Zusammenfassung
Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Polen sind stark fragmentiert sowie durch eine geringe Mitgliederzahl charakterisiert. Begründen lässt sich dies mit dem historischen Erbe, der Organisations- und Unternehmensstruktur sowie einer nicht hinreichenden Beteiligung am politischen Prozess. Zur besseren Einordnung der Situation der Interessenverbände in Polen wird die Lage in anderen europäischen Ländern vergleichend hinzugezogen. Im Ausblick werden politische Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt.
Gewerkschaften in Polen
Für die Darstellung der Gewerkschaften in Polen drängt sich die Metapher eines Puzzles auf: Ein Puzzle ist durch Einzelteile gekennzeichnet, die sich zu einem großen Ganzen zusammensetzen lassen, wenn die richtigen Teile ineinandergesteckt werden. Die Einzelteile lassen sich zusammenfügen, wenn sie aus der ursprünglichen Einheit herausgetrennt wurden. Als eine solche Einheit lässt sich für die jüngere Zeit der Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaftsbund "Solidarność" (Niezależny Samorządny Związek Zawodowy – NSZZ "Solidarność") auffassen, der 1980 aus einer großen Streikbewegung hervorging und in den 1980er Jahren internationale Aufmerksamkeit bekam, wie sonst keine andere polnische Organisation. Das von Jerzy Janiszewski entworfene Solidarność-Symbol, das demonstrierende Personen und die polnische Fahne zeigt, war nicht nur für die Mitarbeiter der Danziger Leninwerft ein Symbol des Widerstandes, sondern der Solidarność-Schriftzug wurde im ganzen Land mit dem Sichtbarwerden eines Unabhängigkeits- und Wir-Gefühls assoziiert. Im Jahr 1981 umfasste die Solidarność-Bewegung bereits ca. zehn Millionen Anhänger, zu denen Akteure wie Lech Wałęsa, Tadeusz Mazowiecki, Władysław Bartoszewski, Lech und Jarosław Kaczyński, Bronisław Komorowski und Donald Tusk gehörten. Wie die Namen zeigen, engagierten sich in der Solidarność-Bewegung Personen, die sich heute teilweise in gegenseitiger Abneigung und mit zum Teil völlig konträren Auffassungen über Demokratie, Gewaltenteilung und Mitbestimmung gegenüberstehen. Deutlich macht diese Aufzählung aber auch, dass etliche der damaligen Solidarność-Akteure der ersten Reihe nach 1989 in politische Ämter wechselten sowie neue Parteien und Interessenverbände gründeten. Die Vielzahl von Neugründungen führte zu einer Ausdifferenzierung und Pluralität von Organisationen, die das polnische Puzzle bis heute charakterisieren. Die absolute Anzahl von Gewerkschaften zeigt diese extreme Fragmentierung: Bis Ende der 1990er Jahre waren in Polen 23.995 Gewerkschaften registriert. Nach jüngsten Schätzungen muss die Schätzung auf über 25.000 Gewerkschaften nach oben korrigiert werden (Gardawski, Mrozowicki, Czarzasty 2012: 33). Gebündelt wird diese hohe Anzahl von Einzelgewerkschaften zum Teil in Dachverbänden, die dem Prinzip folgen: Je mehr Mitglieder organisiert werden und je mehr Einzelorganisationen in einem Dachverband zusammengeschlossen sind desto erfolgreicher können auch die Interessen durchgesetzt werden (Ebbinghaus 2015).
Drei große Dachverbände sind in Polen besonders hervorzuheben: die Solidarność, der Gesamtpolnische Gewerkschaftsverband (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych – OPZZ) und das Gewerkschaftsforum (Forum Związków Zawodowych – FZZ). Die Solidarność vertritt 16 Branchengewerkschaften und organisiert in 30 Regionalverbänden 8.646 Einzelgewerkschaften. Von diesen 8.646 Einzelgewerkschaften sind 6.544 auf betrieblicher Ebene, 1.527 auf zwischenbetrieblicher und 575 auf überregionaler Ebene verstreut (Gardawski, Mrozowicki, Czarzasty 2012: 41). Die zweitgrößte Gewerkschaft ist der Gesamtpolnische Gewerkschaftsverband, der 1984 von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – PZPR) gegründet worden war und heute in neun unterschiedlichen Branchen insgesamt neun Einzelgewerkschaften umfasst. Der dritte und jüngste gewerkschaftliche Dachverband ist das 2002 etablierte Gewerkschaftsforum, zu dem 86 Einzelgewerkschaften ebenfalls in einer Vielzahl unterschiedlicher Branchen gehören. Gegründet wurde das Gewerkschaftsforum unter der Schirmherrschaft der Partei Arbeitsunion (Unia Pracy – UP); es sollte alle Gewerkschaften bündeln, die sich bis dahin weder in der Solidarność noch im OPZZ organisiert hatten.
Wie vielfältig die Puzzleteile sind, zeigt die Unternehmensebene: Bereits in den 1990er Jahren waren bei der Polnischen Post (Poczta Polska) mit 100.000 Beschäftigten bis zu 47 Gewerkschaften vertreten und beim Kohlekonzern Kompania Węglowa mit 63.000 Beschäftigten bis zu 177 Gewerkschaften (Ziemer 2013: 249). Allein im Bergbausektor waren im Jahr 1983 insgesamt vier Gewerkschaften im OPZZ organisiert, wohingegen es im Jahr 2009 zehn Einzelorganisationen waren (siehe Grafik 2). Vergleichbar wäre dies mit der Annahme für den deutschen Fall, dass neben der Industriegewerkschaft Bergbau, Energie und Chemie (IG BCE) noch neun (!) zusätzliche Gewerkschaften innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Mitarbeiter im Bergbau vertreten würden. Noch unübersichtlicher wird es, da im Bergbau neben dem OPZZ noch die Solidarność, die Polnische Gewerkschaftsallianz KADRA (Porozumienie Związków Zawodowych Kadra – PZZ KADRA), der autonome Verband Freie Gewerkschaft "August ‘80" (Wolny Związek Zawodowy "Sierpień ‘80" – WZZ "Sierpień ‘80") sowie eine Reihe kleinerer Gewerkschaften vertreten sind. Außerdem ist es möglich, dass die Einzelgewerkschaften in unterschiedlichen Dachverbänden gleichzeitig Mitglied sind. Neun Bergbaugewerkschaften sind beispielsweise Mitglied sowohl im Dachverband OPZZ als auch im Bündnis der Bergbaugewerkschaften in Polen (Konfederacja Związków Zawodowych Górnictwa w Polsce – KZZG), das nochmals ein eigener Dachverband ist und kein Mitglied im OPZZ. Es wird also deutlich, warum in der wissenschaftlichen Literatur das polnische Puzzle auch "konkurrierender Pluralismus" genannt wird, da sowohl um öffentliche Aufmerksamkeit gerungen wird als auch um politischen Einfluss und um Mitglieder.
Die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften
Trotz der hohen absoluten Anzahl von Einzelgewerkschaften sind in Polen nur 12 Prozent aller abhängig Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder. Dieser Wert war von 1990 bis 2003 auf 6 Prozent gesunken, stieg nach 2003 wieder an und hält sich seit 2008 auf annähernd gleichem Niveau (Gardawski, Mrozowicki, Czarzasty 2012: 52). Im europäischen Vergleich ist dies ein relativ geringer Wert, wenngleich die meisten östlichen EU-Länder im Bereich von 10 bis 18 Prozent liegen (Tabelle 1). Begründet wird der niedrige Wert überwiegend mit soziokulturellen Erklärungsfaktoren, d. h. in den östlichen EU-Ländern ist keine Identifikation mit einer starken Arbeiterbewegung entstanden. Einhergehend mit der staatlich verordneten Identifikation mit der Partei wurden kritische Forderungen an den Staat nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen bekämpft und unterdrückt. Durch diese nicht praktizierte Auseinandersetzung konnte eben auch keine Identifikation mit Gewerkschaften als einheitlicher Zusammenschluss der Arbeiter entstehen (Lewada 1993). Daher kann in Polen auch bis heute keine ausgeprägte, individuell emotionale Bindung zu Gewerkschaften analysiert werden, anders als in England, Irland, Skandinavien, Österreich oder zum Teil auch noch in Deutschland, wo immer noch traditionelle Bindungen als Begründung für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft angegeben werden.
Neben soziokulturellen sind ökonomische Erklärungsansätze in Polen von Bedeutung, da vormals gut organisierte Betriebe aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise insolvent wurden. Ferner kommen Globalisierungsprozesse und sinkende Nachfrage auch in jenen Branchen, die bis dato gut organisiert waren (Bergbau oder Stahlerzeugung), zum Tragen. Außerdem zeigen Analysen europaweit, dass neben der Branche auch die Größe des Unternehmens ausschlaggebend für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft ist. In großen Unternehmen sind Gewerkschaften häufig besser organisiert als in kleineren Betrieben. Auch in Polen bestätigt sich dieser Zusammenhang: Nur 7 Prozent der Beschäftigten sind Gewerkschaftsmitglieder in Unternehmen, deren Mitarbeiterzahl weniger als 50 beträgt, 13 Prozent bei einer Unternehmensgröße von 50 bis 249 und 26 Prozent in Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten (Ziemer 2013: 249). Wird nun berücksichtigt, dass ca. 50 Prozent der Beschäftigten in Polen in Unternehmen arbeiten, die weniger als 50 Mitarbeiter haben, eine gewerkschaftliche Organisation bei bis zu 10 Mitarbeitern sowieso rechtlich verboten ist und 25 Prozent der Beschäftigten Solo-Selbstständige sind, lässt sich aufgrund der Unternehmensstruktur in Polen ebenfalls ein wichtiger Aspekt des geringen Organisationsgrades erklären.
Speziell im polnischen Fall ist ein weiterer gewichtiger Erklärungsfaktor der Widerspruch zweier Organisationsstrategien, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik genannt werden. Verdeutlicht werden kann dies am Beispiel der Solidarność, die in den 1990er Jahren sowohl eine Gewerkschaft als auch eine politische Partei war. Die Organisation hatte nicht nur selbst Mitglieder, sie war ihrerseits ebenfalls Mitglied – Mitglied des nationalen Institutionensystems. Zum einen mussten also die Interessen der Mitgliederbasis berücksichtigt werden, zum anderen aber auch Kompromisse im politischen Prozess eingegangen werden. Während des Transformationsprozesses stimmten die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder immer weniger mit den Interessen der Organisationseliten überein und es entstand eine derart große Diskrepanz, dass sich die Mitgliederbasis nicht mehr mit der eigenen Organisation identifizierte. Die steigende Arbeitslosigkeit, die vor dem Systemwechsel ein weitgehend unbekanntes Phänomen war, konnte zum Ende der 1990er Jahre von den Gewerkschaften nicht mehr durch aktive außerparlamentarische Opposition begleitet werden, da sie zu stark in die Politik involviert waren. Solidarność, aber auch die anderen großen Dachverbände, erkannten dieses Problem und widmen sich seit Beginn der 2000er Jahre verstärkt dem Konzept der Mitgliederlogik; zudem sind sie nicht mehr im Parlament vertreten. Da der Konflikt zwischen den Organisationen um Parlamentssitze aufhörte, nahmen auch die starken ideologischen Konflikte innerhalb des Gewerkschaftslagers ab. Neuere Beispiele der Zusammenarbeit sind vielmehr gemeinsame Protestaktionen, Mahnwachen und Unterschriftenaktionen wie gegen die Pläne zur Erhöhung des Renteneintrittsalters der damals regierenden Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) unter Ministerpräsident Donald Tusk. Es deutet sich also an, dass das polnische Puzzle zwar immer noch durch viele Einzelteile gekennzeichnet ist, sich das große Ganze aber zunehmend zusammensetzt. Auch aus diesem Grund sind die Mitgliederzahlen seit 2003 gestiegen und zumindest in den letzten Jahren nicht mehr rückläufig.
Arbeitgeberverbände in Polen
Das polnische Puzzle zeigt sich auch bei den Arbeitgeberverbänden; jedoch sind die Einzelteile nicht derart kleinteilig wie bei den Gewerkschaften. Aber auch hier gründete sich zunächst im Jahr 1991 die Konföderation der Polnischen Arbeitgeber (Konfederacja Pracodawców Polskich – KPP), die sich 2010 in Arbeitgeber der Republik Polen (Pracodawcy Rzeczypospolitej Polskiej) umbenannte. Entstanden ist die KPP aus einem Zusammenschluss von Wirtschaftsvereinigungen, die sich mit den ersten Marktöffnungs- und Liberalisierungsprozessen bereits in den 1980er Jahren zusammengeschlossen hatten und eine losgelöste Privatisierungswelle immer schon ablehnten. Der Gedanke war vielmehr, dass staatliche Unternehmen um privatwirtschaftliche Elemente ergänzt werden müssten. Daher ist auch nicht verwunderlich, dass sich Personen wie Wojciech Kornowski (Präsident des KPP von 1997 bis 2001), aus der früher regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei kommend, in der KPP für die Staat-Markt-Symbiosen einsetzten. Bis heute charakterisiert diese staatlich-private Unternehmensstruktur die Mitgliedsunternehmen der KPP. So organisiert der Verband Unternehmen wie Poczta Polska, den Stromkonzern PKP Energetyka, die Autobahngesellschaft Autostrada Wielkopolska, den Fernsehsender TVP, die Bau- und Vermietungsgesellschaft Miejskie Przedsiębiorstwo Realizacji Inwestycji oder Gesellschaften des öffentlichen Personennahverkehrs (Miejskie Zakłady Autobusowe). Ungefähr 10.000 Unternehmen sind bei den Arbeitgebern der Republik Polen direkt oder über einen der 28 regionalen oder sektoralen Verbände organisiert (Czarzasty, Mrozowicki 2017). Zu beachten gilt, dass die Anzahl der Mitgliedsunternehmen zwar steigt, der Anteil staatlich-privater Unternehmen hingegen sinkt – Schätzungen aus dem Jahr 2013 belaufen sich nur noch auf ca. 15 Prozent (Ziemer 2013: 253).
Immer häufiger organisieren sich rein privatwirtschaftliche Unternehmen wie BASF, Coca-Cola, Ernst & Young, Lotos oder auch ganze regionale Arbeitgebergruppierungen wie Pracodawcy Ziemi Lubelskiej (Arbeitgeber der Region Lublin). In den 1990er Jahren waren staatliche Unternehmen noch überrepräsentiert, was zu derart großen Interessenkonflikten innerhalb des Verbandes führte, dass sich im Jahr 1999 mit der Polnischen Konföderation Privater Arbeitgeber "Lewiatan" (Polska Konfederacja Pracodawców Prywatnych "Lewiatan" – PKPP) ein ausschließlich privatwirtschaftlicher Interessenverband gründete. Der Verband PKPP umfasst sowohl kleine und mittlere Unternehmen als auch große Firmen wie Google, IBM, Samsung, Philip Morris, Credit Suisse und General Motors. Nach Verbandsangaben werden 80 Mitgliedsunternehmen repräsentiert, von denen 25 Einzelunternehmen, 31 sektorale und 24 regionale Verbundorganisationen sind (Czarzasty, Mrozowicki 2017). Der dritte große Arbeitgeberverband ist der 1991 gegründete Business Center Club (BCC) mit ca. 2.000 Mitgliedsunternehmen und über 600.000 Beschäftigten. In den Jahren 2011/2012 war dieser Wert noch deutlich kleiner, d. h. neben der KPP und der PKPP konnte auch der BCC Mitgliedsunternehmen dazugewinnen (Ziemer 2013: 253). Im BCC sind Unternehmen wie Bank Zachodni WBK, die Pharma-Unternehmensgruppe Grupa Adamed, Katowice Airport und das Busreiseunternehmen Sindbad organisiert. Der kleinste der vier Hauptverbände ist der Verband des Polnischen Handwerks (Związek Rzemiosła Polskiego – ZRP), der 28 Handwerkskammern und Unternehmen sowie 477 Zunftvereinigungen und 186 Dienstleistungszusammenschlüsse organisiert (Czarzasty, Mrozowicki 2017).
Die Mitgliederentwicklung der Arbeitgeberverbände
Die Datenlage über die Mitgliederentwicklung der Arbeitgeberverbände in ganz Europa ist recht schwach ausgeprägt, aber das vorhandene Material zeigt für die Jahre 2008 und 2012, dass die absolute Anzahl an Mitgliedsunternehmen in Polen zwar gestiegen ist, die Verbandsdichte der Arbeitgeber jedoch bei 20 Prozent stagniert. Die Verbandsdichte errechnet sich, indem die Mitarbeiterzahl des Mitgliedsunternehmens in das Verhältnis zu allen abhängig Beschäftigten gesetzt wird. Daher ist es möglich, dass aktuell zwar mehr Unternehmen Mitglied in einem Verband sind; wenn die Beschäftigung aber insgesamt gestiegen ist, wird der Effekt in der Verbandsdichte nicht deutlich. Ferner verwundert es nicht, dass die Arbeitgeberverbandsdichte im EU-Vergleich insgesamt höher liegt als die Organisation in Gewerkschaften. Wenn beispielsweise die vier mitarbeiterstärksten Unternehmen in Polen in einem Verband organisiert sind, zeigt sich dies eben auch in einer höheren Arbeitgeberverbandsdichte.
Im europäischen Vergleich ist die Arbeitgeberverbandsdichte in Polen mit 20 Prozent relativ gering. Die skandinavischen Länder, Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Spanien und Slowenien haben deutlich höhere Werte (siehe Tabelle 1). Drei Hauptfaktoren ergeben sich aus der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung zur Begründung dieses geringen Organisationsgrades. Speziell im polnischen Fall sind seitens der Unternehmen während des Transformationsprozesses zum Teil extreme Anstrengungen unternommen worden, Unternehmensinteressen selbst zu vertreten, gerade auch weil die KPP, als erster und größter Interessenverband, sowohl privatwirtschaftliche als auch staatliche Unternehmen organisierte. Das wurde von vielen Unternehmen abgelehnt, da gerade die Loslösung von staatlichen "Zwängen" und "Kontrollen" und der Schutz des Privateigentums gegen staatliches "Eindringen" als Errungenschaften des Systemwechsels betrachtet wurden. Wenn Unternehmen ohne verbandliche Strukturen ihre Interessen versuchen durchzusetzen, wird in der wissenschaftlichen Literatur von Lobbyunternehmen oder Lobbygruppen gesprochen. Wie in anderen europäischen Ländern auch, ist die Beschreibung Lobbying größtenteils negativ konnotiert, was in Polen durch mehrere Korruptionsskandale nochmals verstärkt wurde. Aktuelle Befragungen zeigen nun, dass die Gründung rein privatwirtschaftlicher Verbände zum einen die Skepsis der Unternehmen, einem Arbeitgeberverband beizutreten, aufgehoben hat und zum anderen ein Arbeitgeberverband in der Bevölkerung durchaus positiver bewertet wird. Ferner wird ein erhöhtes Interesse, einem Arbeitgeberverband beizutreten, mit den (kostenlosen) Dienstleistungen des Verbandes begründet. Diese Dienstleistungen sind Hilfestellungen für Unternehmen bei Wettbewerbs- und Kartellrechtsangelegenheiten, Beratungen zur Unternehmensstrategie, rechtliche Unterstützung bei Auseinandersetzungen mit den Mitarbeitern oder bei Arbeitskämpfen etc. Die Strategie der selektiven Anreize von Arbeitgeberverbänden ist also trotz des geringen Niveaus eine Begründung für eine steigende Anzahl an Mitgliedsunternehmen in Polen.
Ein zweiter Erklärungsfaktor für das geringe Organisationsniveau steht im Zusammenhang mit der Schwäche der Gewerkschaften. Da in den meisten Ländern die Unternehmerverbände als Reaktion auf die Gründung bzw. das Erstarken von Gewerkschaften gegründet wurden, zeigt der europäische Vergleich: Wenn Gewerkschaften gut organisiert sind, besteht für die Unternehmen ein Anreiz, sich einem Arbeitgeberverband anzuschließen. Anders formuliert, da in Polen – ähnlich wie in Lettland, Litauen, Tschechien und der Slowakei – die Gewerkschaften schwach sind, besteht auch für die Unternehmen kein großer Anreiz, sich einem Arbeitgeberverband anzuschließen (siehe Tabelle 1).
Ein drittes Bündel von Erklärungsfaktoren sind wirtschaftliche Kontextfaktoren, d. h. die Frage nach der Offenheit oder Geschlossenheit einer Marktwirtschaft. Ein gängiger wissenschaftlicher Indikator für die Marktwirtschaft ist die Summe des Exportes und des Importes in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Je höher der Prozentsatz der Summe ist desto offener ist auch die Wirtschaft. Theoretisch könnte auf der einen Seite angenommen werden, je offener die Marktwirtschaft ist und je stärker die wirtschaftlichen Beziehungen eines Landes mit ausländischen Unternehmen sind desto geringer wird der Anreiz für ein Unternehmen, sich in einem nationalen Arbeitgeberverband zu organisieren. Der Gedanke dahinter lautet, da der Aktivitätsradius des Interessenverbandes primär auf das Inland beschränkt ist, besteht wenig Anreiz für das Unternehmen, dem Verband beizutreten (Brandl 2013: 514). Wenn allerdings berücksichtigt wird, dass im polnischen Fall die Nachfrage der Mitgliedsunternehmen nach Dienstleistungen stärker wird, dann lautet die Überlegung, je offener die Marktwirtschaft ist und je stärker die Unternehmen mit dem Ausland interagieren desto größer wird ihre Nachfrage nach Beratungs- und Dienstleistungsangeboten. Polen lag im Jahr 2012 mit 89 Prozent Export- und Importanteil am BIP im europäischen Mittelfeld und ist ähnlich wie Deutschland (86 Prozent) weder eine völlig offene noch eine völlig geschlossene Marktwirtschaft. Die unterschiedlichen Werte in Tabelle 1. verdeutlichen aber, dass kein Zusammenhang von Arbeitgeberverbandsdichte und der Offenheit oder Geschlossenheit einer Marktwirtschaft per se existiert.
Interessant wird es, wenn zu dem Wirtschaftsindikator die Beteiligung von Verbänden an der Gestaltung des politischen Prozesses als vierte Erklärungsvariable hinzugezogen wird. Theoretisch wäre zu erwarten, dass die Verbandsdichte der Unternehmen hoch ist, wenn die Organisationen stark in den politischen Prozess integriert sind. Dieser Zusammenhang bestätigt sich deskriptiv für die Länder Österreich, Belgien, Finnland, Luxemburg und die Niederlande. Hier liegt sowohl eine hohe Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden vor als auch eine offene Marktwirtschaft und eine starke Beteiligung der Verbände am politischen Prozess. Polen hat zwar eine trilaterale Kommission (Regierung-Arbeitgeber-Arbeitnehmer), aber weder eine ständige Involvierung der Verbände in den politischen Prozess noch zusätzliche formale bilaterale Gesprächskreise der Sozialpartner (Arbeitgeber-Arbeitnehmer). Tschechien, Lettland und Litauen sind zwar Gegenbeispiele für diese Erkenntnis, die Abdeckung von Arbeitgeberverbänden ist aber derart gering, dass die Involvierung in den politischen Prozess in Verbindung mit starken Gewerkschaften und/oder einer offenen Marktwirtschaft einen relativ hohen Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände begründen. Es scheint also, als seien die Beteiligung am politischen Prozess, starke Gewerkschaften und eine offene Marktwirtschaft positive Anreize für Unternehmen, ihre Interessen in einem Arbeitgeberverband zu organisieren. In Polen lautet die Gleichung: schwache Gewerkschaften und eine relativ geringe Involvierung in den politischen Prozess gehen mit einer schwachen Mitgliedschaft der Unternehmen in Arbeitgeberverbänden einher.
Soziale Konzertierung und Sozialpakte – der Einfluss von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden auf den politischen Prozess
Polen war von 1989 bis 1994 von einer Vielzahl von Streiks und Massenprotesten gekennzeichnet, die im Jahr 1992 mit 730.000 Teilnehmern bei insgesamt 6.362 Streiks europäische Spitzenwerte erreichten. Aufgrund der Massenproteste etablierte der damalige Arbeits- und Sozialminister Jacek Kuroń von der Regierungspartei Demokratische Union (Unia Demokratyczna – UD) unter der Ministerpräsidentin Hanna Suchocka im Februar 1993 ein Dialogforum zwischen Regierungsvertretern, die den Staat als solchen sowie als Arbeitgeber repräsentierten (viele Unternehmen befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in Staatsbesitz), dem Arbeitgeberverband KPP, den Gewerkschaften Solidarność und OPZZ und anderen kleineren Vereinigungen. Ziel dieses Dialogforums war es, den sozialen Frieden herzustellen, indem die Konsensfindung und die Aushandlung von Kompromissen gefördert werden. Vereinbart wurde u. a., dass eine trilaterale Kommission als ständige Austauschplattform der Sozialpartner gegründet werden soll, um die divergierenden Interessen im Sinne eines "demokratischen Klassenkampfes" friedlich zu lösen (Korpi 1983). Im Jahr 1994 wurde unter den Regierungsparteien Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) und der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) das Dialogforum als Trilaterale Kommission für sozioökonomische Angelegenheiten (Trójstronna Komisja do Spraw Społeczno-Gospodarczych) gegründet. Nach mehreren Regierungswechseln kam es unter Neuauflage der SLD-PSL-Regierung im Jahr 2001 zum ständigen Dialogforum unter Beteiligung der Regierung, d. h. seit 2001 besteht die gesetzliche Verpflichtung zur Konsultation der trilateralen Kommission bei sozioökonomischen Themen. Kurz nach den Präsidentenwahlen im Juli 2015 wurde die Kommission zwar durch ein neues Dialogforum, den Rat des Gesellschaftlichen Dialogs (Rada Dialogu Społecznego), ersetzt, der Grundgedanke dieses Formates unterscheidet sich jedoch nicht von seinem Vorgänger. Dieser lautet, dass durch institutionalisierte Dialogforen der Regierung und der Sozialpartner die politische Stabilität, wirtschaftlicher Erfolg und der soziale Frieden gefördert und gewährleistet werden sollen. Der europäische Vergleich zeigt (Tabelle 1), dass die Beteiligung der Verbände am politischen Prozess in Polen relativ gering ausgeprägt ist.
Kritisch anzumerken ist, dass die Verhandlungen des Dialogforums bis dato nur in den seltensten Fällen zu konkreten Ergebnissen geführt haben. Ein solches Ergebnis wäre z. B. ein Sozialpakt, der als unterschriebenes Verhandlungsergebnis zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und dem Staat definiert wird. Beispiele für gescheiterte Verhandlungen dieser Art sind der "Pakt für Arbeit und Entwicklung" im Jahr 2003, der Pakt für "Ökonomie – Arbeit – Familie – Dialog" im Jahr 2006, das "Abkommen über Lohnhöhe, Renten, industrielle Beziehungen und Arbeitsmarkt" im Jahr 2008 und auch die Verhandlungen zum "Anti-Krisen-Paket" in den Jahren 2009 und 2013 (Gardawski, Meardi 2010: 391). Gründe für das Scheitern dieser Verhandlungen werden unter besonderer Berücksichtigung des Kriseneffektes zurzeit im Verbundprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Krisenkorporatismus oder Korporatismus in der Krise. Soziale Konzertierung und Soziale Pakte in Europa" an den Universitäten Mannheim und Göttingen analysiert. Ob und unter welchen Bedingungen Verhandlungen scheitern oder zu einem Pakt führen, setzt aber zunächst voraus, dass den Verbänden überhaupt eine institutionalisierte regelmäßige Teilnahme an Diskussionsrunden ermöglicht wird. Es wird mit einem soziologischen, integrationstheoretischen Argument bisweilen nicht als negativ betrachtet, wenn die staatlichen Akteure von den Empfehlungen der Kommission abweichen oder Vereinbarungen mit den Sozialpartnern umgehen (Matthes 2012: 572). Was sich zunächst als scheinbar ineffektives Dialogforum darstellt, kann mit Blick auf die Mitglieder- und Einflusslogik auch positiv bewertet werden: Auch bei gescheiterten Paktverhandlungen können die Verbände ihre eigenen Anhänger mobilisieren und damit den Diskurs politisieren, was in Polen mit den Generalstreiks in Schlesien und den mehrtägigen Protesten im September 2013 auch geschah.
Resümee und Ausblick für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände im digitalen Zeitalter
Es wurde deutlich, dass es sich bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Polen um viele Einzelteile handelt, sich das Puzzle in den letzten Jahren aber wieder stärker zusammensetzt. Zwar sind die Arbeitgeberverbände nicht in dem Maße zersplittert wie die Gewerkschaften, aber beide Organisationstypen sind durch kleine, zum Teil konkurrierende Organisationen innerhalb und außerhalb der großen Dachverbände charakterisiert. Der europäische Vergleich zeigte, dass Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbandsdichte relativ schwach ausgeprägt sind. Gründe dafür waren und sind eine fehlende Identifikationskultur, Organisationsstrukturen als Interessengruppe und als politische Partei, kleine bis mittelgroße Unternehmen sowie eine zu geringe Integration der Organisationen in den politischen Prozess. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben neben der Austragung des "demokratischen Klassenkonfliktes" die unersetzliche integrative, d. h. vermittelnde gesellschaftliche Funktion, (diffuse) soziale und kulturelle Befindlichkeiten aufzunehmen, sichtbar zu machen und zu artikulieren (Eribon 2017). Wenn die Herstellung und Bewahrung des sozialen Friedens also gestärkt werden soll, wäre eine weitere Herangehensweise, den Sozialpartnern häufigere Dialogforen anzubieten und die Ideen öffentlichkeitswirksam in den politischen Prozess mit einzubinden (soziale Integration). Die europäische Forschung zeigt, dass der Anreiz steigt, Gewerkschafts- oder Arbeitgeberverbandsmitglied zu werden, wenn den potentiellen Mitgliedern bewusst ist, dass ihre Interessen auch ernst genommen werden und es institutionalisierte Formen des Dialogs und des Einflusses gibt. Warum aber steigt der Organisationsgrad der Verbände in Polen nicht, wenn doch das trilaterale Dialogforum bereits seit 2001 besteht? Eine Erklärung scheint die schlichte Unkenntnis der Gesellschaft über das Dialogforum zu sein. Nach einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2008 hatte fast die Hälfte der befragten Personen noch nie von dem Forum gehört (Ziemer 2013: 255). Wenn keine Kenntnis darüber besteht, dass die Interessen der Mitglieder nicht nur gebündelt, sondern auch friedlich dem Kontrahenten gegenübergestellt werden, darf man sich auch nicht über Austritte oder fehlende Neueintritte wundern.
Um Austritte zu verhindern und Neueintritte attraktiver zu gestalten, sind neben der Ausweitung der Integration in den politischen Prozess und der öffentlichen Bekanntmachung der Dialogforen aber auch die Organisationen selbst gefragt, zum Beispiel indem der digitale Zeitgeist in ihrem Sinne genutzt wird. Anlehnen könnte man sich dabei an die Arbeitgeber der Republik Polen, die bereits im Jahr 2009 eine digitale Plattform gegründet haben, wo Gesetzesvorhaben, Gesetzgebung und Verordnungen veröffentlicht werden. Diese Plattform verringert auf der einen Seite den Abstand zwischen der Mitgliederbasis und den Organisationseliten und zum anderen können Interessen und Ideen der Mitglieder in die Diskussionen und Verhandlungen eingebracht werden. Dies wäre auch eine Strategie, um den innerorganisatorischen Meinungsbildungsprozess zu stimulieren und einer pluralistischen Mitgliederbasis gerecht zu werden.
Literaturtipps:
Brandl Bernd (2013): Die Repräsentation von Arbeitgeberverbänden in Europa: Eine Standortbestimmung des "deutschen Modells". WSI-Mitteilungen 07/2013: 510–18.
Czarzasty Jan, Mrozowicki Adam (2017): Living and working in Poland. European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (Eurofound). Externer Link: https://www.eurofound.europa.eu/country/poland.
Ebbinghaus Bernhard (2015): Machtressourcentheorie und Korporatismusansatz, in Wenzelburger Georg, Zohlnhöfer Reimut (eds.): Handbuch Policy-Forschung. VS-Verlag: Wiesbaden.
Eribon Didier (2017): Gesellschaft als Urteil: Klassen, Identität, Wege. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Gardawski J., Meardi G. (2010): Keep trying? Polish failures and half-successes in social pacting, in Pochet Ph., Keune M., Natali D. (eds.): After the euro and enlargement: social pacts in the EU. ETUI: Brussels.
Gardawski Juliusz, Mrozowicki Adam, Czarzasty Jan (2012): Trade unions in Poland in: ETUI Report 123. Brussels: European Trade Union Institute.
Korpi Walter (1983): The Domocratic Class Struggle. Routledge.
Lewada Juri (1993): Die Sowjetmenschen. Soziogramm eines Zerfalls. Deutscher Taschenbuch Verlag: München.
Matthes Claudia-Yvette (2012): Polen, in Reutter Werner (ed.): Verbände und Interessengruppen in den Ländern der Europäischen Union. VS-Verlag: Wiesbaden.
Ziemer Klaus (2013): Das politische System Polens. Eine Einführung. VS-Verlag: Wiesbaden.