Zusammenfassung
Die Verfassung der Republik Polen legt fest, dass sich das System der Republik Polen auf die Teilung und das Gleichgewicht zwischen der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt gründet. Zurzeit führt die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) eine umfangreiche Justizreform durch, die sowohl im Inland als auch international Besorgnis und Proteste hervorruft. Die Europäische Kommission leitete unlängst ein Verfahren gegen Polen ein. Die Änderungen würden die Verfassung und die Unabhängigkeit der Gerichte verletzten, so die Hauptvorwürfe der Kritiker. Die Autorin beschäftigt sich in der Analyse vor allem mit der Reform des Landesjustizrates (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS) und des Obersten Gerichts (Sąd Najwyższy).
Allgemeine Bemerkungen
In einem bisher nicht gekannten Ausmaß werden zurzeit Veränderungen im polnischen Justizwesen vollzogen. Sie betreffen die allgemeinen Gerichte, das Oberste Gericht (Sąd Najwyższy), den Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS) und das Verfassungstribunal (Trybunał Konstytucyjny).
Die Verfassung der Republik Polen legt in Artikel 10, Absatz 1 fest, dass sich das System der Republik Polen auf die Teilung und das Gleichgewicht zwischen der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt gründet. Das grundsätzliche Problem der Änderungen ist die Frage der Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung sowie der tiefgehende Eingriff der Exekutive und der Legislative in das Funktionieren der rechtsprechenden Gewalt.
Das Bestreben, Änderungen im Justizwesen durchzuführen, hat den Ausschluss einer großen Gruppe von Richtern des Obersten Gerichts und der Ersten Präsidentin dieses Gerichts zur Folge sowie deren Ersetzung durch Richter, die dem Staatspräsidenten vom neu berufenen KRS genannt wurden. Die Folgen sind außerdem die Neugestaltung des KRS durch die Legislative, die Schaffung eines neuen Systems der Disziplinarverantwortung der Richter sowie der Austausch der Präsidenten der allgemeinen Gerichte. Negative Veränderungen für das gesamte Justizwesen ergeben sich aus der größeren Kontrolle der Exekutive über die Gerichte.
Diese Probleme wurden im Bericht des UN-Sonderberichterstatters über die Unabhängigkeit der Richter und Juristen in Polen festgehalten, der auf der 38. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates im Juni/Juli 2018 vorgestellt wurde (United Nations General Assembly A/HRC/38/38/Add. 1). Die Empfehlungen des Berichts beziehen sich auf die Reform des gesamten Justizwesens. Im Reformprozess sind außer der Beteiligung der rechtsprechenden, der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt auch die Beteiligung des Bürgerrechtsbeauftragten und der Zivilgesellschaft notwendig, unterstreicht der Sonderberichterstatter. Die Reformen sollten in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE)/Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), der Venedig-Kommission und der Europäischen Kommission durchgeführt werden. Der Sonderberichterstatter weist auf das politische Klima hin, in dem die Reformen umgesetzt werden. Es handele sich um eine breit angelegte, auf die Gerichte zielende Kampagne, die das Vertrauen in die Gerichte in Polen in Frage stelle. Der Bericht bezieht sich auch auf das Verfassungstribunal, dessen Zusammensetzung und Veröffentlichung der Urteile von der Exekutive abhängig gemacht wurden.
Bei dem Gesetz über die Struktur der allgemeinen Gerichte wurden die willkürlichen Befugnisse des Justizministers im Bereich der Ernennung und Absetzung von Gerichtspräsidenten kritisiert und die Einführung eines neuen Renteneintrittsalters für Richter sowie die ebenfalls willkürlichen Befugnisse des Justizministers, die aktive Tätigkeit der Richter bis zum Alter von 70 Jahren verlängern zu können. Die Fragen des Rentenalters betreffen nicht nur die Richter der allgemeinen Gerichte, sondern auch des Obersten Gerichts, die Kraft des neuen Gesetzes mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen, es sei denn, der Staatspräsident willigt in die Berufstätigkeit bis zum 70. Lebensjahr ein. Darüber hinaus riefen die Aufhebung der in der Verfassung festgelegten Amtszeit der Ersten Präsidentin des Obersten Gerichts, die automatische Versetzung der Richter der Militärkammer des Obersten Gerichts in den Ruhestand, die Einführung einer Schöffenkammer, die sich mit außerordentlichen und disziplinarischen Beschwerden befasst, ernstzunehmende Einwände des Sonderberichterstatters hervor.
Der letzte kritisierte wichtige Aspekt der Reform ist die Durchführung der Änderungen im Gesetz über den Landesjustizrat. Hier geht es sowohl um dessen Zusammensetzung und um die Aufhebung des Grundsatzes, dass 15 Mitglieder von Richtern gewählt werden, als auch um die Verkürzung der bisher geltenden Amtszeit des Rates.
Diese Änderungen haben massenhaft gesellschaftliche Proteste hervorgerufen. Sie sind ein überdeutliches Indiz dafür, dass von den internationalen Standards der Unabhängigkeit der Justiz abgewichen wird.
Der Landesjustizrat
Die besondere Stellung, Wächter über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu sein, hat der Landesjustizrat inne, ein unabhängiges Verfassungsorgan, das es seit 1990 gibt. Eine seiner Aufgaben ist es, dem Staatspräsidenten nach entsprechender Bewertung der Kandidaten die Vorschläge für die Berufung der Richter vorzulegen. Im Jahr 2017 verabschiedete der Sejm ein neues Gesetz über den Landesjustizrat, gegen das der Staatspräsident infolge großer gesellschaftlicher Proteste sein Veto einlegte. Nach einer weiteren Novelle Ende 2017 trat das KRS-Gesetz schließlich am 17. Januar 2018 in Kraft.
Nach der neuen gesetzlichen Regelung werden dem Sejm die Kandidaten für die Mitgliedschaft im KRS, die aus der Richterschaft gewählt werden, entweder von einer Gruppe von mindestens 2.000 Bürgern oder von einer Gruppe von 25 Richtern vorgeschlagen. Der Sejm wählt 15 Richter aus der Richterschaft der allgemeinen Gerichte, des Obersten Gerichts, der Militärgerichte und der Verwaltungsgerichte. Insgesamt zählt der KRS 25 Mitglieder (den Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts, den Präsidenten des Hauptverwaltungsgerichts, den Justizminister, eine vom Staatspräsidenten berufene Person, vier vom Sejm bestimmte Abgeordnete, zwei vom Senat gewählte Senatoren sowie 15 Richter).
Die rechtlichen Regulierungen des KRS waren in den verschiedenen legislativen Etappen Gegenstand zahlreicher Stellungnahmen. Eine davon war die des Konsultativen Rates der Europäischen Richter (Consultative Council of European Judges), der schon im Januar 2017 erklärte (Opinion No 20 (2017) – CCJE (2017) 4), dass die entworfenen Rechtsvorschriften nicht die Unabhängigkeit der Gerichte verletzen dürfen, eine solche Situation aber eintreten werde, wenn die Kompetenz, die Mitglieder des KRS zu berufen, von der rechtsprechenden Gewalt auf die gesetzgebende Gewalt übertragen wird. Hervorzuheben ist, dass die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates (Recommendation CM/Rec (2010) 12) es eindeutig als Kompetenz der Richter bestimmt, die Hälfte der Mitglieder des KRS zu berufen.
Die Gruppe der Rechtsexperten der polnischen Stefan Batory-Stiftung (Fundacja im. Stefana Batorego) hat mit Blick auf die Ordnung der Wahl der Richter zum Obersten Gericht darauf hingewiesen, dass "der KRS ein Organ ist, das entgegen Artikel 187 der Verfassung der Republik Polen besetzt wird; dieser gibt dem Sejm das Wahlrecht für vier und nicht für 19 KRS-Mitglieder, und den Richtern, die dem Organ angehören, garantiert er eine vierjährige Amtszeit." Darüber hinaus wurde unterstrichen, dass die Tätigkeiten des KRS einen politischen Charakter haben.
Auf die Fehlerhaftigkeit der verabschiedeten rechtlichen Regulierungen des KRS weist die Polnische Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (International Commission of Jurists) hin, indem sie unterstreicht, dass die Richterschaft aus der Wahlprozedur der KRS-Mitglieder ausgeschlossen und die Mehrheit der KRS-Mitglieder vom Sejm gewählt wurde.
Den kritischen Stimmen zur Gesetzgebung zum Obersten Gericht, den allgemeinen Gerichten und dem KRS schloss sich die Polnische Gesellschaft für Verfassungsrecht (Polskie Towarzystwo Prawa Konstytucyjnego) in ihrem Beschluss vom 12. Juni 2018 an. Sie unterstrich, dass die verabschiedeten Regularien im Widerspruch zum Prinzip des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung sowie der Unabhängigkeit der Gerichte stehen.
Am 23. August 2018 begann der KRS das Wahlprozedere der Kandidaten für das Richteramt am Obersten Gericht, mit dem Ziel, sie dem Staatspräsidenten vorzuschlagen. Viele Nichtregierungsorganisationen und Richterverbände riefen den Staatspräsidenten auf, keine "politischen" Richter an das Oberste Gericht zu berufen. Der erhobenen Einsprüche betrafen sowohl die Tatsache der politischen Instrumentalisierung des KRS als auch Kandidaten, denen in der Vergangenheit ein Disziplinarverfahren auferlegt worden war, sowie einen Kandidaten, der das Eingeständnis der Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verursacht hatte, die Konvention wegen der Anwendung von Folter verletzt zu haben.
Das Prozedere, das die verabschiedete Gesetzesnovelle zum KRS vorschreibt und die Richter des Obersten Gerichts betrifft, wird vom Bürgerrechtsbeauftragten in Frage gestellt, denn es nimmt dem Kandidaten für das Richteramt am Obersten Gericht das Recht, sich im Falle einer negativen Beurteilung an das Oberste Verwaltungsgericht zu wenden, und unterbricht das Verfahren der Besetzung der betreffenden Stelle nicht. Außerdem besteht die begründete Befürchtung eines deutlichen politischen Einflusses der Mitglieder des KRS auf die Beurteilung der Kandidaten für das Richteramt. Eine Bestätigung dieser Befürchtung sind Beispiele, dass der KRS-Vorsitzende abgelehnt hat, dem Obersten Gericht Richter vorzustellen, die eine negative Beurteilung vom KRS erhalten hatten.
Das Oberste Gericht
Das Oberste Gericht war das letzte Glied des Justizwesens, das von politischen Einflüssen noch frei war. Allerdings führte das am 3. April 2018 in Kraft getretene Gesetz viele Änderungen ein, die auf ernstzunehmende Einwände nationaler und internationaler Organisationen stießen. Die Struktur des Gerichts wurde um die Kammer für Kontrolle, Aufsicht und Öffentliche Angelegenheiten erweitert, die sich mit Protesten im Zusammenhang mit Wahlen, der Feststellung der Gültigkeit von Wahlen etc. befassen wird. Es wurde eine Disziplinarkammer berufen, die als "Gericht im Gericht" bezeichnet wird. Die Gehälter ihrer Richter werden im Vergleich zu den übrigen Richtern um 40 Prozent erhöht. Die Militärkammer wurde aufgelöst. Zum ersten Mal wird die Institution des Schöffen eingeführt, der vom Senat gewählt wird. Eine weitere Änderung betrifft die außerordentliche Klage, die man bei Urteilen einlegen kann, die nach dem 17. Oktober 2017 gefällt wurden. Institutionen, die berechtigt sind, Beschwerde einzulegen, sind u. a. der Bürgerrechtsbeauftragte und der Generalstaatsanwalt. Eine ganz wesentliche Veränderung betrifft die Senkung des Rentenalters der Richter von 70 Jahren auf 65 Jahre. Das bedeutet, dass 40 Prozent der Richter in den Ruhestand versetzt werden. Außerdem wurde die Amtszeit der Ersten Präsidentin des Obersten Gerichts aufgehoben und sie entgegen der Verfassung in den Ruhestand versetzt. Sowohl die Venedig-Kommission als auch ODIHR und die Europäische Kommission bewerteten die Einführung dieser Änderungen als Verletzung der internationalen Standards und Gefahr für die Rechtsordnung in Polen. Die willkürlichen Befugnisse des Staatspräsidenten bei der Verlängerung der Zeit der Berufstätigkeit riefen viele Einwände hervor. Viel Kritik weckt der Weg der Berufung der Richter des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts, der vom Staatspräsidenten eingeleitet wird, indem er eine Bekanntmachung über die Anzahl der freien Stellen veröffentlicht. Das Fehlen einer Gegenzeichnung, was bei der Bekanntmachung vom 29. Juni 2018 der Fall war, macht das Verfahren eigentlich ungültig.
Im Juli 2018 leitete die Europäische Kommission wegen des Gesetzes über das Oberste Gericht ein Verfahren gegen Polen ein. Sie vertritt die Meinung, dass die Senkung des Rentenalters und die Aufhebung der Amtszeit der Ersten Präsidentin des Obersten Gerichts das Prinzip der Unkündbarkeit der Richter verletzt. Das Gesetz weckt viele rechtliche Zweifel, daher wandte sich das Oberste Gericht auf der Grundlage von Artikel 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union am 2. August 2018 mit fünf präjudiziellen Fragen an den Europäischen Gerichtshof. Der Ausgangspunkt für die Vorlage der Fragen war die Änderung im Gesetz über das Oberste Gericht, die das Rentenalter der Richter von 70 auf 65 Jahre senkte. Die Änderung betrifft aktuell berufstätige Richter und zieht einen grundsätzlichen Austausch in der Richterschaft nach sich, trotz der bestehenden Garantie des Vorgängergesetzes vom 23. November 2002, das die Ausübung des Richterberufes bis zum 70. Lebensjahr erlaubt. Hinzu kommt, dass die Verfassung in Artikel 180, Absatz 1 die Unkündbarkeit der Richter garantiert, so dass in diesem Falle die Senkung des Rentenalters als Bestreben der Legislative behandelt werden muss, eine bestimmte Gruppe von Richtern auszuschalten, ohne ihnen die Entscheidungsmöglichkeit über einen vorzeitigen Ruhestand zu geben.
Die Fragen des Obersten Gerichts zum Alter der Richter stützen sich auf die Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union, Artikel 19, Absatz 1, Artikel 4, Absatz 3 und Artikel 2 sowie auf Artikel 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und Artikel 47 der Grundrechtecharta. Das Oberste Gericht äußerte auch Zweifel, ob Handlungen der Art wie die Senkung des Rentenalters für Richter nicht die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Richter verletzen. Eine Frage des Obersten Gerichts betrifft auch Befürchtungen der Verletzung der europäischen Richtlinie des Rates 2000/78 EG, die die Gleichbehandlung im Bereich der Anstellung und Beschäftigung betrifft.
Eine weitere fundamentale Frage an den Europäischen Gerichtshof bezieht sich auf das nationale Recht, wenn dessen Vorschriften im Widerspruch mit dem EU-Recht stehen. Sollte in der Situation, dass ein Gericht, das in letzter Instanz das Urteil über Fragen der Zusammensetzung der Richterschaft unter Beteiligung eines Richters spricht, der das 65. Lebensjahr überschritten hat, das EU-Recht und nicht das nationale Recht angewendet werden? Diese Frage, die zur grundlegenden Frage wurde, betraf die Befugnis des Gerichts, gegebenenfalls diejenigen Vorschriften außer Kraft zu setzen, die die Abberufung von Richtern erlauben, um der ausstehenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs Wirksamkeit zu verleihen. Das Oberste Gericht beschloss unter Anwendung der Vorschriften des Zivilgesetzbuches (Artikel 732 und 755, Paragraph 1), die Anwendung des Gesetzes über das Oberste Gericht in den Teilen aufzuheben, die die Richter betreffen, die das 65. Lebensjahr bis zum Tag des Inkrafttreten des Gesetzes beenden bzw. drei Monate nach Inkrafttreten – es sei denn, der Staatspräsident hat sein Einverständnis für die weitere Amtsausübung erteilt. Die Aufhebung bezieht sich auch auf diejenigen Richter, die ihr 65. Lebensjahr in den drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes und vor Ablauf von zwölf Monaten vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes beenden.
Aufgrund der Dringlichkeit der Entscheidungen dieser Fragen durch den Europäischen Gerichtshof beantragte das Oberste Gericht das beschleunigte Verfahren.
Die Maßnahme der präjudiziellen Fragen rief eine enorme politische Kampagne gegen das Oberste Gericht hervor. Es wurde beschuldigt, den Konflikt "ins Ausland" zu tragen. Der Generalstaatsanwalt, der gleichzeitig Justizminister ist, betonte, dass dieses Vorgehen "eine schockierende Übertretung der Kompetenzen des Obersten Gerichts" sei. Die Rhetorik der Politiker in diesem Kontext hatte die Züge einer Verleumdungskampagne gegen die Richter des Obersten Gerichts. Der Generalstaatsanwalt wandte sich an das Verfassungstribunal zur Feststellung der Unvereinbarkeit des normativen Inhaltes der präjudiziellen Fragen mit der Verfassung. Hier ist zu unterstreichen, dass das Verfassungstribunal in diesem Bereich keinerlei Kompetenzen besitzt. Hinzuzufügen wäre die Meinung der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Maciej Gutowski und Prof. Dr. Piotr Kardas: "Indem der Generalstaatsanwalt einen Antrag an das Verfassungstribunal gestellt hat, der in seinem Wesen eine Beschwerde über die Entscheidung des Obersten Gerichts ist, hat er den vorgeschriebenen Rechtsweg übergangen, da er vom Verfassungstribunal verlangt, außerhalb seiner Kompetenzen zu handeln, mit dem Ziel, ein politisch zweifelhaftes Ergebnis zu erlangen."
Gleichzeitig unterstützten Richterverbände, u. a. der Verband Themis, voll und ganz die Entscheidung des Obersten Gerichts und unterstrichen, dass die Tätigkeiten der Exekutive und der Legislative ein alarmierender Bruch des Verfassungsprinzips der Unkündbarkeit der Richter sei. Außerordentlich wichtig ist die Wahrnehmung der von den Politikern der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) angewandten Rhetorik, die die Urteilssprüche des Europäischen Gerichtshofs herabwürdigt, sowie die Ankündigung, dessen Entscheidungen nicht in Kraft treten zu lassen. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt gab offen eine Bekanntmachung heraus, in der er kundtat, dass das Oberste Gericht viele Rechtsbrüche begangen habe, deren Aufhebung nur mit einem Urteil des Verfassungstribunals möglich sei.
Die präjudiziellen Fragen wurden als "Atombombenoption" des Obersten Gerichts bezeichnet. Unter Juristen herrschte die Einschätzung vor, dass zwar das nationale Recht keine Kompetenz einräumt, Vorschriften des nationalen Rechts durch das Oberste Gericht auszusetzen. Aber die unanfechtbare Basis, sich auf der Grundlage des Zivilgesetzbuches abzusichern, sind das EU-Recht und der Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofes und insbesondere die Pflicht, einen wirksamen Rechtsschutz zu gewähren, was sich u. a. aus den Urteilssprüchen in den Fällen Factortame (EuGH C-213/89) und Unibet (EuGH C-432/05) ergibt. Daher würde auch das Handeln des Obersten Gerichts ohne die Entscheidung über die Aufhebung von Gesetzesvorschriften die zukünftigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs wirkungslos machen.
Eine außerordentlich wesentliche Angelegenheit, gewissermaßen die "Achse des Streites" zwischen dem Obersten Gericht und den Politikern der PiS ist der Status der Ersten Präsidentin des Obersten Gerichts, Małgorzata Gersdorf, die 65 Jahre alt ist. Artikel 183, Absatz 3 der Verfassung legt fest, dass der Staatspräsident aus den von der Allgemeinen Richterversammlung des Obersten Gerichts vorgestellten Kandidaten den Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts für eine sechsjährige Amtszeit beruft. Die unkündbare Amtszeit der Ersten Präsidentin des Obersten Gerichts endet im Jahr 2020. Unterdessen hat der Staatspräsident entschieden, dass die Erste Präsidentin des Obersten Gerichts nach Beendigung ihres 65. Lebensjahres in den Ruhestand versetzt wird. Daraufhin hob das Oberste Gericht die Gesetzesvorschrift auf, die dem Staatspräsidenten erlaubt, die Pflichten der Ersten Präsidentin des Obersten Gerichts einem anderen Richter zu übertragen. Der Streit um die aktuelle Erste Präsidentin des Obersten Gerichts ist eindeutig politisch motiviert.
Die präjudiziellen Fragen an den Europäischen Gerichtshof können zum wichtigsten "Verteidigungsinstrument" der nationalen Gerichte werden. Die Antwort auf die präjudiziellen Fragen, aber auch die Möglichkeit, ein Verfahren in der Angelegenheit der Zusammensetzung des Verfassungstribunals anzustrengen und die Befürchtungen hinsichtlich der Verletzung des Rechts auf einen fairen Prozess werden eine außerordentlich wirksame Unterstützung für die nationalen Gerichte sein. Auch die Antworten auf die präjudiziellen Fragen, die von den Gerichten anderer Staaten in polnischen Angelegenheiten gestellt wurden (beispielsweise eine von einem irischen Gericht gestellte Frage zu einer möglichen Auslieferung eines polnischen Staatsbürgers nach Polen), können einen geeigneten Rahmen schaffen, um das polnische Justizwesen zu korrigieren. Die polnischen Gerichte werden immer häufiger präjudizielle Fragen formulieren, die im Wesentlichen die Unabhängigkeit der Gerichte betreffen. Unlängst wandte sich das Kreisgericht in Lodz (Łódź) mit einer Frage über das neu geschaffene Disziplinarverfahren und die Nutzung von Disziplinarmaßnahmen zur politischen Kontrolle von Urteilssprüchen an den Europäischen Gerichtshof. Das neu geschaffene Modell von Disziplinarmaßnahmen gegenüber Richtern sei – so das Gericht – "ein Instrument, um Personen zu entfernen, die den politischen Machthabern nicht genehme Urteile sprechen." Auch das Oberste Gericht hat weitere Fragen an den Europäischen Gerichtshof gerichtet, sie betreffen die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts als unabhängiges Gericht im Sinne des europäischen Rechts, in dem vom KRS gewählte Richter Urteile sprechen werden. Aus der Perspektive des Standards der Unabhängigkeit haben diese Fragen eine enorme Bedeutung für die Beurteilung des polnischen Gerichtswesens.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate