Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Eine Justizreform, die Brücken verbrennt | bpb.de

Analyse: Eine Justizreform, die Brücken verbrennt

Klaus Bachmann

/ 16 Minuten zu lesen

Welche Folgen hat die Justizreform der PiS für Europa und die internationale Zusammenarbeit der Justiz? Gibt es Gewinner oder nur Verlierer mit Inkrafttreten der Justizreform? Entscheidend dafür könnten letztlich EU-Bürger und Gerichte sein.

Der Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny) der Republik Polen mit Sitz in Warschau (© picture-alliance, ZUMAPRESS)

Zusammenfassung

Nach der Justizreform von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) teilen sich die Mehrheit im Parlament, die Regierung und der Präsident den Einfluss auf das Justizwesen. Jede künftige Regierung wird sich mit den höchsten Organen der Rechtsprechung (Verfassungsgericht, Oberster Gerichtshof u. a.), Richtern und Staatsanwälten abfinden müssen, die die PiS nach Kriterien der Loyalität ihr gegenüber ausgesucht hat, wenn sie nicht ihrerseits das Rechtschaos noch weiter vergrößern wollte. Der Autor führt mögliche künftige Folgen der Justizreform der PiS für die internationale justizielle Zusammenarbeit aus: Der Europäische Haftbefehl könnte im Verhältnis zu Polen aufhören zu funktionieren; die justizielle Zusammenarbeit und wechselseitige Anerkennung von Urteilen zwischen Polen, EU-Mitgliedsländern und anderen Staaten könnte zum Erliegen kommen. Denn entscheidend würde sein, ob EU-Bürger, Juristen und ordentliche Gerichte (egal ob in oder außerhalb Polens) noch davon ausgehen, dass Polens Justiz unabhängig und funktional ist. Nach Auffassung des Autors erreicht die PiS-Regierung mit der Verwirklichung der Justizreform ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen, dass alle verlieren: die polnische Regierung, die EU und das polnische Justizwesen.

Die Hoffnungen der Verteidiger des Justizwesens, der Opposition und der Europäischen Kommission auf ein nochmaliges Veto des Präsidenten Andrzej Duda gegen die Justizreform in Polen haben sich nicht erfüllt. Die Ereignisse vom Juli 2017, als der Sejm nach tumultartigen Debatten für die Justizreform gestimmt hatte, zehntausende Menschen aus Protest auf die Straßen gegangen waren und der Präsident gegen zwei der drei Gesetze sein Veto eingelegt hatte, nötigten die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawied­liwość – PiS) dazu, einen Kompromiss entweder mit der Opposition oder mit dem Präsidenten zu suchen. PiS wählte Letzteres. Die Folge ist, dass die Richter und ihre Verbände den Einfluss auf ein funktionsfähiges Gerichtswesen und auf die Besetzung der wichtigsten Funktionen verlieren. Den Einfluss teilen sich jetzt Parlamentsmehrheit, Regierung (hier vor allem der Justizminister) und Präsident. Das ist gewiss für all jene eine Erleichterung, die im Justizwesen eine Bastion des Postkommunismus, der Korruption und der vom einfachen Volk entfremdeten Provinzeliten sehen.

Die Opposition irrt sich aber, wenn sie das als "Politisierung" der Justiz betrachtet. Das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) und im geringeren Maße auch der Oberste Gerichtshof (Sąd Najwyższy) und der Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa) sind bereits politische Institutionen. Die jetzige Reform entzieht sie der Elite der Juristen, gibt sie aber nicht in die Hand der Bürger, sondern in die der Regierenden, z. B. derer, die eigentlich vom Verfassungsgericht, dem Obersten Gericht und dem Landesjustizrat gemäß der Verfassung kontrolliert und in ihrer Macht beschränkt werden sollen. Der Bürger, der bisher beim Gericht nicht erledigen konnte, was er erreichen wollte, und der nicht wusste, an wen er sich wenden sollte, wird dies nun wissen: an das nächstliegende PiS-Wahlkreisbüro. Denn in Zukunft wird in Polen niemand mehr Richter am Obersten Gericht, wenn er nicht zuvor durch das Sieb des Präsidenten gegangen ist, niemand erhält eine Stelle beim Landesjustizrat ohne Zustimmung der Fraktion der PiS und niemand wird Richter am Verfassungsgericht gegen den Willen der PiS und des Präsidenten. Kaum jemand hat bemerkt, dass Andrzej Duda eine Reinterpretation der Verfassung vorgenommen hat, indem er die Vereidigung einiger Verfassungsrichter verweigerte. Diese zu vereidigen, war bis dahin eine Muss-Vorschrift, aus der er mit seiner Verweigerung eine Kann-Vorschrift gemacht hat, deren Nichterfüllung nicht einmal eine Begründung erfordert.

Auf diese Weise veränderte die PiS ein weiteres Mal de facto das polnische System, wobei die PiS die Verfassung de jure unverändert ließ. Diese Veränderung stärkt die Regierung sehr, und zwar auf Kosten des Parlaments und des Präsidenten. Was nützt dem Präsidenten nun seine Kontrolle über den Obersten Gerichtshof, wenn er – und das auch noch mit eigenem Zutun – die Möglichkeit verloren hat, Gesetze unwiderruflich zu blockieren? Nach der Verfassung kann er vom Parlament verabschiedete Gesetze zwar per Veto blockieren, doch ein solches Veto kann das Parlament mit qualifizierter Mehrheit (die die PiS-Parlamentsmehrheit zurzeit nicht hat) überstimmen. Das Gesetz tritt dann trotzdem in Kraft. Oder er kann ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz dem Verfassungsgericht zur Prüfung überweisen. Verwirft es das Gesetz, kann es nicht in Kraft treten, und das Parlament erhält nicht einmal mehr die Möglichkeit, es zu beraten. Indem sich der Präsident daran beteiligt hat, das Verfassungsgericht zu entmachten, hat er sich selbst dieses Schwert aus der Hand geschlagen.

Der Präsident selbst scheint nicht mehr an die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts zu glauben. Als er ihm den Gesetzentwurf zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit überwies, winkte das Verfassungsgericht diesen einfach durch. Als er sich im Juli 2017 entschloss, die evident gegen die Verfassung verstoßenden Novellen zum Obersten Gerichtshof und dem Landesjustizrat zu verhindern, tat er dies per Veto. Auch das Gesetz über die Degradierung kommunistischer Offiziere und Geheimdienstler stoppte er so. Nur das polnische "Holocaust-Gesetz", das er nicht komplett, sondern nur in Teilen verhindern wollte, übersandte er dem Verfassungsgericht, nachdem er es zuvor unterzeichnet hatte.

Der Hintergrund ist, dass der Präsident nach der polnischen Verfassung die Unterzeichnung eines Gesetzes ablehnen und dieses stattdessen an das Verfassungsgericht zur Prüfung überweisen kann. Wird es vom Verfassungsgericht in Gänze für verfassungskonform befunden, muss er es anschließend unterzeichnen und es tritt in Kraft. Er kann ein Gesetz aber auch unterzeichnen und dem Verfassungsgericht zur Prüfung geben, dann tritt es sofort in Kraft, und kann später teilweise oder ganz vom Verfassungsgericht wieder aufgehoben werden. Für das erstgenannte Verfahren benötigt das Verfassungsgericht ein höheres Richterquorum als für das zweitgenannte Verfahren. Das "Holocaust-Gesetz" (das vor allem von ausländischen Medien so getauft wurde, tatsächlich aber die strafrechtliche und zivile Verantwortlichkeit bei Verunglimpfung des polnischen Volkes und Staates und den Status des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej – IPN) und privater Nichtregierungsorganisationen bei der Verfolgung solcher Straftaten regelt) wurde vom Präsidenten nicht blockiert, sondern unterzeichnet (trat also zunächst in Kraft) und danach dem Verfassungsgericht zur Prüfung übersandt, das noch nicht darüber geurteilt hat.

Innenpolitisch und was das Funktionieren der in der Verfassung geregelten Institutionen angeht, hat die Regierung ihre Ziele erreicht, und das ist unumkehrbar geworden. Daran ändert selbst der Druck aus dem Ausland nichts, denn diese Reform kann niemand mehr rückgängig machen, nicht einmal die Regierung selbst. Manche Oppositionspolitiker träumen zwar davon, nach einer Abwahl der PiS einfach ein Gesetz zu verabschieden, mit dem alle institutionellen Reformen der PiS rückgängig gemacht würden, doch das würde kein einziges Problem lösen. Egal, ob die PiS bei den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission über die Rechtsstaatlichkeit einen Rückzieher macht oder die Parlamentswahlen im nächsten Jahr haushoch verliert (beides ist wenig wahrscheinlich) – jene regierungstreue Richter, die die Regierung in den letzten Monaten eingesetzt hat, bleiben im Amt und könnten nur auf zwei Wegen wieder abgesetzt werden: durch einen erneuten Verfassungsbruch oder durch die langwierige, komplizierte und politisch so gut wie ausgeschlossene Verabschiedung einer neuen Verfassung. Jede künftige Regierung, die nicht ihrerseits ebenfalls einen Verfassungsbruch begehen will, muss mit jenen Richtern und Staatsanwälten regieren, die die PiS nach Kriterien von Loyalität und Parteilichkeit ausgesucht und in Amt und Würden gebracht hat. Oder besser gesagt: Jede künftige Regierung müsste gegen ein Verfassungsgericht regieren, das bemüht wäre, eine juristische Aufarbeitung der PiS-Regierung ebenso zu verhindern wie ein Aufrollen der von der Partei vorgenommenen Reformen. Das gleiche gilt für den Obersten Gerichtshof. Wenn nun die Europäische Kommission versucht, diese Gremien besser gegen parteipolitische Einflussnahme abzuschirmen, so schützt sie damit paradoxerweise jenen Status quo, den die PiS erst geschaffen hat, vor Reformen jeder möglichen PiS-Nachfolgeregierung. Tut sie das aber nicht, behält die jetzige Regierung alle Einflussmöglichkeiten, die sie sich geschaffen hat, um die Unabhängigkeit der Justiz einzuengen.

Doch nicht nur juristisch, auch politisch hat die PiS einen "Wald ohne Wiederkehr" gepflanzt, denn es ist wenig wahrscheinlich, dass die Partei nach einer Wahlniederlage 2019 völlig aus dem Parlament verschwindet. Jede Nachfolgeregierung wird damit nicht nur mit einem PiS-Präsidenten zu tun haben, dessen Veto-Macht wie ein Damoklesschwert über ihr schwebt, sondern auch mit der PiS im Parlament, die durch das Verfassungsgericht vor jeglicher Unbill geschützt sein wird. Dass unter solchen Bedingungen Reformen zurückgedreht werden können, die die Macht der PiS erst begründet haben, ist wenig wahrscheinlich. Es könnte nur geschehen, wenn sich die Partei in mehrere feindliche Lager aufspaltet.

Daher sind allzu weitreichende Hoffnungen, dass die PiS in den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission nachgeben werde, fehl am Platz. Ein Kompromiss kann den Inhalt der Reformen gar nicht betreffen, sondern nur die Symbolik. Was gesucht wird, ist nicht, wie man die Justiz unabhängig von Regierung und Regierungspartei macht, sondern wie man eine Beschreibung dieser Reformen und einige kosmetische Veränderungen findet, die es allen Seiten erlaubt, ihr Gesicht zu wahren und das Endergebnis gegenüber ihrer Klientel als Erfolg zu verkaufen.

Wichtiger als ein solcher Kompromiss ist deshalb etwas anderes, nämlich wie wir alle – Regierung, Bürger, Institutionen (egal ob polnische oder ausländische) – mit der Lage in Polen umgehen. Dabei geht es weder um die Anwendung des Artikel 7 des EU-Vertrages noch um EU-Sanktionen gegen Polen, es geht nicht einmal darum, ob Polen (und eventuell andere EU-Staaten mit Problemen der Rechtsstaatlichkeit) durch eine Kürzung von EU-Transferleistungen im nächsten Finanzrahmen bestraft werden. Um das zu verstehen, ist es notwendig einige der ersten Folgen der polnischen Reformen zu beschreiben.

Die Europäische Kommission oder der Europäische Rat mögen Polens Justiz noch für unabhängig halten oder sie mögen sie im Rahmen eines wie auch immer gearteten Kompromisses mit einem solchen Gütesiegel versehen. Entscheidend ist aber, ob EU-Bürger, Juristen und ordentliche Gerichte (egal ob in oder außerhalb Polens) noch davon ausgehen, dass Polens Justiz unabhängig und funktional ist. Das ist offensichtlich nicht mehr der Fall. Ich erhalte Briefe von besorgten Bürgern aus EU-Mitgliedsstaaten, die befürchten, dass sie wegen der Möglichkeit der "außerordentlichen Klage", die der Präsident in das Gesetz über den Obersten Gerichtshof aufnehmen ließ, und aufgrund der "Säuberung" des Obersten Gerichts ihre einst in Polen gekauften Immobilien verlieren. Die außerordentliche Klage ermöglicht es Bürgern, über bestimmte staatliche Agenturen beim Obersten Gerichtshof bereits ergangene und rechtskräftige Urteile aufheben zu lassen. Diese Bestimmung wurde auf Betreiben von Präsident Duda in das Gesetz über den Obersten Gerichtshof (das er zunächst mit seinem Veto blockiert hatte) aufgenommen und ist inzwischen (zusammen mit dem Gesetz) in Kraft getreten. Ein anderes Beispiel: Die von einem polnischen Gericht wegen der Verwendung des Terminus "polnische Lager" verurteilte deutsche Fernsehanstalt ZDF versucht seit Monaten vergeblich, deutsche Gerichte zu überzeugen, dass man dieses Urteil in Deutschland nicht anerkennen kann, "weil polnische Gerichte nicht unabhängig sind." Man kann das abtun als übertriebene Ängste oder als mala fide-Argumentation einer Partei, die sich mit ihrer Niederlage vor deutschen und polnischen Gerichten nicht abfinden konnte, aber dann sollte man auch wissen, dass die deutschen Gerichte, die die Klage gegen das ZDF behandelten, nicht einfach nur die polnischen Urteile in Deutschland durchgesetzt, sondern auch inhaltlich geprüft haben.

Das ist bei Zivilklagen eher ungewöhnlich, denn innerhalb der EU erkennen Zivilgerichte Urteile aus anderen EU-Staaten in der Regel anstandslos an. Sie tun das auch im Rahmen von Strafverfahren und Haftbefehlen, in der Regel durch die Anwendung des 2002 von der EU verabschiedeten Europäischen Haftbefehls (EH). Anders als bei internationalen Haftbefehlen und Auslieferungsbegehren von Nicht-EU-Staaten prüfen Richter dabei nicht mehr, ob einen Angeklagten in einem anderen Land ein faires Verfahren erwartet oder ob ihm die Todesstrafe oder politische Diskriminierung drohen. Doch im Februar 2018 sorgte eine irische Richterin für einen Eklat, der durch die gesamte polnische und einen Großteil der europäischen Presse ging. Mit der Begründung, Polen habe weitreichende Probleme mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze, lehnte sie die Auslieferung eines polnischen Verdächtigen im Rahmen des EH ab und bat den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg um eine Stellungnahme im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens. Dabei können nationale Gerichte in EU-Mitgliedsländern den EuGH um eine Auslegung bitten, bevor sie in einer Entscheidung EU-Recht im nationalen Rahmen anwenden. Gerichte der zweiten Instanz sind sogar verpflichtet, bei Zweifeln diesen Weg zu wählen. Der EuGH nimmt dann zu den EU-rechtlichen Aspekten des Falles Stellung, was jedoch die Entscheidung des anfragenden Gerichts nicht ersetzt. Solche EuGH-Entscheidungen dienen aber bei der nationalen Anwendung von EU-Recht als Leitlinien für die nationalen Gerichte. In den nächsten Wochen wird der EuGH somit eine Stellungnahme bekanntgeben, von der für alle nationalen Gerichte eine Signalwirkung bei der Anwendung des EH ausgehen wird. Stellt der EuGH fest, dass Polens Justiz nicht mehr unabhängig ist, würden damit Auslieferungen nach Polen im Rahmen des EH de facto blockiert. Der EH würde im Verhältnis zu Polen aufhören zu funktionieren.

Darüber hinaus liegt es im Ermessensspielraum jedes einzelnen Straf- und Zivilgerichts in der EU, bei Angelegenheiten mit Bezug zu Polen selbst einzuschätzen, ob eine in Polen ergangene Entscheidung anerkannt und umgesetzt werden kann. Wie die Gerichte das tun, wird von höherinstanzlichen Urteilen, vom EuGH und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg beeinflusst, einen großen Einfluss darauf hat aber auch, ob Kläger, Beklagte, Angeklagte, Verteidiger und Staatsanwaltschaften Polens Justiz noch für unabhängig und fair halten. Tun sie das nicht, wird ein jeder Anwalt, dessen Mandant von der Anerkennung oder Durchsetzung einer polnischen Entscheidung Nachteile befürchtet, zunächst einmal vor Gericht argumentieren, Polen sei kein Rechtsstaat mehr, womit jeder einzelne straf- oder zivilrechtliche Prozess mit Polenbezug auch zu einer Verhandlung über den Zustand der polnischen Justiz wird. Überschreitet die Zahl von Entscheidungen, die Polen die Rechtsstaatlichkeit absprechen, eine gewisse kritische Masse, kommt die justizielle Zusammenarbeit zwischen Polen und anderen EU-Mitgliedsländern zum Erliegen. Das gleiche tritt dann nach einiger Zeit auch im Verhältnis Polens zu demokratischen und rechtsstaatlichen Ländern außerhalb der EU ein, z. B. im Verhältnis zu Kanada, den USA, Australien, der Schweiz und Norwegen.

Es ist damit zu rechnen, dass dann auch die der polnischen Regierung unterstellten polnischen Gerichte beginnen, ausländische Gerichtsurteile nach ihrem Maß zu messen und dass sie aufhören, den EH und ausländische Urteile in Polen anzuwenden. Nach einigen Jahren findet das System gegenseitiger Anerkennung von Urteilen im Rahmen der Europäischen Union dann in Bezug auf Polen ein Ende. Das muss die jetzige Regierung Polens nicht kümmern, denn ihre Amtszeit endet, bevor dies alles geschieht. Bekümmern sollte sie mehr, dass dieser fortschreitende Zerfall des Systems wechselseitiger Anerkennung von Urteilen durch zwei Faktoren stark beschleunigt werden kann.

Der erste Faktor ist das internationale Justizwesen. Wenn das Tribunal für Menschenrechte oder der Internationale Gerichtshof der Europäischen Union in einer die Justizreform betreffenden Frage ein für die polnische Regierung negatives Urteil fällt, wird dies von den Gerichten, den Staatsanwaltschaften und der Polizei in anderen EU-Staaten (sowie in vielen nicht zur EU gehörenden Ländern) als Verbot einer Zusammenarbeit mit den entsprechenden Institutionen in Polen interpretiert werden. Dann wird die Beweislast bei einzelnen Verfahren in den Mitgliedsstaaten bei jener Seite liegen, die feststellt, dass das Gerichtswesen in Polen unabhängig ist und dass polnische Urteile zu respektieren sind. Noch liegt sie bisher meist auf den Schultern der Seite, die behauptet, Polen sei kein Rechtsstaat mehr, obwohl der Fall aus Irland deren Argumentation enorm gestärkt hat.

Der geheimnisvolle Artikel 64

Doch es bedarf gar nicht internationaler Gerichte, um die polnische Justizreform in den Augen der Welt zu diskreditieren. Das haben nämlich Regierung und Parlament schon selbst besorgt, indem sie in dem gerade in Kraft getretenen Gesetz zum Obersten Gerichtshof eine Mine legten, die nicht nur jeden Augenblick explodieren, sondern die jederzeit von den Stammwählern der Partei gezündet werden kann. Die Rede ist von Artikel 64, der lautet:

"Der Oberste Gerichtshof erklärt auf Antrag des Generalstaatsanwalts ein rechtskräftig getroffenes Urteil für ungültig, das in einer Sache gefällt wurde, die im Augenblick des Urteils bezüglich der Person nicht der Zuständigkeit polnischer Gerichte unterlag oder für die zur Zeit der Urteilsfindung der Rechtsweg nicht zulässig war, falls im Rahmen des in den Gesetzen vorgesehenen Verfahrens kein neues Urteil getroffen werden kann."

Das ist keine hübsche Formulierung, und sie ist leichter zu begreifen, wenn wir unter "Person" sowohl eine physische als auch eine juristische Person verstehen, ja selbst einen anderen Staat, und wenn wir dies mit einem von PiS-Abgeordneten beim Verfassungsgericht eingereichten Antrag verbinden, die Immunität von anderen Staaten, wie sie im zivilrechtlichen Kodex enthalten ist, auf Übereinstimmung mit der Verfassung zu überprüfen. Artikel 64 ermöglicht dem Generalstaatsanwalt, also dem Justizminister, die Immunität eines anderen Staates durch den Obersten Gerichtshof aufzuheben. In der polnischen Rechtsordnung resultiert die Immunität aus der Verfassung, die dem internationalen Recht gegenüber dem Landesrecht Vorrang verleiht, und nach internationalem Gewohnheitsrecht genießen Staaten vor Gerichten anderer Staaten Immunität. Das stellte der Oberste Gerichtshof zuletzt 2012 fest, als ein Einwohner aus der Region Lublin, der bei einem Massaker durch deutsche Soldaten Verbrennungen erlitten hatte, versucht hatte, die Bundesrepublik Deutschland vor einem polnischen Gericht zu verklagen.

Wenn der von der Regierung abhängige, ihr gegenüber loyale und "gesäuberte" Oberste Gerichtshof aufgrund eines Antrags des Generalstaatsanwalts dieses Urteil von 2012 aufhebt und das von der Regierung beherrschte Verfassungsgericht die Immunität fremder Staaten für verfassungswidrig erklärt, dann können während der deutschen Besatzung Geschädigte vor polnischen Gerichten Entschädigungen einklagen. Diese Urteile werden zwar von Gerichten anderer Staaten nicht anerkannt (denn dort genießt die Bundesrepublik wie jeder andere Staat nach wie vor Immunität), aber dann können polnische Kläger Vollstreckungsurteile erwirken, mit deren Hilfe Gerichtsvollzieher Eigentum des deutschen Staates konfiszieren können. Polen muss dann nicht mehr mit der deutschen Regierung über Reparationen verhandeln, Polen kann sie einfach an sich nehmen.

Doch das wird zugleich ein klares und zweifelsfreies Signal für die gesamte Welt sein, dass das polnische Gerichtswesen in Absprache mit der Regierung handelt und dass Polen nicht mehr den Vorrang des internationalen vor dem eigenen Recht anerkennt. Und das wird ein Zeichen sein, mit Polen besser keine Vereinbarungen einzugehen und keine Verträge zu schließen, weil diese später durch den polnischen Justizapparat aufgehoben werden können.

Die Staatenimmunität ergibt sich jedoch nicht nur aus der polnischen Rechtsordnung, sondern auch aus einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs, und dies zu ändern, ist keine polnische Regierung in der Lage. Polen ist Mitgliedsstaat der Europäischen Konvention zur friedlichen Beilegung von Konflikten aus dem Jahr 1957, die Polen verpflichtet, sämtliche Auseinandersetzungen mit anderen Mitgliedern der Jurisdiktion des Internationalen Gerichtshofes zu unterstellen. Die Konfiszierung von Eigentum eines anderen Staates bleibt also weiterhin illegal, selbst wenn der Oberste Gerichtshof Polens und das Verfassungsgericht anders entscheiden. Polen kann nach dem Vorbild von Griechenland und Italien deutsches Eigentum auf seinem Territorium beschlagnahmen, aber Polen verliert dann wie Italien und Griechenland vor dem Internationalen Gerichtshof, und sollte Polen ein solches Urteil nicht akzeptieren, würde es sofort in Konflikt mit den übrigen Mitgliedern des Europarates und der Europäischen Union geraten.

Deutschland verfügt über keinen großen Besitz in Polen, denn zu dem Eigentum, das nach einem polnischen Verfahren konfisziert werden könnte, zählen weder Privatbesitz noch Konsularbesitz. Beides ist aufgrund beiderseitiger Abkommen geschützt, und seine Enteignung würde Polen mit Retorsionen bedrohen. Man kann bezweifeln, ob dieses Spiel die Sache wert ist: Einige oder einige Dutzend Millionen Zloty für den Verlust der Mitgliedschaft im Europarat und das Ende der Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten im Rahmen der Europäischen Union.

Vielleicht möchte die Regierung Artikel 64 ja auch gar nicht anwenden, sondern nur als eine Art Damoklesschwert über ihren Reparationsforderungen schweben lassen. Doch er kann sich auch leicht in ein Damoklesschwert für die polnische Regierung selbst verwandeln, nämlich dann, wenn deren radikalste Anhänger beschließen, mit seiner Hilfe die Regierung vor sich herzutreiben – und zwar nicht nur in Bezug auf Deutschland. Das Geniale an der Art und Weise, wie Artikel 64 konstruiert ist, bringt es mit sich, dass man damit nicht nur die Immunität der Bundesrepublik, sondern auch jedes anderen Staates aufheben kann. Man kann Artikel 64 also nutzen, um Russland auf Entschädigungen für die Massaker von Katyn zu verklagen, für die Flugzeugkatastrophe von Smolensk oder dazu, um die Rückgabe des Flugzeugwracks von Smolensk zu erzwingen. Es wird also interessant sein, zu sehen, ob die Anhänger des entthronten Verteidigungsministers Antoni Macierewicz auf die Idee kommen werden, diesen Artikel zu nutzen, um auf die Regierung bezüglich der Beziehungen zu Deutschland und Russland Druck auszuüben. Wie wollte die Regierung dann begründen, dass sie sich zwar ein solches Instrument verschafft hat, es aber in Fragen, die sie selbst für richtig und wichtig hält, gar nicht anwenden will?

Die Anwendung von Artikel 7 des EU-Vertrages auf die polnische Regierung ist nur einer der außerpolnischen Aspekte der Justizreform und nicht einmal der allerwichtigste. Es ist ohne Belang, ob sie mit dem Entzug des Stimmrechts für Polen im Europäischen Rat der Union enden wird oder mit späteren finanziellen Sanktionen. Schon die Abstimmung nach Artikel 7.1 auf der Grundlage von 4/5 der Staaten kann von der Rechtsprechung in anderen Staaten ähnlich wie ein Urteil der Tribunale in Straßburg und Luxemburg verstanden werden; die Folgen in Form einer Änderung der Einstellung bei Gerichten, den Staatsanwaltschaften und der Polizei können die gleichen sein, und dies gänzlich unabhängig vom Willen der Regierungen und europäischen Institutionen. Außerhalb Polens und Ungarns müssen sich nämlich Gerichte und Staatsanwaltschaften nicht nach ihrer Regierung richten.

Gulliver fesselt sich selbst

Mit der Verwirklichung der Justizreform ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen verbrannte die Regierung hinter sich die Brücken – sie muss nun weiter waten, denn zurück kann sie nicht mehr, selbst wenn sie dies wollte. Es ist ein Spiel, bei dem am Ende alle verlieren: Die Regierung handelt sich auf internationaler Ebene alle oben beschriebenen Probleme ein, doch ohne deshalb im eigenen Land mehr Unterstützung zu gewinnen. Die EU erreicht nichts, denn niemand wird in der Lage sein, die Folgen dieser Reformen rückgängig zu machen, und die Bürger werden ein parteiabhängiges und zugleich dysfunktionales Gerichtswesen haben.

Die Regierung wird in einer ähnlichen Lage wie Gulliver sein – groß und mächtig wird sie aussehen, obwohl sie doch von vielen Zwergen gefesselt wurde. Nur einen Unterschied zu Gulliver gibt es: Die Zwerge, die sie fesseln, hat sie selbst gerufen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Theo Mechtenberg, redigiert und auf den neusten Stand gebracht von Klaus Bachmann

Quelle: Klaus Bachmann, Reforma spalonych mostów, Tygodnik Powszechny vom 04.02.2018, S. 18–20.

Fussnoten

Prof. Dr. habil. Klaus Bachmann, Politologe und Historiker, ist Professor am Institut für Sozialwissenschaften der SWPS Uniwersytet, Warschau. Seine Untersuchungsschwerpunkte sind die europäische Integration und die neueste europäische Geschichte, insbesondere "Transitional Justice" und internationales Strafrecht.