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Analyse: Soziale Probleme lösen oder Wähler gewinnen? Die Sozialpolitik der PiS seit 2015

Dominik Owczarek Warschau Institut für Öffentliche Angelegenheiten Dominik Owczarek

/ 17 Minuten zu lesen

Die von der PiS-Regierung vorangebrachten Änderungen in der polnischen Sozialpolitik erhalten nicht nur Unterstützung, sondern stoßen vor allem bei Arbeitgebern und Gewerkschaften auf Kritik. Unter anderem wird das Vorhaben, einen vom Staat regulierten Lohn einzuführen, als stark autoritär bewertet.

Teil der von der PiS-Regierung umgesetzten sozialpolitischen Reformen waren auch Veränderungen in auch im polnischen Rentensystem, beispielsweise die Rücknahme der Anhebung des Renteneintrittsalters. (© picture alliance/NurPhoto)

Zusammenfassung

Die Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) stellte seit den gewonnenen Parlamentswahlen im Jahr 2015 die Sozialpolitik ins Zentrum ihres politischen Programms und erschloss sich damit die Unterstützung der Wähler, auch für eine weitere Legislaturperiode nach den Wahlen im Oktober 2019. Diesen Erfolg verdankt die Regierung den Versäumnissen im Bereich der staatlichen Sozialpolitik nach 1989 sowie der konsequenten Umsetzung eines großen Teils ihrer Wahlversprechen. Zu den eingelösten Versprechen gehören das Familienförderprogramm "500+", die Einführung des Stundenlohns bei Dienstleistungsverträgen, die raschere Anhebung des Mindestlohns als des Durchschnittslohns, die Rücknahme der Anhebung des Renteneintrittsalters, die Einführung der 13. Rentenzahlung sowie die Rentenkürzung für Angestellte des Repressionsapparates in der Volksrepublik Polen. Einige wichtige Ankündigungen der PiS wurden nicht umgesetzt, so das Wohnungsbauprogramm "Wohnung+" und Verbesserungen im Gesundheitswesen. Die Unterstützung, die die PiS aufgrund ihrer mehrheitlich erfüllten sozialen Versprechen erhält, erlaubt, ihre kontroversen Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu überdecken, die aufgrund ihrer Differenziertheit und nicht unmittelbaren Einflussnahme auf den Alltag für die meisten Bürgern wenig verständlich sind.

Korrektur der vernachlässigten Sozialpolitik

Polen hat es trotz seines spektakulären Wirtschaftswachstums nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems 1989 nicht geschafft, ein stabiles und kohärentes sozialpolitisches System aufzubauen. Es lässt sich nicht eindeutig einem der drei in Westeuropa vorherrschenden Modelle – konservativ, liberal oder sozialdemokratisch (nach der klassischen Definition von Gøsta Esping-Andersen) – zuordnen. Charakterisiert wird es vor allem durch Maßnahmen, den sozial Benachteiligten und Rentnern ein soziales Minimum zu sichern. Das System enthält jedoch viele Lücken und Ungleichheiten. Wichtige prägende Faktoren waren die Reformen der 1990er Jahre, die dem damals vorherrschenden neoliberalen Paradigma entsprachen, das von internationalen Institutionen in den ostmitteleuropäischen Ländern (und auch in Lateinamerika) befürwortet wurde. Dessen Ziel war es vor allem, die negativen Folgen des Transformationsprozesses von einer zentral gesteuerten Wirtschaft in Richtung Marktwirtschaft abzumildern. Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004 wurde das sozialpolitische System durch die großzügigen EU-Strukturfonds ergänzt, die vor allem erweiterte Maßnahmen in der Arbeitsmarktpolitik ermöglichten (berufliche Weiterbildungen, Arbeitsvermittlung). Im Vergleich zur Phase vor 2004 wurde das sozialpolitische Modell allerdings nicht verändert.

Diese bedeutende Vernachlässigung der staatlichen Sozialpolitik nutzte die PiS in ihrem Wahlkampf vor den Parlamentswahlen 2015 aus. Zentrale Versprechen waren die Einführung eines für polnische Verhältnisse großzügigen Kindergeldes im Rahmen des Familienförderprogramms "Familie 500+", die Auflage eines Programms für den Bau günstiger Mietwohnungen "Wohnung+", die Zurücknahme der Rentenreform, die das Renteneintrittsalter angehoben hatte, und die Einschränkung von Dienstleistungsverträgen (die anstatt der üblichen Arbeitsverträge stark verbreitet waren). Der größte Teil der angekündigten Reformen wurde in der Regierungszeit der PiS von 2015 bis 2019 eingeführt, obgleich der Grad ihrer Umsetzung nicht immer den Ankündigungen entsprach. Außerdem wurden weitere sozialpolitische Reformen eingeführt, u. a. wurde ein Mindeststundenlohn für Dienstleistungsverträge beschlossen und eine Reihe von Änderungen im Rentensystem eingeführt. Faktoren, die die erhöhten Ausgaben im Bereich der Sozialpolitik begünstigten, waren die wirtschaftliche Belebung nach einer verlangsamten Wachstumsphase zwischen 2009 und 2013 sowie die größeren Einnahmen aus der Mehrwertsteuer infolge der Schließung von Steuerschlupflöchern.

Mit dem Ziel, den Wahlerfolg zu wiederholen, setzte die PiS im Parlamentswahlkampf 2019 erneut darauf, die Forderungen aus dem Bereich der Sozialpolitik in den Vordergrund zu stellen. Zu den wichtigsten drei, dem sogenannten Kaczyński-Hattrick, gehörten erstens die schrittweise Anhebung des Mindestlohns von 2.600 Zloty brutto (zirka 610 Euro) im Jahr 2020 auf 4.000 Zloty brutto (zirka 940 Euro) im Jahr 2024, zweitens die feste Einführung der 13. und 14. Rentenzahlung in das monatliche Auszahlungssystem, drittens volle EU-Zuschüsse für die Landwirte, vergleichbar mit dem Wert der Zuzahlungen für die Bauern in Westeuropa.

Erinnert sei daran, dass der Ausbau der sozialpolitischen Instrumente, die der PiS gesellschaftliche Unterstützung einbringen, gleichzeitig ein Schutzschild ist, um die in rechtsstaatlicher Hinsicht kontroversen Reformen der PiS durchzuführen, die sowohl im Inland aus auch im Ausland zu großen Spannungen führten. Die deutliche Unterstützung für die PiS hält sich u. a. deshalb, weil ihr Hauptkonkurrent die konservativ-liberale Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) ist, gegen die die PiS ein wirkungsvolles Narrativ aufgebaut hat, und zwar: Wenn unsere liberalen Vorgänger an die Macht zurückkehren, werden sie die neuen sozialen Maßnahmen zurücknehmen, insbesondere das Programm "Familie 500+".

Das Flaggschiff: die Familienpolitik

Nachdem die PiS im Oktober 2015 die Regierung übernommen hatte, begann sie ihr wichtigstes Wahlversprechen einzulösen, die Einführung des Förderprogramms "Familie 500+" (vgl. Externer Link: Polen-Analysen 186). Es beruht darauf, dass jeder Familie für ihre minderjährigen Kinder jeweils 500 Zloty (zirka 120 Euro) ab dem zweiten Kind gezahlt werden und bereits für das erste Kind im Falle eines niedrigen Einkommens, das ist weniger als 800 Zloty pro Kopf (zirka 190 Euro) bzw. weniger als 1.200 Zloty pro Kopf (zirka 280 Euro) im Falle eines behinderten Kindes. So erhält beispielsweise eine Familie mit drei Kindern monatlich 1.000 Zloty und wenn sie das Kriterium des niedrigen Einkommens erfüllt, 1.500 Zloty.

Ein solches sozialpolitisches Instrument ist in den Ländern der Europäischen Union nicht unbekannt. Beispielsweise ist das Kindergeld in Deutschland ähnlich konzipiert. Die Besonderheit von "500+" besteht vielmehr in der Höhe der Leistung im Vergleich zum Einkommen der Polen und den öffentlichen Ausgaben. Dies veranschaulichen die Höhe des Medianeinkommens im Jahr 2016 – zirka 2.200 Zloty netto (zirka 520 Euro) – sowie die Kosten des Programms – zirka 23 Mrd. Zloty jährlich, was etwas unter den staatlichen Einnahmen aus der Körperschaftsteuer liegt und die Hälfte der Einnahmen aus der Einkommensteuer beträgt. Das Programm "500+" wurde im April 2016 eingeführt und im Juli 2019, drei Monate vor den Parlamentswahlen, ohne Einschränkungen auf das erste Kind ausgedehnt. Die PiS hat also die Einlösung ihres Wahlversprechens im Laufe ihrer Regierungszeit noch ausgeweitet.

In den ersten beiden Jahren des Familienförderprogramms "500+" fiel das Niveau extremer Armut deutlich, insbesondere bei den Kindern unter 17 Jahren, und zwar von neun Prozent auf sechs Prozent zwischen 2015 und 2016 und auf fünf Prozent im Jahr 2017. (Zu den von "extremer Armut" betroffenen Haushalten gehören diejenigen, in denen das pro Kopf-Einkommen niedriger ist als der vom Institut für Arbeit und Soziales ermittelte Wert des Warenkorbes und der Dienstleistungen, die die physische Existenz der Haushaltsmitglieder gewährleisten.) Es lässt sich daher begründet feststellen, dass in diesem Zeitraum diese Form von Armut unter Kindern fast halbiert wurde. Allerdings wurde 2018 ein Anstieg der extremen Armut in der Gesamtbevölkerung von 4,3 Prozent auf 5,4 Prozent verzeichnet und in der Gruppe der Kinder von 5 Prozent auf 6,5 Prozent. Als Ursache für die Verminderung des positiven Effektes des Familienförderprogramms wird gewöhnlich die Preissteigerung genannt, die auch im Jahr 2019 anhält. Zu erwarten steht daher, dass die extreme Armut in der Gruppe der Kinder wieder auf das Niveau der Zeit vor der Einführung von "500+" steigen wird. Die Erweiterung der Leistungszahlung auf das erste Kind wird keinen (positiven) Einfluss auf die Anzahl der Haushalte mit einem Einkommen unter der extremen Armutsgrenze haben, da diese Haushalte bereits von Beginn an unter das Förderprogramm fielen; die zusätzliche Leistung geht ab 2019 also nur an die Familien mit mittlerem oder höherem Einkommen.

Eine Folge des Familienförderprogramms ist auch, dass die Berufstätigkeit der Frauen um zwei bis drei Prozentpunkte gesunken ist, das betrifft zirka 200.000 Frauen. Frauen, deren Familien das Kindergeld zusteht, nehmen seltener eine Arbeit auf bzw. verzichten auf ihre bisherige Berufstätigkeit (häufig geht sie mit einem niedrigen Lohn, schlechteren Arbeitsbedingungen und Schwierigkeiten mit der An- und Abfahrt zum Arbeitsort einher). Auf das Ausscheiden von Frauen aus der Berufstätigkeit wirkt sich das Programm "500+" am stärksten in Städten mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern aus. Gewöhnlich sind gering qualifizierte Frauen sowie solche mit Kindern im Alter von sieben bis zwölf Jahren betroffen.

Hinzu kommt, dass das Programm keinen merklichen Anstieg der Geburtenrate nach sich zog. Das heißt, eines seiner wichtigsten Ziele wurde nicht erreicht.

Im selben Zeitraum war die Anpassung der Grenzen, die zum Bezug von Sozialleistungen berechtigen, unbedeutend. (Sozialleistungen erhalten die ärmsten Haushalte, deren Einkünfte unter einer vom Sozialministerium festgesetzten Grenze liegen.) Das verstärkte das Missverhältnis zwischen dem großzügigen Kindergeld "500+" und den anderen sozialpolitischen Geldleistungen. Seit Oktober 2018 liegt die Grenze für den Bezug von Sozialhilfe bei 701 Zloty (zirka 165 Euro) für Alleinstehende und bei 529 Zloty (zirka 125 Euro) pro Person in Familien mit mindesten zwei Personen. Sie wurde von der PiS infolge der alle drei Jahre obligatorischen Überprüfung von 634 Zloty (zirka 150 Euro) bzw. 514 Zloty (zirka 120 Euro) aus dem Jahr 2015, festgelegt von der Vorgängerregierung, angehoben. Die Höhe der ausgezahlten Sozialhilfe ist die Differenz zwischen der festgesetzten Einkommensgrenze und dem tatsächlichen Einkommen pro Person des betreffenden Haushaltes.

Im Ergebnis war zu beobachten, dass sich die Anzahl der Haushalte verringerte, die das Recht auf Sozialleistungen hatten. In Verbindung mit der Inflation führte dies zu einem Anstieg der relativen Armut von 13,4 Prozent im Jahr 2017 auf 14,2 Prozent im Jahr 2018. (Haushalte, die als "relativ arm" klassifiziert werden, haben pro Person unter 50 Prozent der Durchschnittsausgaben der Bevölkerung.)

Von vielen Experten wurde kritisiert, dass sich das Familienförderprogramm "500+" nicht harmonisch in das Gesamtsystem der Sozialleistungen und der Familienpolitik einfügt. Die Leistung "500+" doppelt ein anderes – weniger großzügiges – Instrument, das Betreuungsgeld, das Familien mit niedrigem Einkommen gezahlt wird, damit sie die Ausgaben im Zusammenhang mit der Kindererziehung bestreiten können. Des Weiteren übergeht es alleinerziehende Eltern (das sind vor allem Mütter) mit einem Kind, die die Grenze zum niedrigen Einkommen überschreiten. Außerdem ist die Unterstützung mit "500+" übermäßig hoch im Verhältnis zu der Höhe anderer Leistungen. Zudem legten die Daten zum Armutsniveau im Jahr 2018 einen weiteren Nachteil dieses Instrumentes frei: Es fehlt ein garantierter Anpassungsmechanismus.

Die von der PiS realisierte Sozialpolitik kam also nicht mit dem Problem der extremen Armut zurecht sowie sie auch nicht den Anstieg der relativen Armut aufhielt. In der öffentlichen Debatte tauchte das Schlagwort des "verlorenen Jahrzehnts" auf, beginnend mit dem Ausbruch der globalen Krise im Jahr 2008, die den Rückgang des Anteils der Armen im Land abbremste, der sich in den Jahren 2008 bis 2018 zwischen 4,3 und 7,4 Prozent bewegte.

Stabile Beschäftigung und höhere Löhne

Die PiS-Regierung verzeichnet sichtbare Erfolge bei Lohnerhöhungen sowie bei der Beschränkung des Ausmaßes von befristeten Beschäftigungsverhältnissen und sie plant, in der nun beginnenden Legislaturperiode in diese Richtung weiter fortzuschreiten.

Den Boden für die Reform der PiS bereitete bereits die Regierungskoalition der Bürgerplattform und der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) unter Ministerpräsidentin Ewa Kopacz am Ende ihrer Regierungszeit. Im Jahr 2015 führte sie Änderungen des Arbeitsgesetzbuches ein, mit dem Ziel, die Flut der befristeten Arbeitsverträge einzuschränken. Eine der Änderungen begrenzte die Anzahl der fortlaufenden befristeten Verträge auf maximal drei und ihre Gesamtlaufzeit auf 33 Monate. Zusammen mit den drei Monaten Probezeit kann der Arbeitnehmer dann nicht länger als drei Jahre auf Grundlage befristeter Verträge eingestellt werden. Diese neuen Vorschriften traten im Januar 2016 in Kraft, das heißt bereits unter der PiS-Regierung, wobei die Auswirkungen auf den Anteil der befristeten Verträge erst Ende 2018 umfassend sichtbar wurden. Die befristeten Anstellungen sanken sukzessiv von 28 Prozent im Jahr 2015 auf 24,3 Prozent im Jahr 2018. Die PO-PSL-Koalition hatte im Jahr 2015 noch eine weitere Reform beschlossen, die ebenfalls Anfang 2016 in Kraft trat, und zwar wurden die Dienstleistungsverträge bis zur Höhe des Mindestlohns sozialversicherungspflichtig; im Jahr 2016 betrug dieser 1.750 Zloty brutto (zirka 410 Euro). Im Ergebnis verloren die Verträge aufgrund ihrer höheren Kosten für die Arbeitgeber an Attraktivität.

Die PiS-Regierung hob im Jahr 2017 den Mindestlohn von monatlich 1.750 Zloty brutto (zirka 410 Euro) auf 2.000 Zloty brutto (zirka 475 Euro) an, was die Arbeitnehmer betrifft, deren Verträge nach dem Arbeitsgesetzbuch geregelt sind. Der Mindestlohn stieg nominell um mehr als acht Prozent, was das größte Wachstum in den vergangenen Jahren war. Für diejenigen Arbeitnehmer, die erst kürzlich ihre erste Arbeitsstelle antraten, betrug der Anstieg sogar 35 Prozent, da die neuen Vorschriften den Mindestlohn unabhängig vom Jahr der Berufstätigkeit anglichen – vorher betrug der Mindestlohn im ersten Beschäftigungsjahr 80 Prozent des Mindestlohns. Die Erhöhung des Mindestlohns fiel höher aus, als es die Sozialpartner ursprünglich vorgeschlagen hatten. In den folgenden Jahren stieg der Betrag ebenfalls deutlich, allerdings bereits in etwas vermindertem Tempo: auf 2.100 Zloty brutto (zirka 495 Euro) im Jahr 2018 und 2.250 Zloty brutto (zirka 530 Euro) im Jahr 2019. 2018 stieg der Mindestlohn etwas langsamer als der Durchschnittslohn, während in den anderen Jahren der Mindestlohn schneller als der Durchschnittslohn anstieg. In der ersten Regierungsphase der PiS lag der Mindestlohn bei 44,9 bis 46,8 Prozent des Durchschnittslohns. Zurzeit erhalten zirka zehn Prozent der Arbeitnehmer den Mindestlohn (bzw. anteilig einen niedrigeren Lohn wenn sie zum Beispiel nur in Teilzeit beschäftigt sind oder nur für eine bestimmte Anzahl von Tagen pro Monat etc.).

Außer der deutlichen Erhöhung des Mindestlohns verabschiedete die PiS-Regierung im Jahr 2017 neue Vorschriften, die zum ersten Mal einen minimalen Stundenlohn für Dienstleistungsverträge einführten. Vor der Reform war der Stundenlohn nach unten nicht begrenzt und es kamen sogar Beträge von vier Zloty brutto (zirka 90 Cent) vor. Der Stundenlohn wurde in Relation zum monatlichen Mindestlohn gesetzt, so dass beide Werte proportional wachsen müssen. Der Anhebungsmechanismus ist die Garantie eines Minimalstandards der Entlohnung. 2017 betrug der Mindeststundenlohn 13 Zloty brutto (zirka 3,10 Euro) und 2019 bereits 14,70 Zloty brutto (zirka 3,50 Euro). Der deutliche Anstieg des Monatslohns und die Einführung des Mindeststundenlohns können zu einer wesentlichen Reduzierung der Armut unter der arbeitenden Bevölkerung beitragen, insbesondere in der Gruppe der unter extrem prekären Bedingungen arbeitenden Menschen.

Vor den Parlamentswahlen versprach die PiS eine schrittweise Anhebung des Mindestlohns von 2.600 Zloty brutto (zirka 610 Euro) im Jahr 2020 auf 4.000 Zloty brutto (zirka 940 Euro) im Jahr 2024. Die Umsetzung dieses Plans begann bereits mit der Festlegung für 2020 und der Vorhaltung entsprechender Haushaltsmittel für 2020. Dies bedeutet die größte Erhöhung seit 1989, und zwar um 15,6 Prozent. Bei Einlösung des Versprechens würde der Mindestlohn in den kommenden Jahren um durchschnittlich neun Prozent jährlich steigen, was in der Geschichte der Dritten Republik eine bisher beispiellose Dynamik wäre.

Die regierende PiS begründet die so deutliche Erhöhung auch mit der Notwendigkeit, das Wirtschaftsmodell zu verändern, und zwar von einem Modell, das sich auf niedrige Arbeitskosten stützt, hin zu einem Modell, das dank Innovationen auf qualitativ hochwertigen Produkten und Dienstleistungen gründet. Ein wichtiges Element der politischen Narration ist auch der Wunsch, das Ausmaß der Arbeitsmigration aus Polen zu reduzieren – im Jahr 2018 hielten sich 1,5 Millionen Polen zeitweise im Ausland, vor allem in Großbritannien und Deutschland, auf – sowie die Emigranten zur Rückkehr nach Polen zu bewegen (was nicht ohne Einfluss auf den westlichen Arbeitsmarkt wäre).

Das Wahlversprechen der PiS wird vor allem von Unternehmern und Arbeitgebern mittelständischer und kleiner Unternehmen kritisiert, und zwar wegen der fehlenden Harmonisierung des Mindestlohnanstiegs mit dem Anstieg des Durchschnittslohns und der Arbeitsproduktivität. Sie warnen, dass ein so schneller Anstieg Entlassungen und Insolvenzerklärungen bei Firmen mit geringer Gewinnspanne und bei Firmen mit einem hohen Anteil an Arbeitskosten zur Folge haben kann. Experten vermuten, dass die Neuerungen auch zum Wachstum einer Grauzone beitragen können.

Die Sozialpartner (Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften) und auch linke Milieus kritisieren den autoritären Charakter der Änderungen. Der Lohn soll von der Regierung angeordnet werden, ohne Konsultationen in demokratischen Prozessen mit den Sozialpartnern und anderen Akteuren, womit die Strukturen des gesellschaftlichen Dialogs ignoriert werden und die Autonomie der Sozialpartner eingeschränkt wird zugunsten des Staates, der die Wirtschaft reguliert.

Nach den Jahren der Wirtschaftskrise, als die Arbeitslosenquote über zehn Prozent betrug, ist die Arbeitslosigkeit aktuell von der Liste der dringendsten öffentlichen Angelegenheiten verschwunden. Nach Angaben von Eurostat fiel die Arbeitslosenquote auf 3,9 Prozent im Jahr 2018 und verringerte sich 2019 abermals auf das historisch niedrigste Niveau. Das Problem der Arbeitslosigkeit ist gegenwärtig nur in einigen Regionen und Gesellschaftsgruppen von Bedeutung, so bei Menschen mit Behinderungen und bei jungen Menschen, was auf andere, strukturelle Barrieren verweist. Ähnlich wie bei der Mehrheit der EU–Mitgliedsländer ist der Fachkräftemangel die größere Herausforderung und ein Hindernis für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung.

Früherer Rentenbeginn, höhere Renten

Eins der wichtigsten Schlagworte im Präsidentschaftswahlkampf 2015 und anschließend im Parlamentswahlkampf war die Zurücknahme der Reform des Renteneintrittsalters, die die PO-PSL-Regierung eingeführt hatte. Die Reform hatte die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für Männer und Frauen ab dem Jahr 2013 vorgesehen. Das hieß eine Erhöhung um zwei Jahre bis zum Jahr 2020 für die Männer und um sieben Jahre bis zum Jahr 2040 für die Frauen. Die Reform ermöglichte auch einen früheren Rentenbeginn unter der Bedingung einer proportionalen Reduzierung der Rentenzahlungen. Ein wichtiger Bezugspunkt für die Regierungsargumentation waren damals die Rentenreformen in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern gewesen.

Die Reform des Renteneintrittsalters wurde von der PiS nicht nur mit Blick auf ihre Rechtmäßigkeit kritisiert, sondern vor allem wegen ihrer zu schnellen Einführung und der nicht ausreichend geführten gesellschaftlichen Konsultationen, insbesondere der Abweisung des Bürgerantrags auf ein Referendum in dieser Angelegenheit. Unterstützt wurden die Argumente der PiS von der Gewerkschaft Solidarność. Andrzej Duda, der Präsidentschaftskandidat der PiS, leitete aus der Forderung, die Reform zurückzunehmen, seine Hauptaussage ab, dass er ein Präsident des Dialogs sein werde, der den Stimmen der Gesellschaft Gehör schenken werde. Nach den gewonnenen Präsidenten- und Parlamentswahlen im Jahr 2015 wurde 2017 die Reform des Renteneintrittsalters auf Antrag von Präsident Duda und mit Zustimmung des PiS-dominierten Parlaments zurückgezogen. Gegenwärtig gilt für Männer das Eintrittsalter von 65 und für Frauen von 60 Jahren, so wie vor 2013. Allerdings war dies ein etwas widerwillig realisiertes Wahlversprechen angesichts der Erkenntnisse über die zunehmenden Probleme des Sozialversicherungsfonds infolge der schnell alternden Gesellschaft. Die Änderung wurde von einer Kampagne von Ministerialbeamten und Politikern der PiS begleitet, die animieren sollte, länger berufstätig zu bleiben.

Die PiS schlug auch eine Änderung des Rentensystems vor, um die Rentenersparnisse der Polen zu vergrößern. Nach der wichtigsten Rentenreform im Jahr 1999 setzte sich das Beitragssystem aus drei Säulen zusammen: der ersten, obligatorischen staatlichen Säule in Form des Sozialversicherungsfonds, der zweiten, obligatorischen kommerzielle Säule in Form der Offenen Rentenfonds und die dritten, fakultativen Säule in Form von Instrumenten des individuellen Sparens, die von kommerziellen Finanzinstituten angeboten werden (beispielsweise individuelle Rentensparkonten). Aufgrund der mangelhaften Konstruktion der Offenen Rentenfonds, die zu einem raschen Anstieg der öffentlichen Schulden führte, wurde die zweite Säule im Jahr 2014 unter der PO-PSL-Regierung weitgehend aufgelöst. Um die Rentenersparnisse der Bürger zu vergrößern, begründete die PiS im Jahr 2019 die Arbeitnehmer-Kapitalpläne, die insofern an die Offenen Rentenfonds erinnern, als hier Institute des Finanzmarktes als kommerzielle Anbieter tätig werden. Der Unterschied besteht allerdings in der Freiwilligkeit. Zwar wird jeder Arbeitnehmer automatisch in die Arbeitnehmer-Kapitalpläne eingeschrieben und erhält als Anreiz zu Beginn 250 Zloty vom Staat sowie weitere 240 Zloty für jedes Jahr in diesem Programm, aber der Sparer kann sich zu einem beliebigen Zeitpunkt auch wieder aus dem Programm austragen lassen und erhält die bis dahin angesparte Summe. Die Teilnahme beruht auf der Zahlung von Beiträgen, und zwar in Höhe von zwei Prozent des Einkommens auf Arbeitnehmerseite und 1,5 Prozent auf Arbeitgeberseite. Die Höhe der Beiträge kann man freiwillig um bis zu zwei Prozent auf Arbeitnehmerseite und um bis zu 2,5 Prozent auf Arbeitgeberseite erhöhen. Im Endeffekt kann der Gesamtwert der monatlichen Beiträge für die Arbeitnehmer-Kapitalpläne bis zu acht Prozent des Monatseinkommens betragen. Die Teilnahme an diesem Programm bedeutet ein niedrigeres Nettogehalt für den Arbeitnehmer. Die Reform wird schrittweise eingeführt: Im Juli 2019 traten dem Programm die größten Arbeitgeber, mit mehr als 250 Beschäftigten, bei. Ab Januar 2021 sollen kleine Firmen und der öffentliche Dienst beitreten.

In der Gruppe der Rentner steigt das Niveau der extremen Armut (von 3,9 Prozent im Jahr 2016 auf 4,6 Prozent im Jahr 2018) und es vergrößert sich die Anzahl derjenigen, die eine Rente unterhalb der Mindestrente erhalten. Das Recht auf die Mindestrente haben Frauen, die mehr als 20 Beitragsjahre aufweisen, und Männer mit mehr als 25 Beitragsjahren. Personen, die kürzer in die Rentenkassen eingezahlt haben, was vor allem Frauen betrifft, sind von der Mindestrente ausgeschlossen. Die Höhe ihrer Rentenbezüge ergibt sich aus dem Wert der angehäuften Beiträge.

Als Antwort darauf schlug die PiS für jeden Rentenbezieher eine einmalige 13. Zahlung der monatlichen Rente im April 2019 vor, also einen Monat vor den Wahlen zum Europäischen Parlament. Für den Staatshaushalt bedeutete das eine einmalige Ausgabe in Höhe von 10,8 Milliarden Zloty (zirka 2,5 Milliarden Euro). Bei dieser Maßnahme ließ sich die regierende Partei auch von dem Wunsch leiten, Stimmen der ältesten Wählergruppe zu erhalten (von der sie allgemein die größte Unterstützung erhält) und deren Wahlbeteiligung zu erhöhen. Im Wahlkampf für den Sejm versprach die PiS, die 13. Rente als ständige Zahlung in das Rentensystem aufzunehmen sowie ab dem Jahr 2021 auch eine 14. Rente an die Mehrheit der Rentenbezieher auszuzahlen (nur die zehn Prozent, die die höchste Rente erhalten, sollen ausgenommen werden). Das im Oktober 2019 neu gewählte Parlament soll sich mit den legislativen Änderungen befassen.

Eine weitere wesentliche Reform mit symbolischer Bedeutung war 2016 die Einführung des "Anti-Stasi-Gesetzes" (ustawa dezubekizacyjna). Es reduziert die Renten der Geheimdienstoffiziere der Volksrepublik Polen und war eine Form der Rache an den Angestellten des Repressionsapparates. Die Rente wird nach dem Prinzip null Prozent der Bemessungsgrundlage für jedes Jahr Dienst an dem totalitären Staat berechnet. Darüber hinaus kann die Rente die von der Rentenanstalt ausgezahlte Durchschnittsrente nicht übersteigen (zirka 1.800 Zloty, zirka 425 Euro im Jahr 2019), unabhängig davon, wie viele Jahre die Person nach 1990 noch gearbeitet hat. Viele Betroffene haben bei Gericht Berufung eingelegt (es handelt sich um fast 19.000 Fälle). Das Gesetz wird nicht nur als unrechtmäßige Beschränkung erworbener Rechte kritisiert, sondern auch dafür, dass die Gruppe der Betroffenen zu groß gefasst ist und auch die umfasst, die in der Realität keine operativen Tätigkeiten für die Volksrepublik durchgeführt hatten.

Nicht eingelöste Versprechen

Schließlich sollen kurz einige wesentliche Versprechen der PiS aus dem Parlamentswahlkampf 2015 und den Folgejahren genannt werden, die nicht umgesetzt wurden.

Die Ankündigung, im Rahmen des Programms "Wohnung+" bis zum Jahr 2030 eine Million günstiger Mietwohnungen zu bauen, fiel in einem Land mit einer der niedrigsten Wohnflächen pro Einwohner auf fruchtbaren Boden. Nach vier Jahren Regierungszeit der PiS sind knapp 900 Wohnungen zur Nutzung freigegeben, das heißt weniger als ein Promille des Plans. Das hat u. a. damit zu tun, dass die Möglichkeiten falsch eingeschätzt wurden, Baugrundstücke des Staatsschatzes und der Selbstverwaltungseinheiten zu erhalten. Auch ist es nicht gelungen, die Ankündigung niedriger Mieten einzulösen.

Unter dem Einfluss von Massenprotesten verschiedener Gruppen im Gesundheitswesen im Herbst 2017 unterzeichnete die PiS die Vereinbarung, die Ausgaben für das öffentliche Gesundheitswesen auf sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben, die Gehälter zu erhöhen und mehr Stellen für die Facharztausbildung zu schaffen. Trotz des nominalen Anstiegs der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen ab dem Jahr 2018 sank ihr Anteil am BIP im Vergleich zur der Zeit vor den Protesten. Mit Ausgaben in Höhe von 4,4 Prozent des BIP im Jahr 2015 lag Polen deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 7,2 Prozent. Infolge der mangelnden Funktionsfähigkeit der öffentlichen Gesundheitsdienste sind die Patienten gezwungen, sich an private Einrichtungen zu wenden – und geben für die private Behandlung zirka zwei Prozent des BIP aus. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (engl. OECD) (2015) kommen in Polen auf 1.000 Menschen 2,3 Ärzte, während der Durchschnitt in den Länder der OECD 3,3 und in den Staaten der EU 3,4 beträgt. Im Bereich der Gesundheitsfürsorge hat die PiS ihre Versprechen, kostenfreie Medikamente für Schwangere und kostenlose Schulessen für die Kinder einzuführen und die Warteschlangen zu den Fachärzten aufzulösen, nicht gehalten. Es gelang also nicht, den Kollaps im Gesundheitssystem aufzuhalten.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

Dominik Owczarek ist Direktor des Programms "Sozialpolitik" am Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau (Instytut Spraw Publicznych/ISP, Warszawa). Seine Forschungsgebiete sind die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Dazu erschienen u. a. "Social Inclusion in Poland: Catching Up at an Uneven Speed" (2017) zusammen mit Christian Keuschnigg, und "Poland – When fear wins: causes and consequences of Poland’s populist turn" [in:] "Nothing to Fear but Fear Itself? Mapping and responding to the crisis culture and politics of fear in the European Union" (2017) zusammen mit Jacek Kucharczyk, Aleksander Fuksiewicz und Małgorzata Druciarek.