sich vor allem Jarosław Kaczyński, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, Justizminister Zbigniew Ziobro sowie Jarosław Gowin für den 28. Juni als neuen Wahltermin ausgesprochen. Ob es dazu kommt, hängt nicht zuletzt von den Beratungen des Senats als zweiter Parlamentskammer über die dafür notwendigen Änderungen des Wahlrechts ab.
In dem Gespräch mit Jarosław Kaczyński musste Jarosław Gowin starken Druck ausüben, hatte der PiS-Vorsitzende doch vorher kategorisch jede Verschiebung der Wahl des Präsidenten abgelehnt und damit auch die meisten der führenden Funktionäre seiner Partei hinter sich gewusst. Gowin drohte vor allem damit, dass seine Partei in der abschließenden Lesung der Gesetzesnovelle zum Wahlrecht ihre Zustimmung verweigern könnte. Vom Senat, in dem die Opposition die Mehrheit hat, war sie abgelehnt und an den Sejm zurückverwiesen worden. Aufgrund der Novelle wäre eine reine (obligatorische) Briefwahl bei den Präsidentenwahlen 2020 möglich gewesen.
Kaczyński hat sich letztendlich der Realität gebeugt. So mehrten sich in der polnischen Öffentlichkeit die Stimmen, die angesichts der Covid-19-Krise vor zusätzlichen gesundheitlichen Gefahren für die Bürger durch einen Urnengang warnten. Ebenso erwiesen sich die Vorbereitungen der Polnischen Post für die Briefwahl als dilettantisch, was kurz vor dem Gespräch zwischen Kaczyński und Gowin sogar Mitglieder der Regierung einräumten. Hinzu kam, dass die wahlberechtigten Bürger mehrheitlich den 10. Mai als Wahltermin ablehnten, wie Umfragen wiederholt zeigten. Schließlich sorgten sogar Rücktrittsdrohungen einiger Minister dafür, dass Kaczyński keine andere Wahl hatte.
Der "Hinterzimmer-Kompromiss", wie ausländische und auch polnische Medien die Absprache zwischen Kaczyński und Gowin nannten, rief scharfe Kritik führender polnischer Juristen hervor. Der frühere Präsident des polnischen Verfassungstribunals, Andrzej Zoll, stellte fest, dass es keinerlei rechtliche Grundlagen dafür gebe. Es handele sich, so Zoll, um eine äußerst schädliche Beeinträchtigung der Rechtsordnung des Landes. Weder Kaczyński noch Gowin könnten eigenmächtig über einen Wahltermin entscheiden, der verfassungsrechtlich einwandfrei zustande gekommen sei, betonte Zoll. In der Tat handelt es sich um einen Vorgang, der in der Verfassungsgeschichte aller EU-Mitgliedsstaaten einmalig ist.
Das aber hinderte den Leiter der Kanzlei von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, Michał Dworczyk, nicht, nach der Absprache von Kaczyński mit Gowin zu behaupten, diese sei vor allem durch die destruktive Haltung des Senats notwendig geworden. Tatsächlich aber ist es das verfassungsmäßig verbriefte Recht des Senats, Entscheidungen des Sejm abzulehnen und an diesen zurückzuverweisen, wie es im Falle der Gesetzesnovelle zur allgemeinen Briefwahl geschehen ist.
Kaczyńskis Beweggründe
Der PiS-Vorsitzende empfindet seinen Rückzug gegenüber Gowin als Niederlage, die er sicherlich bei Gelegenheit korrigieren will. Es stellt sich die Frage, welches Ziel er verfolgt. Ohne Zweifel will Kaczyński mit aller Kraft an der Macht bleiben und die Regierungstätigkeit seiner Partei auf Jahre hinaus festigen. Noch sieht er sein Lebenswerk des "guten Wandels" (dobra zmiana), das er seit Jahrzehnten verfolgt, nicht als vollendet an. Dieses Projekt läuft nicht zuletzt darauf hinaus, einen starken zentralisierten Staat mit autoritären Zügen zu schaffen, die Justiz durch die Legislative zu kontrollieren, mit Hilfe einer paternalistischen, wohlfahrtsstaatlich verbrämten Kontrolle der Bürger deren Eigeninitiative zu lähmen sowie eine nationalistische Kultur- und Geschichtspolitik zu betreiben. Dabei sieht er es als legitim an, möglichst alle nur denkbaren politischen und administrativen Mittel einzusetzen, seien sie nun verfassungsrechtlich verbürgt oder nicht.
Vor diesem Hintergrund wird auch der Stellenwert deutlich, den die Präsidentenwahl für Kaczyński hat. Sie ist der Abschluss eines Wahlmarathons, der mit den Kommunalwahlen im Oktober 2018 begonnen hatte und seine Fortsetzung mit der Europawahl im Mai 2019 sowie der Parlamentswahl am 13. Oktober desselben Jahres fand. Bei den Kommunalwahlen hatte die PiS zwar ihre führende Position in den ländlichen Gebieten und auch im Landesdurchschnitt behaupten, aber den Erfolg der oppositionellen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) in den Städten nicht verhindern können. Mit der Europawahl konnte sie ihre Position auf nationaler Ebene festigen und ihren Einfluss im Europäischen Parlament ausdehnen. Schließlich schuf ihr Sieg bei der Parlamentswahl die Voraussetzungen für eine zweite Amtszeit als Regierungspartei, auch wenn sie fortan mit mehr Widerstand des Senats rechnen muss, in dem die oppositionelle PO die Mehrheit hat. Die Präsidentenwahl am 10. Mai sollte der krönende Abschluss dieses Wahlmarathons sein.
In diesem Kontext ist Andrzej Duda für Kaczyński der Richtige, um seine Strategie zu verwirklichen. Der amtierende Präsident hat sich in seiner ersten Amtszeit seit 2015 als weitgehend loyaler Partner Kaczyńskis und der PiS-Regierung erwiesen, sieht man einmal von einzelnen Differenzen ab, die aber eher taktischer denn inhaltlicher Natur waren. So befürwortete er die von der PiS bzw. Justizminister Zbigniew Ziobro betriebene Unterordnung der Judikative unter die Exekutive, indem er die entsprechenden, von der Regierung im Parlament durchgesetzten Gesetze absegnete. Duda habe diesbezüglich so ziemlich alles unterzeichnet, sagte der ehemalige Vorsitzende des Staatsgerichtshofes Adam Strzembosz, ein katholisch-konservativ geprägter Jurist, der sich nationalen Traditionen verpflichtet fühlt, aber die Politik der PiS ablehnt. Ebenso ist Duda ein eifriger Befürworter der ausufernden Sozialpolitik der gegenwärtigen Regierung. In der Europapolitik teilte er die Skepsis, die Ministerpräsident Morawiecki und einige seiner Minister wiederholt vortrugen. So erlangte er fast traurige Berühmtheit, als er in einer Rede kundtat, dass niemand den Polen in fremden Sprachen vorschreiben dürfe, welches System in Polen bestehen solle und wie die polnischen Dinge geregelt werden sollen.
Schließlich verzichtete Andrzej Duda bislang auf jedwede kritische Anmerkung zur erratischen Innen- und Außenpolitik des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, wie es der Linie von Kaczyński und der PiS entspricht. Man darf gespannt sein, wie sich der Präsident verhält, sollte Washington die Verlegung amerikanischer Atomwaffen von Deutschland nach Polen intensiver angehen, wie es die US-Botschafterin in Warschau bereits angedeutet hat.
Demgegenüber gab sich Duda im Rahmen der deutsch-polnischen Beziehungen eher moderat und verzichtete in der Regel auf deutschlandskeptische oder gar deutschlandfeindliche Äußerungen, wie sie die polnische und internationale Öffentlichkeit von Jarosław Kaczyński gewohnt ist. In der Geschichtspolitik vertraut Duda allerdings oft auf nationalkonservative Historiker, die bemüht sind, Verbrechen, die einzelne Mitglieder des polnischen Widerstandes im Zweiten Weltkrieg begangen haben, herunterzuspielen – etwa Verbrechen an Juden.
Vergleicht man Dudas Amtsführung mit der anderer polnischer Staatsoberhäupter ab 1990, dann zeigt sich, dass Duda bislang am stärksten mit einer bestimmten Partei und der von ihr geführten Regierung verbunden ist, in diesem Falle der PiS. Arbeiterführer Lech Wałęsa dagegen, der das Amt des Präsidenten von 1990 bis 1995 ausübte, hat wiederholt Kämpfe mit Regierungen ausgefochten, auch wenn diese wie er auf die Solidarność-Bewegung zurückgingen. Am Sturz der nationalkonservativen Regierung von Ministerpräsident Jan Olszewski (1991 bis 1992), eine Vorstufe der späteren PiS-Regierungen, war er sogar erheblich beteiligt.
Aleksander Kwaśniewski (1995 bis 2005) wiederum, der aus der postkommunistischen Linken kam, fand ein vernünftiges Verhältnis zwischen eigenständiger Amtsführung und Unterstützung für die jeweilige Regierung. Zusammen mit den verschiedenen Kabinetten arbeitete er intensiv am Beitritt Polens zu Nato und zur EU. Wie der ehemalige Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, der aus der Solidarność kam, hatte Kwaśniewski großen Einfluss auf die Gestaltung der Verfassung von 1997. Lech Kaczyński (2005 bis 2010) stand der PiS ideologisch-politisch nahe, verstand es aber besser als Andrzej Duda, eigene Akzente zu setzen und einen persönlichen Stil der Amtsführung zu entwickeln. Bronisław Komorowski (2010 bis 2015) schließlich, dessen politische Heimat die PO war, hatte sich zuvor einige Auseinandersetzungen mit der PiS-Regierung von 2005 bis 2007 geliefert, gegenüber der darauffolgenden Regierung unter Führung der PO blieb er aber politisch blass.
Drohende Hindernisse
Es bauten sich mehr und mehr Hindernisse auf, die Kaczyńskis Wahlstrategie direkt gefährdeten bzw. potentielle Bedrohungen für diese darstellten. Vorrangig gilt dies für die Covid-19-Krise, die in der ersten Phase in Polen weniger dramatisch als in West- und Südeuropa verlief, sich dann aber vor allem infolge des Infektionsverlaufs im oberschlesischen Industrierevier (der größten Bergbauregion Europas) zuspitzte.
Am 2. März 2020 verabschiedete der Sejm mit den Stimmen der Regierungsparteien PiS, Verständigung und Solidarisches Polen (Solidarna Polska) sowie weiten Teilen der Opposition ein Gesetz, das Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Krise sowie zur Vorbereitung auf mögliche weitere Infektionskrankheiten und daraus resultierende Krisen beinhaltet. Es trat am 8. März in Kraft und ermächtigt die Woiwoden als Beauftragte der Regierung in ihrer Woiwodschaft sowie die Minister der Zentralregierung, Bürgern, kommunalen Verwaltungen, Unternehmen und Hochschulen Pflichten und Einschränkungen aufzuerlegen, die juristisch schwer überprüfbar und anfechtbar sind. Per Dekret des Außenministers wurden am 15. März die Kontrollen an den polnischen Außengrenzen wieder eingeführt. Ebenfalls per Dekret rief der Gesundheitsminister den so genannten epidemischen Zustand (stan epidemii) aus. Damit sind Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit der Bürger, des Datenschutzes, des freien Warenverkehrs, der Produktionsabläufe in den Betrieben und der Tätigkeiten bestimmter öffentlicher Institutionen verbunden sowie die Ausübung des Verfügungsrechts, etwa im Falle einer Beschlagnahmung zum Zweck der Bekämpfung der Epidemie. Das politische und öffentliche Leben in Polen wurde infolge der Covid-19-Krise und der eingesetzten Maßnahmen weitgehend lahmgelegt.
Das Problem besteht allerdings darin, dass die polnische Verfassung in Artikel 228 für besondere Gefahrensituationen, in denen die normalen verfassungsrechtlichen Mittel zur Bewältigung einer Krise nicht ausreichen, die Ausrufung des Notstandes in Form des Kriegszustandes (stan wojenny), des Ausnahmezustandes (stan wyjątkowy) oder des Katastrophenzustandes (stan klęski żywiołowej) vorsieht. Bis dato hat sich die Regierung aber nicht zur Verhängung des letzteren, verfassungsgemäßen Notstandes durchgerungen. Stattdessen wurde per Dekret ein nicht von der Verfassung legitimierter so genannter epidemischer Zustand eingeführt. Die Einschränkung bürgerlicher Rechte und Freiheiten erfolgte dann durch Regierungsverordnungen, die auf besagtem Gesetz vom 8. März basieren, oder einfach aufgrund administrativer Entscheidungen, die nicht den Status allgemeinverbindlicher Rechtsakte besitzen. Viele namhafte polnische Juristen sehen in diesem Vorgehen eine eklatante Schwächung der verfassungsrechtlichen Ordnung. So plädierte die ehemalige Verfassungsrichterin und Rechtsprofessorin Ewa Łętowska für die Verhängung des Katastrophenzustandes. Da der "epidemische Zustand" nicht in der Verfassung vorgesehen ist, ist die mit dessen Verfügung einhergehende Einschränkung demokratischer Rechte verfassungswidrig. Es ist demnach offenkundig, dass die Regierung wie auch die Mehrheit im Sejm gegen die Verfassung verstoßen haben.
Die vom Parlament und der Regierung in Polen ermöglichten bzw. ergriffenen Maßnahmen entsprachen mehr oder weniger Schritten, die in fast allen europäischen Staaten beschlossen wurden, zum Teil waren sie geringerer Tragweite, zum Teil gingen sie darüber hinaus. Eine abschließende Bewertung des Erfolgs der Maßnahmen ist naturgemäß vorerst nicht möglich. Doch schon jetzt lässt sich feststellen, dass sich die staatliche Administration vor allem auf zentraler Ebene bis dato nur als bedingt einsatzfähig im Kampf gegen die Krise erwiesen hat. So arbeitete Gesundheitsminister Łukasz Szumowski bis zur Erschöpfung für die Stärkung bzw. Stabilisierung des Gesundheitswesens angesichts der Krise und avancierte deshalb laut Umfragen zum beliebtesten Politiker des Landes, während der Minister des Staatsschatzes, Jacek Sasin, lange Zeit vor allem mit der Vorbereitung der Polnischen Post für die Durchführung der Briefwahl und der Aufsicht über den Druck der Wahlzettel beschäftigt war, statt sich insbesondere mit den besonderen Auswirkungen der Krise auf den Kohlebergbau in Oberschlesien zu beschäftigen, die in gewisser Weise vorhersehbar waren. Hinzu kommt, dass in der ersten Phase der Covid-19-Epidemie viel zu wenige Tests durchgeführt wurden. Darüber hinaus tauchte in polnischen Medien wiederholt der Verdacht auf, dass die Regierung nicht wahrheitsgetreu über den Stand der Infektionen informiere.
Bei der Versorgung der Infizierten gingen die Ärzte, Schwestern und andere Bedienstete im polnischen Gesundheitswesen oft bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, waren dabei aber vor allem in den Krankenhäusern in ländlichen Regionen überfordert, weil es dort an Pflegekräften, Ärzten und entsprechender Ausrüstung fehlt. Geradezu dramatisch eskalierten die Ängste vieler älterer Menschen, die davor zurückschreckten, trotz anderweitiger gefährlicher Erkrankungen oder gar schon festgelegter Termine für Behandlungen und Eingriffe die Krankenhäuser aufzusuchen.
Dass Kaczyński so lange am 10. Mai als Termin für die Präsidentschaftswahl festhielt, hängt auch mit seiner wohl nicht unbegründeten Befürchtung zusammen, die schon spürbaren und sich in Zukunft noch verstärkenden wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Krise könnten dem Ansehen der PiS-geführten Regierung und damit auch Andrzej Duda als von ihm favorisierten Kandidaten schaden. Tatsächlich zeichnen sich ein Rückgang des Wirtschaftswachstums und ein deutlicher Anstieg der Arbeitslosenquote ab, wobei die Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes in Polen mit vermutlich 4 bis 6 Prozent im Jahr 2020 noch relativ glimpflich ausfallen wird im Vergleich etwa zu Griechenland mit 10 Prozent, Italien und Spanien mit 9 Prozent sowie Frankreich mit 8 Prozent. Für Deutschland werden ebenfalls 6 Prozent prognostiziert, so die Zahlen einer Konjunkturanalyse der EU-Kommission und des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Die allgemeinen Einbrüche des Wirtschaftswachstums und die Einschränkungen des grenzüberschreitenden Gütertransports sowie des Dienstleistungs- und Finanztransfers im Zuge der Krise schaden auch der polnischen Volkswirtschaft. Die PiS-Propaganda vom "wirtschaftlichen Tiger Polen" verliert also an Strahlkraft. Ein sinkendes Wirtschaftswachstum sorgt immer auch für geringere Steuereinnahmen und damit für weniger Spielraum der Regierung in Bezug auf den Staatshaushalt. Die ausgreifende Sozialpolitik der PiS wird also Einbußen erleiden. Damit aber bricht ein inhaltliches Standbein der Partei Kaczyńskis weg, mit dem sie viele Wähler für sich eingenommen hat und mit dem sie auch bei ihrer Unterstützung für Andrzej Duda punkten möchte. Aus der Sicht Kaczyńskis ist ein schnellstmöglicher Wahltermin also mehr als wünschenswert.
Hinzu kommt, dass gerade auch für Polen die anstehenden Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 bzw. deren Ergebnis schwer kalkulierbar sind. Angesichts der unterschiedlichen Auswirkungen der Covid-19-Krise und der ungeheuren Summen, die einzelne Länder zur Behebung der Schäden besonders für die Wirtschaft aufwenden müssen, lässt sich bislang nicht absehen, wie hoch die Beitragszahlungen aller Länder in den EU-Haushalt und auch die Transfers im Rahmen der Kohäsionspolitik an einzelne Länder künftig sein werden. Gerade für Polen sind diese Transfers eine wesentliche Finanzierungsquelle für Investitionen in die Wirtschaft, Infrastruktur und andere Bereiche.
Zick-Zack-Kurs
Die Vorgeschichte der ursprünglich auf den 10. Mai datierten Wahl des Staatspräsidenten ist reich an widersprüchlichen Stellungnahmen und Entscheidungen, sowohl seitens der Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki als auch der PiS-Abgeordneten im Sejm und schließlich des gesamten Parlaments. Einige dieser Entscheidungen waren verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig. Vielfach ging es dabei vor allem um Politik und Wahltaktik, nicht um einen möglichst wirkungsvollen Kampf gegen die Covid-19-Krise.
So hat sich auch die Wahrnehmung möglicher Gefahren eines Urnengangs am 10. Mai für die Gesundheit der Bürger innerhalb weniger Wochen deutlich verändert. Obwohl Mediziner und speziell Virologen schon vorher gewarnt hatten, sagte Ministerpräsident Morawiecki noch am 24. März, dass es keinen Grund gebe, die Präsidentenwahl zu verschieben. Auch Präsident Duda erklärte, dass ein Besuch im Wahllokal nicht das Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus erhöhe. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński äußerte in den Medien mehrfach die Ansicht, dass eine Teilnahme an den Wahlen keinesfalls eine Gefahr für die Gesundheit der Wähler darstelle. Lediglich Gesundheitsminister Łukasz Szumowski sprach sich vergleichsweise früh für eine Verschiebung der Wahl um zwei Jahre aus.
Die Novellierung des Wahlrechts war der Wendepunkt. Am 31. März schuf der Sejm vor allem mit den Stimmen der Regierungspartei die Möglichkeit, die Präsidentenwahl als reine Briefwahl zu organisieren, indem diese Art der Stimmabgabe als verpflichtend für alle 30 Millionen Wahlberechtigten festgelegt wurde. Die PiS vollzog damit eine totale Kehrtwende. Noch 2017 hatte sie die völlige Abschaffung der Briefwahl angestrebt (sogar für Menschen mit Behinderung, die einzige Wählergruppe, für die diese Wahlform möglich ist) und dies mit der Gefahr des Missbrauchs und der Manipulation begründet.
Mit der Entscheidung vom 31. März wurde auch festgelegt, dass die staatliche Post für die Auslieferung der Wahlunterlagen verantwortlich ist. Am Wahltag sollten diese von den Wählern in eigens dafür ausgewiesene "Briefkästen" im Freien eingeworfen werden. Bald nach diesem Beschluss begann die staatliche Wertpapierdruckerei mit dem Druck der Stimmzettel, obwohl der Senat als zweite Parlamentskammer noch nicht seine Zustimmung zu der Novelle gegeben hatte, was aber laut Verfassung notwendig ist.
Bald schon wurden in der polnischen Öffentlichkeit die eklatanten Schwächen dieser Vorgehensweise diskutiert. So stellte sich die Frage, ob im Rahmen des festgelegten Prozedere die Wahlunterlagen tatsächlich an alle Adressaten gelangen würden. Gefragt wurde auch, wie man denn den Diebstahl oder die Vernichtung von Wahlzetteln verhindern wolle, bevor diese in die "Briefkästen" gelangten, und wer denn die Sicherheit dieser "Wahlurnen" garantieren werde, die beispielsweise an Tankstellen aufgestellt werden sollten. Innerhalb der Familien und Wohngemeinschaften sei außerdem nicht gewährleistet, dass eine freie und geheime Wahl stattfinde, meinten Kritiker dieser Vorgehensweise, die der PiS in diesem Zusammenhang mangelndes Verständnis für Datenschutz vorwarfen. Selbst bei der Post regte sich Widerstand gegen die Durchführung der Briefwahl.
Unter dem Aspekt der Organisation von Wahlen traten zwei gravierende verfassungsrechtliche Probleme auf. Das eine betrifft die Rechtmäßigkeit der vorgenommenen Änderung des Wahlrechts, das zweite den rechtlichen Charakter des verhängten "epidemischen Zustandes". Wichtiger Bestandteil des geltenden Rechtes ist ein Urteil des polnischen Verfassungstribunals aus dem Jahr 2006, wonach wesentliche Änderungen des Wahlrechts mindestens sechs Monate vor dem Wahltermin stattfinden müssen. Ausnahmen, so das Gericht, könne es nur unter objektiv außergewöhnlichen Umständen geben, die aber in dem Urteil nicht näher definiert werden. Das führt zu dem zweiten, bereits angesprochenen Problem, dass die Verfassung im Falle besonderer Gefahrensituationen nur die Verhängung des Kriegs-, des Ausnahme- oder des Katastrophenzustandes vorsieht, nicht aber einen "epidemischen Zustand", den die Regierung per Dekret eingeführt hat. Aber selbst wenn einer der drei in der Verfassung verankerten Notstände ausgerufen würde, dürfen in diesem Zeitraum weder die Verfassung noch die Wahlordnungen für den Sejm, den Senat und die Organe der territorialen Selbstverwaltung geändert werden, ebenso wenig wie das Gesetz zur Wahl des Präsidenten. Während eines solchen Notstandes dürfen auch weder die Legislaturperiode des Sejm verkürzt werden noch ein landesweites Referendum oder Wahlen zum Sejm, zum Senat und zu den Organen der territorialen Selbstverwaltung durchgeführt werden. Hinzu kommt, dass die Staatliche Wahlkommission mehrheitlich mit Parteigängern der PiS besetzt wurde, was eine Überprüfung des korrekten Wahlablaufs vermutlich erschwert.
Immerhin lehnte der von der Opposition dominierte Senat am 5. Mai die vom Sejm am 31. März beschlossene Novellierung des Wahlrechts zur Briefwahl ab. Unter dem Druck des ehemaligen Wissenschaftsministers Jarosław Gowin sah sich dann auch der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński gezwungen, einer Verschiebung der Wahl zuzustimmen.
Wahlkampf als Farce
Im Vorfeld der für den 10. Mai angesetzten Wahl hat es über weite Strecken keinen echten Wahlkampf gegeben. Nach der Verhängung des Versammlungsverbots infolge der Corona-Epidemie war Amtsinhaber Andrzej Duda der einzige Präsidentschaftskandidat, der de facto über die Voraussetzungen für einen Wahlkampf verfügte. Und er nutzte diese intensiv, indem er durchs Land fuhr und vor allem bei traditionellen Feiern und Zeremonien intensiven Kontakt zu den Wählerinnen und Wählern suchte. Die von der PiS beeinflussten regierungsnahen Medien unterstützten ihn dabei nach Kräften. Zudem gab es besonders in den ländlichen Regionen katholische Priester, die direkt oder indirekt zur Wahl von Duda als Favorit der PiS aufriefen. Unter diesen Umständen konnte von einem gleichen und fairen öffentlichen Wahlkampf nicht die Rede sein.
Für die Oppositionsparteien treten bislang fünf Bewerber an. Ursprünglich war die Kandidatin der Bürgerplattform die Soziologin und frühere Regierungssprecherin Małgorzata Kidawa-Błońska. Angesichts zunehmender parteiinterner Kritik an ihrer Wahlkampfführung und schlechter Umfragewerte zog sie jedoch ihre Kandidatur zurück. An ihre Stelle trat der Warschauer Stadtpräsident Rafał Trzaskowski. Dem ehemaligen EU-Abgeordneten und Minister in der Regierung von Donald Tusk (2007 bis 2014) werden bessere Chancen eingeräumt. Trzaskowski und der unabhängige Kandidat Szymon Hołownia könnten am ehesten in eine mögliche zweite Runde der Präsidentenwahl kommen. Der politisch eher unerfahrene Journalist Hołownia ist vor allem bemüht, sich als Vertreter unabhängiger sozialer Initiativen zu profilieren. Der gemeinsame Kandidat linker Gruppierungen wie Frühling (Wiosna), der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) und der Partei Gemeinsam (Razem) ist der ehemalige Stadtpräsident von Stolp (Słupsk) und jetzige Europaabgeordnete Robert Biedroń. Gehörte der bekennende Homosexuelle ursprünglich zu den beliebtesten Politikern in Polen, sind seine Umfragewerte für die Präsidentenwahl inzwischen stark gesunken. Für die Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) kandidiert ihr Vorsitzender Władysław Kosiniak-Kamysz. Der Arzt und frühere Sozialminister in der Regierung Tusk gibt sich als moderner, ökologisch orientierter Vertreter der ländlichen Bevölkerung, bemüht sich aber auch um mehr Einfluss in den Städten. Alle vier genannten Kandidaten sind Verfechter der Mitgliedschaft Polens in der EU. Der einzige EU-Skeptiker unter den Bewerbern ist Krzysztof Bosak, der für die nationalistische Gruppierung Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit (Konfederacja Wolność i Niepodległość) antritt. Bosak fordert eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft Polens.
Den Oppositionsparteien und ihren Präsidentschaftskandidaten gelang es bislang kaum, dem konzertierten politischen, gesetzgeberischen und administrativen Vorgehen der Regierung und der PiS-Mehrheit im Sejm zugunsten einer Wiederwahl Dudas wirkungsvoll entgegenzutreten. Insbesondere konnten sie sich vor dem 10. Mai nicht auf eine gemeinsame Linie bezüglich eines Wahlboykotts einigen. Immer wieder kamen aus ihren Parteien unterschiedliche Aussagen darüber, unter welchen Bedingungen sie an einem Urnengang teilnehmen würden. Geradezu undenkbar war für sie der Vorschlag einiger Zeitungskommentatoren, die oppositionellen Kandidaten sollten sich möglichst schon vor dem ersten Wahlgang auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Schließlich war es der Europaparlamentarier Donald Tusk, der von Brüssel aus zu einem Boykott der Wahl am 10. Mai aufrief. Frühere polnische Präsidenten und Regierungschefs verschiedener Parteien prangerten in einer gemeinsamen Erklärung das nicht verfassungskonforme Vorgehen der PiS an.
Fazit
Gerade in Krisenzeiten wie der Covid-19-Pandemie erweist sich, ob Regierungen und die sie stützende Parlamentsmehrheit in der Lage sind, die Bürger so weit wie möglich vor den Folgen einer solchen Pandemie zu schützen. In diesem Zusammenhang kommt den politischen Ambitionen von Jarosław Kaczyński entscheidende Bedeutung zu. Für die Machterhaltung sei Kaczyński zu allem bereit, schrieb selbst die liberal-konservative Tageszeitung Rzeczpospolita. Tatsächlich lässt das Verhalten des PiS-Vorsitzenden im Vorfeld des 10. Mai keinen anderen Schluss zu. Am Termin der Präsidentenwahl festzuhalten, war ihm wichtiger als der Kampf gegen die Epidemie. Für dieses Ziel setzt er seine enorme politische Macht ein, um Einfluss auf die Regierung und das Parlament zu nehmen – eine Macht, die verfassungsrechtlich keineswegs legitimiert ist.
Wiederholt und zu Recht haben polnische Wissenschaftler und Publizisten wie Aleksander Hall und Jerzy Baczyński Verbindungslinien zwischen dem Denken des einflussreichen, aber höchst umstrittenen Staatsrechtslehrers der ausgehenden Weimarer Republik Carl Schmitt bzw. dessen Doktrin des so genannten Dezisionismus und dem politisch-ideologischen Credo von Jarosław Kaczyński gezogen. Kaczyńskis Ansichten kämen Schmitt nahe, als dieser den Vorrang politischer Entscheidungen vor rechtlichen Normen in einer Ausnahmesituation des Staates hervorhob.
Wie Polen haben zahlreiche Staaten im Zuge der Corona-Krise zum Teil sehr rigide Maßnahmen ergriffen, die auch zur Einschränkung bürgerlicher Rechte und Freiheiten geführt haben. Das ist zulässig, wenn diese verfassungsrechtlich legitimiert und politisch-parlamentarisch eingebunden sowie mit klaren inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben für ihre spätere Aufhebung verbunden sind. Gegen diese Grundsätze wurde aber in Polen auf Betreiben Kaczyńskis und der PiS wiederholt verstoßen, wie die Änderung des Wahlrechts, die Verhängung des "epidemischen Zustandes" und die organisatorischen Vorbereitungen der Briefwahl beweisen.
Ebenso ist es illegitim, wenn Krisenzustände wie die Epidemie zur Festigung eines eher autoritären Staatsmodells und zur Schwächung der Justiz als ein zentrales Element der Dreiteilung der staatlichen Gewalt genutzt werden. Die von der PiS betriebene Schwächung der Staatlichen Wahlkommission ist nur ein Beispiel dafür, dass es im Vorfeld des 10. Mai solche Bestrebungen gab.
Namhafte polnische Publizisten wie Rafał Kalukin vom Wochenmagazin Polityka betonen allerdings zu Recht, dass Polen nicht so sehr eine Diktatur als vielmehr chaotische Verhältnisse drohen würden. Tatsächlich gaben die widersprüchlichen taktischen Manöver Kaczyńskis im Vorfeld des 10. Mai und die verschiedenen verfassungsmäßig und legislativ fragwürdigen Initiativen der PiS -Fraktion im Sejm einen Vorgeschmack auf das, was Polen weiterhin drohen könnte. Gerade die Regierungspartei machte bisher nicht den Eindruck einer politischen Kraft, die das Land ruhig, konsequent und energisch durch die Covid-19-Krise steuern möchte. Strategisches Handeln insbesondere zur Stärkung des Gesundheitswesens sieht anders aus.
Auch die polnische Opposition benötigt dringend einen Reifeprozess. Kritik an der PiS und der Regierung sowie die Konkurrenz ihrer Präsidentschaftskandidaten untereinander reichen nicht aus. Gefragt sind Initiativen, die die tiefe Spaltung in der Gesellschaft überwinden können, und gemeinsame Anstrengungen, die das demokratisch-parlamentarische System stärken und die strategische Vorbereitung für künftige Krisen anstoßen. Im Land keimen erste Hoffnungen auf, dass der neue Präsidentschaftskandidat der Bürgerplattform, der Warschauer Stadtpräsident Rafał Trzaskowski, der Richtige dafür sein könnte.