Nach 1989 gehörte die polnische Wirtschaft zu den Wachstumsspitzenreitern nicht nur in Ostmitteleuropa, sondern auch im globalen Vergleich mit anderen aufstrebenden Wirtschaften (emerging markets). Unter den postkommunistischen Ländern war in Polen die Dynamik am stärksten ausgeprägt, die bestehenden Rückstände zu den hochentwickelten Ländern Westeuropas aufzuholen. Allerdings wird das Tempo bei der Verringerung dieser Distanz zunehmend langsamer, was Besorgnis und Diskussionen unter Politikern, Experten und Journalisten zur Folge hat. Während des Präsidenten- und Parlamentswahlkampfes im Jahr 2015 war eines der von den Politikern aufgebrachten Themen die "Falle des mittleren Einkommens". Der im Jahr 2016 von Entwicklungsminister Mateusz Morawiecki veröffentlichte "Plan für eine Verantwortungsvolle Entwicklung", der Gegenstand dieser Analyse ist, verfolgt primär das Ziel, die Polen vor der "Falle des mittleren Einkommens, des Durchschnittsprodukts, des fehlenden Gleichgewichts, vor der demografischen Falle und der Falle der schwachen Institutionen" zu schützen.
Das Problem der "Falle des mittleren Wachstums" lässt sich so definieren, dass die Wirtschaft, die die Distanz zwischen dem niedrigen Wachstumsniveau und dem mittleren Wachstumsniveau überwunden hat, auf diesem verbleibt und nicht in der Lage ist, die Distanz zwischen dem mittleren und dem hohen Wachstumsniveau zu überwinden. Für die Einkommensniveaus gibt es unterschiedliche Definitionen – laut Weltbank gilt eine Wirtschaft als mittelmäßig entwickelt, wenn ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) per capita nach Kaufkraftparität nicht über 12.275 US-Dollar liegt. Auch wenn andere Autoren und Institutionen diese Schwelle etwas anders festlegen, ändert das nichts an der Tatsache, dass die polnische Wirtschaft in der Wahrnehmung der Polen selbst eine mittelmäßig entwickelte Wirtschaft ist. Dabei wird im "Plan für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" mit der Verwendung des Begriffs "Falle" suggeriert, dass wir es hier mit bestimmten äußeren und inneren Barrieren zu tun haben, von denen sich die Wirtschaft befreien muss.
Diese Barrieren werden von unterschiedlichen Experten unterschiedlich definiert. Die einen verweisen auf den Mangel an Rohstoffen, andere auf die geringe Qualität des Humankapitals (Bildung, Qualifikationen, Kompetenzen), wieder andere auf das hohe Niveau der Korruption. Diese Einschränkungen werden von Politikern gebrandmarkt und im öffentlichen Diskurs tauchen unterschiedliche Rezepte für die wirtschaftliche Entwicklung auf. Nach 1989 hatten wir es in Polen schon mit einer ganzen Reihe von Wirtschaftsstrategien zu tun (ganz zu schweigen von den früheren "Fünfjahresplänen", die typisch für die Länder des ehemaligen Ostblocks waren). Außer der berühmten "Schocktherapie", dem Wirtschaftsplan von Leszek Balcerowicz, der als einziger tatsächlich umfänglich implementiert wurde, machte die polnische Wirtschaft auch mit den Plänen von Grzegorz Kołodko, Jerzy Hausner und Marek Belka ihre Erfahrungen. Dies sind allerdings nur die wichtigsten Wirtschaftspläne, die von den prominentesten Politikern einzelner politischer Gruppierungen entwickelt wurden. Der "Plan für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" von Mateusz Morawiecki ist nun die Antwort der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) auf das Problem der "Falle des mittleren Einkommens"; er benennt strategische Ziele der Entwicklung der polnischen Wirtschaft bis zum Jahr 2030.
Mateusz Morawiecki, Jahrgang 1968, in den 1980er Jahren in der Opposition in Breslau (Wrocław) aktiv, absolvierte sein Magisterstudium der Geschichtswissenschaft (der Titel seiner Magisterarbeit lautet: Die Entstehung und die ersten Jahre der Solidarność Walcząca/Kämpfenden Solidarität) an der Universität Wroclaw, anschließend studierte er Business Administration an der US-amerikanischen Central Connecticut State University und dem Polytechnikum in Breslau sowie der Wirtschaftsakademie (heute Wirtschaftsuniversität) in Breslau, des weiteren europäisches Recht und Wirtschaftsintegration an der Universität Hamburg. Außerdem ist er Absolvent der Universität Basel sowie der Kellogg School of Management at Northwestern University in den Vereinigten Staaten. Praktika und Berufserfahrungen sammelte Morawiecki in Polen und im Ausland, u. a. bei der Deutschen Bundesbank, an der Goethe Universität in Frankfurt am Main sowie in Polen in der Behörde des Komitees für Europäische Integration. Der höchste Posten seiner Karriere im Finanzgeschäft war der des Präsidenten der Bank Zachodni WBK (2007). Im Jahr 2010 wurde er in den Wirtschaftsrat bei dem damaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk (Bürgerplattform/Platforma Obywatelska –PO) berufen; sein volles politisches Engagement entfaltete er allerdings erst im Jahr 2015, als er nach den von PiS gewonnenen Parlamentswahlen zum Minister für Entwicklung im Rang eines stellvertretenden Ministerpräsidenten in der Regierung von Beata Szydło ernannt wurde. Dies war ein Transfer von einem sehr hohen Posten in der Finanzwirtschaft auf einen sehr hohen Posten in der Politik. Eine erneute Stärkung seiner Position erfolgte im September 2016, als Morawiecki zusätzlich auf den Posten des Finanzministers und an die Spitze des Ökonomischen Ausschusses des Ministerrates berufen wurde. Nie zuvor hatte im freien Polen in den Händen einer einzigen Person so viel Macht im Bereich der Wirtschaftspolitik gelegen. Formal unterstehen Morawiecki fast 64.000 Beamte.
Piłsudski im Gepäck
Die "Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung", umgangssprachlich "Morawiecki-Plan" genannt, ist die Ausarbeitung der Entwicklungsziele des "Plans für eine Verantwortungsvolle Entwicklung", den die Regierung am 16. Februar 2016 angenommen hatte. Das Überraschendste an dem ganzen Dokument ist sein Motto. Auf der Titelseite prangt das Zitat von Józef Piłsudski: "Polen wird groß sein oder es wird überhaupt nicht sein." Piłsudski selbst war weder Ökonom noch war er in diesem Bereich kompetent – was er übrigens selbst zugab. Im Gegenteil, seine Sanacja-Regierung schrieb sich in die Geschichtsbücher der Wirtschaftshistoriker nicht sonderlich positiv ein. Natürlich lassen sich einige Investitionsleuchttürme jener Zeit nennen, als da wären der Hafen in Gdingen (Gdynia) als Zugang Polens zum Meer oder das Zentrale Industriegebiet (Centralny Okręg Przemysłowy – COP) im Südosten Polens. Generell war die Zeit der Piłsudski-Regierung in wirtschaftlicher Hinsicht allerdings vor allem von allgemeiner Armut in Polen gekennzeichnet, es war eine Phase des schwachen Wirtschaftswachstums, einer allgegenwärtigen Teuerung, hoher Arbeitslosigkeit und immenser sozialer Ungleichheiten, und dies nicht nur mit Blick auf die Wirtschaftskrise, die Europa und die USA seit 1929 beherrschte, sondern auch im Verhältnis zu anderen europäischen Wirtschaften zu jener Zeit. Zwar ist die erklärte Verbindung des politischen Lagers, aus dem Morawiecki stammt, zu Piłsudski und der Piłsudski-Tradition verständlich, allerdings harmoniert die Aussage des Zitats nicht mit dem Titel des Dokuments von Morawiecki. Eine verantwortungsvolle und ausgeglichene Entwicklung lässt sich natürlich auf verschiedenste Arten und Weisen definieren, allerdings niemals als "Entweder-oder"-Konzept. Ein Plan, der auf der Alternative zweier Extreme gründet, müsste eher radikal als verantwortungsvoll und ausgeglichen genannt werden. Glücklicherweise ist der Inhalt des Dokuments weder radikal noch extrem, vielmehr ordnet er sich in die orthodoxe Tradition der Wirtschaftsplanung ein. Umso mehr irritiert dann aber die inadäquate Verwendung des Zitats von Piłsudski. Offenbar hatte sich in Morawiecki die Seele des Historikers zu Wort gemeldet und der patriotische Enthusiasmus während des Verfassens der Strategie tat sein Übriges. Nach der Veröffentlichung gab es viele Kommentare zur Autorschaft, beispielsweise boshafte, dass das Schreiben des "Plans für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" einer Consulting-Firma überlassen worden sei und die einzige Beteiligung Morawieckis war, das Zitat auszuwählen. Das Ministerium für Entwicklung teilte jedoch mit, dass das Dokument im eigenen Haus und mit Unterstützung von Experten anderer Ministerien entstanden ist.
Wachstumsgefährdende Fallen und Befreiungsmaßnahmen
Das Hauptziel der "Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" ist, für die Polen Bedingungen zu schaffen, die zu einem Anstieg des Einkommens führen, bei gleichzeitigem Anstieg der sozialen, wirtschaftlichen und regional-räumlichen Kohäsion. Die Strategie geht von der Annahme aus, dass das durchschnittliche verfügbare Bruttoeinkommen der Haushalte per capita nach Kaufkraftparität im Jahr 2030 100 Prozent des EU-Durchschnitts betragen wird (bei einem zugrunde gelegten Wert von 69 Prozent im Jahr 2014). Weiter soll durch die Umsetzung der Strategie der Anteil der von Armut und gesellschaftlichem Ausschluss Bedrohten reduziert werden (von aktuell fast 25 Prozent auf 20 bis 23 Prozent im Jahr 2020). Das BIP Polens soll bis 2030 vollständig mit dem EU-Durchschnitt konvergieren, bei gleichzeitiger Reduzierung der Disproportionen zwischen den einzelnen Regionen. Der Anteil der Regionen im Osten Polens am BIP betrug im Jahr 2013 15,3 Prozent, geplant ist ein Anstieg auf 18 bis 20 Prozent im Jahr 2020.
Dieses Entwicklungsszenario, so die Darstellung in der "Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung", wird durch "Fallen" gefährdet. Die Beschränkungen, die laut Morawieckis Diagnose die polnische Wirtschaft in der "Falle des mittleren Einkommens" ersticken, sind die Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung vom Ausland (die "Falle des fehlenden Gleichgewichts"), die "Falle des unteren Durchschnittsprodukts", das demografische Problem, die schwachen staatlichen Institutionen und die Kosten für die Bedienung der öffentlichen Schulden. Diese Diagnose wird von einer Reihe makroökonomischer Daten unterstützt. So wird im Dokument festgestellt, dass trotz des offiziellen Durchschnittseinkommens von mehr als 4.000 Zloty die Hälfte der Polen immer noch weniger als 2.500 Zloty "auf die Hand" bekommt, was bedeutet, dass die polnischen Gehälter um ein Dreifaches geringer sind als in den hochentwickelten Ländern (die "Falle des mittleren Einkommens"). 95 Mrd. Zloty des polnischen BIP gehen an ausländische Investoren (in Form der Kosten für die Bedienung privater und öffentlicher Schulden). Die Achillesferse – so die Bezeichnung Morawieckis auf einer seiner Pressekonferenzen – der polnischen Wirtschaft sind die privaten Ersparnisse. Die Regierung möchte sie für ihr Investitionsprojekt nutzen. Bislang generieren ausländische Firmen 50 Prozent der "polnischen" Industrieproduktion und zwei Drittel des "polnischen" Exports (die "Falle der fehlenden ausgeglichenen Bilanz"). Nur 5 Prozent dieses Exports stellen Innovationen dar und zwar deshalb, weil nur knapp 13 Prozent der polnischen kleinen und mittleren Unternehmen Innovationen umsetzen (gegenüber 31 Prozent in der EU). Im Ergebnis bedeutet das, dass für Forschung und Entwicklung in Polen weniger als 1 Prozent des BIP bestimmt ist (die "Falle des Durchschnittsprodukts"). Die nächste Falle, die demografische, steht im Zusammenhang mit dem erwarteten Bevölkerungsrückgang in Polen und der zunehmend ungünstigen Altersstruktur. Gegenwärtig leben in Polen 7 Mio. Menschen im vor-erwerbstätigen Alter (0 bis 17 Jahre). Halten die aktuellen Trends an, werden es in 20 Jahren 5,6 Mio. Menschen sein. Polen weist eine der niedrigsten Geburtenraten (zirka 1,33 Prozent) auf, bei gleichzeitigem negativen Migrationssaldo. Die letzte "Falle" liegt in den schwachen Institutionen. Das Strategiepapier illustriert dies mit einem Mangel an Koordination in der öffentlichen Politik, einer übermäßigen Gesetzgebung (beispielsweise 44 Gesetzesnovellen zum Mehrwertsteuergesetz seit dem Jahr 2004), dem oppressiven Staatsapparat (40 staatliche Institutionen können Unternehmer kontrollieren) und Steuerschlupflöchern (Schätzungen zufolge mehr als 35 Mrd. Zloty im Falle der Mehrwertsteuer und mehr als 10 Mrd. Zloty im Falle der Einkommensteuer).
Die Befreiung aus den genannten "Fallen" bedeute die Befreiung des eigenen Potentials, das zugunsten der Entwicklung Polens und der Verbesserung der Lebensqualität der Polen wirken sollte. Die fünf Säulen, auf die sich die Entwicklung Polens in Zukunft stützen soll, sind Reindustrialisierung, Innovationen, Aufbau von Ersparnissen und, damit verbunden, einer entwicklungsbereiten Kapitalbasis, Unterstützung des Exports und der sozialen und regionalen Entwicklung. Die Reindustrialisierung soll mittels Ressourcenkonzentration in den Branchen, in denen Polen Wettbewerbsvorteile erlangen kann, stattfinden. Jede Region soll sich auf eine eigene "intelligente Spezialisierung" fokussieren. Die Entwicklung innovativer Firmen soll die Entwicklung der Gesamtwirtschaft nach sich ziehen. Es geht hier sowohl um kleine und mittlere Unternehmen als auch um große Firmen, die über bessere Bedingungen verfügen, Innovationen umzusetzen, hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und Kooperations- und Expansionsketten ins Ausland aufzubauen. Das dritte Element der Strategie, "Kapital für Entwicklung", beruht darauf, in der Bevölkerung eine Kultur des Sparens zu entwickeln, die den Polen eine sichere Zukunft gewährleisten soll und der Wirtschaft Kapital für ihre Entwicklung. Die Rolle des Staates beschränkt sich hier darauf, die rechtlichen Bedingungen für eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Gewinn der Unternehmen zu schaffen, und auf Unterstützung bei der Rentenansparung. Auch die Expansion ins Ausland (inklusive neuer Exportrichtungen) soll vom Staat stärker unterstützt werden, beispielsweise durch eine aktivere Wirtschaftsdiplomatie. Die soziale und regionale Entwicklung schließlich soll sich auf drei Bereiche konzentrieren: auf die ländlichen Regionen, eine wirksame Regionalpolitik und die Bildung. Festgestellt wird, dass es ohne die Überwindung des demografischen Tiefs keine Entwicklung geben kann, was die Ankündigung einer aktiven Geburtenpolitik nach sich zieht. Des Weiteren kündigt die Regierung die Reaktivierung des Berufsschulwesens und dessen Anpassung an den Arbeitsmarkt an und beruft sich auf das gut funktionierende deutsche System. Das duale Ausbildungsmodell – die Kombination von theoretischer Bildung und praktischer Ausbildung beim Arbeitgeber – soll in Zusammenarbeit mit der Industrie ausgearbeitet werden. Die regionale Entwicklung soll nach Morawieckis Konzept ausgeglichener verlaufen, was eine größere Unterstützung und Entwicklung für Ostpolen sowie die Kleinstädte und ländlichen Gebiete bedeutet. Die einzelnen Regionen sollen sich auf eine intelligente Spezialisierung konzentrieren. Was die Branchen betrifft, nennt der "Morawiecki-Plan" beispielhaft zehn Sektoren, die Motoren der Entwicklung der polnischen Wirtschaft werden sollen: Elektronik, Programmierung, ökologisches Bauwesen, Medizintechnik und Telemedizin, Bergbauindustrie, hochwertige Lebensmittel, Wertstoffrecycling, Militärsysteme, Massentransportmittel, Luft- und Raumfahrt. Des Weiteren verweist die "Strategie" auf einige horizontal angesiedelte Faktoren wie die Digitalisierung, intelligente öffentliche Ausschreibungen, solide öffentliche Finanzen usw. Das Dokument wird mit einem Zeitplan und der Spezifizierung der Ziele abgeschlossen. Einzelne Schritte sind auf einer Zeitachse bis zum Jahr 2030, zum Teil sogar bis 2040 aufgeführt.
Kommentare und Reaktionen auf den Morawiecki-Plan
Das Dokument "Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" wurde allgemein als kompetente Problemanalyse gelobt. Die Diagnose benenne zutreffend die aktuellen und zukünftigen Gefahren für die Entwicklung der polnischen Wirtschaft. Wojciech Warski, Mitglied des Business Centre Club, einem polnischen Wirtschaftsverband, kommentierte die Hauptthesen folgendermaßen: "In dem Dokument werden die Probleme sehr kompetent bestimmt. Aber dass die Probleme dergestalt sind, wissen wir seit langem. Konkrete Vorschläge gibt es nicht allzu viele. […] Die Annahmen sind zutreffend, bisher fehlen allerdings Konkretisierungen." Generell waren Fragen nach der Ausführbarkeit der häufigste Ausdruck von Skeptizismus gegenüber dem "Morawiecki-Plan". Prof. Witold Orłowski, Partner im polnischen Netzwerk von PwC (PricewaterhouseCoopers AG) meint: "Um die Pläne zu realisieren, muss es polnisches Kapital geben und Kapital wird über Ersparnisse vergrößert. Morawiecki hat mit keinem Wort gesagt, wie er die Ersparnisse der Polen vermehren will, dies jedoch ist die schwierigste Aufgabe." Mit anderen Worten: Das Dokument wird für seine Diagnose und die Aufstellung der Entwicklungsziele gelobt. Seine deutliche Schwäche ist allerdings die Antwort auf die Frage, wie diese Ziele erreicht werden sollen und mit welchen Mitteln.
Aus dem PiS-Lager waren Stimmen zu hören, dass Morawiecki plane, ein angemessenes Verhältnis zwischen dem freien Markt und der Rolle des Staates in der Wirtschaft auszutarieren. Die Mehrheit der Kommentatoren kritisierte jedoch diesen wichtigen Aspekt des Plans und meinte, er erinnere an den staatlichen Interventionismus aus der Zeit der Volksrepublik Polen. Die manuelle Lenkung im Rahmen der zentralen Planwirtschaft hatte für Polen in den 1980er Jahren eine der größten Wirtschaftskrisen in seiner Geschichte zur Folge. Unterdessen schlägt die Regierung die Gründung riesiger bürokratischer Moloche vor (wie den Polnischen Entwicklungsfonds/Polski Fundusz Rozwoju) mit unklaren Kompetenzen und abhängig von Politikern.
Auch der Teil der "Strategie", der der Reindustrialisierung gewidmet ist, wurde recht breit gelobt, vor allem mit Blick darauf, dass er sich in die gesamteuropäischen Pläne in diesem Bereich einfügt. Dabei geht es nicht ausschließlich um den Auf- und Ausbau der Industrie in Polen. Vor allem geht es darum, dass die polnischen Unternehmen nicht nur relativ einfache Teilstücke für ausländische Konzerne produzieren. Die polnische Wirtschaft soll beginnen, mehr höherwertige Produkte und diese mit einer hohen Gewinnspanne herzustellen. Dieser Aspekt hat auch mit der qualitativen Struktur des polnischen Exports zu tun. Zwar verbessert sich diese systematisch, allerdings ist ein polnischer Export, der hochwertig verarbeitete, technologisch fortgeschrittene Produkte transferiert, hergestellt in Unternehmen, die mit polnischem Kapital aufgebaut wurden, immer noch ein Traum. Dagegen präsentiert sich der polnische Export in quantitativer Hinsicht sehr positiv. Bereits im Jahr 2015 notierte Polen eine positive Handelsbilanz (nach Meinung von Experten ist dies vor allem auf den dauerhaft niedrigen Benzinpreis zurückzuführen, der eine dominierende Position beim Import darstellt). Der Handelsüberschuss trat sogar im Warenverkehr mit solchen Champions des internationalen Handels wie Deutschland und den Niederlanden auf.
Der größte Kritikpunkt betrifft allerdings die enorme Diskrepanz zwischen den erklärten Zielen und dem tatsächlichen Handeln im wirtschaftlichen und politischen Bereich. Die Regierung kritisiert in dem Dokument ihres wichtigsten Ministers das hohe Defizit, also die wachsende Verschuldung, verabschiedet aber gleichzeitig den Haushalt für das Jahr 2017 mit dem höchsten nominalen Defizit. Unterdessen wächst die polnische Verschuldung (die im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt immer noch gering ist, insbesondere in Relation zu anderen entwickelten Ländern) dynamisch und überstieg Anfang 2017 die symbolische Marke von einer Billion Zloty. Das BIP selbst wächst deutlich schwächer als unter den Vorgängerregierungen und deutlich langsamer als PiS angekündigt hat. Der Rückgang der Wachstumsdynamik des BIP in der Zeit der Regierung von Ministerpräsidentin Beata Szydło war de facto einer der dynamischsten Rückgänge seit 1989. Das schlimmste ist, dass der Faktor des BIP, der für diesen Rückgang verantwortlich ist, zum größten Teil die Investitionen sind. Sie gingen im ersten Regierungsjahr von PiS dynamisch zurück, was ein Zeichen für die Verschlechterung des Investitionsklimas in Polen ist. Die Ratingagenturen weisen auf das "politische Risiko" als Hauptgrund für die negativen oder bestenfalls vorsichtigen Bewertungen der polnischen Wirtschaft hin. Diese Situation harmoniert nicht mit dem während des gesamten Jahres 2016 kreierten Bild, als Morawiecki erstmals die Grundsätze seines Plans vorstellte, diese anschließend beraten, diskutiert und beworben wurden und schließlich ihre letztgültige Version als "Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" fanden. Natürlich ist der Anfang des Jahres 2017 zu früh, um die Wirksamkeit des großangelegten Plans bis zum Jahr 2030 zu beurteilen. Allerdings bleibt die Diskrepanz zwischen den seit einem Jahr verkündeten Deklarationen, Ideen und Wirtschaftsplänen auf der einen und der tatsächlichen Wirtschaftspolitik und in der Folge den ökonomischen Indikatoren auf der anderen Seite zu groß, um der Aufmerksamkeit der Beobachter und Experten zu entgehen.
Fazit und Ausblick
Die "Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" ist in gewisser Weise die Konsequenz aus den Versprechungen, die PiS im Wahlkampf 2015 gemacht hat, als Parteichef Jarosław Kaczyński Investitionen in Höhe von einer Billion Zloty ankündigte. Woher sollen die Mittel kommen? Nach Mateusz Morawiecki sollen 50 bis 80 Mio. Zloty von Banken, Investitionsfonds und internationalen Institutionen bereitgestellt werden. Die Gesellschaften des Staatsschatzes und polnische private Firmen stellen 230 Mrd. Zloty des "Investitionspotentials" dar. Ein Investitionsmechanismus soll der Polnische Entwicklungsfonds sein, die Bank für Landeswirtschaft (Bank Gospodarstwa Krajowego) sowie staatliche Unternehmen, deren Beitrag 215 bis 370 Mrd. Zloty betragen soll. Den größten Teil sollen natürlich die EU-Fonds beisteuern, zirka 480 Mrd. Zloty (der eigene Beitrag inklusive).
Wenn eines der Hauptziele des Programms ist, vom Ausland unabhängiger zu werden, mit der "abhängigen Entwicklung", dem Postkolonialismus, der "Falle des mittleren Einkommens" zu brechen, dann ist eine Umsetzung dieses Ziels mit Hilfe von finanziellen Instrumenten, die hauptsächlich auf externen Mitteln beruhen, einigermaßen empörend. Mit Hilfe von EU-Mitteln vom Ausland unabhängiger zu werden ist nur eines der seltsamen Paradoxe, die bei der Lektüre des Dokuments sichtbar werden. Insgesamt sind die Finanzierungsquellen das schwächste Element des gesamten Plans. Zwar wird im Dokument präzisiert, woher die Summe von 1,4 Billionen Zloty kommen soll. Die Summe hat aber die Tendenz zu steigen: Anfang 2016 war die Rede von 1 Billion Zloty aus öffentlichen und privaten Mitteln bis zum Jahr 2030; in der zweiten Hälfte 2016 wurde bereits von 1,5 Billionen Zloty gesprochen, ausschließlich der öffentlichen Mittel und bezogen auf einer kürzere Zeitspanne – bis zum Jahr 2020.
Es sei daran erinnert, dass sich Polen, ähnlich wie andere postkommunistische Länder, nach dem Bankrott des sogenannten sozialistischen Systems vor allem dank der Hilfe aus dem Ausland entwickelt hat. Wenn man vom polnischen BIP die kumulierten europäischen Mittel abzieht (die vor dem Beitritt bereitgestellten, zum Beispiel aus dem PHARE-Fonds, und die nach dem Beitritt bewilligten, zum Beispiel aus dem Kohäsionsfonds und den Strukturfonds) sowie die kumulierten ausländischen Investitionen und die Finanzmittel, die von der polnischen Diaspora nach Polen geschickt werden, dann würde sich das BIP per capita nicht an das BIP Portugals, sondern der Ukraine annähern. Die Lektüre der "Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung" suggeriert, dass sich die Autoren nicht gefragt haben, ob die von ihnen erträumte Wirtschaftspolitik unter den semi-peripheren Bedingungen, die für Polen gelten, möglich ist. Eine weitere Frage wäre, ob wir es nicht vielmehr mit einer Sammlung frommer Wünsche, gesättigt mit Wirtschaftspatriotismus (wenn nicht gar -nationalismus) zu tun haben, die die realen Determinanten der bisherigen Entwicklungslinie ignoriert. Es wäre sicherlich unnatürlich, sich nicht ambitionierte Ziele für die wirtschaftliche Entwicklung zu stecken. Jedoch scheint die Infragestellung und Ablehnung des bisherigen Entwicklungsmodells, das von allen (mit Ausnahme des politischen Establishments von PiS) als der größte Erfolg in der Geschichte Polens bewertet wird, zugunsten einer mehr oder weniger illusorischen Fantasie im Geiste Piłsudskis, ohne konkreten Hinweis auf die Methoden zur Umsetzung und die Finanzierungsarten eine wenig verantwortungsbewusste Strategie zu sein – die jedoch als "verantwortungsvolle Entwicklung" betitelt wird.
Ein anderes wichtiges Problem ist die Tatsache, dass manche Experten für Wirtschaftswachstum grundsätzlich in Frage stellen, dass es das Problem der "Falle des mittleren Einkommens". gibt. Sie führen an, dass die Statistiken der Nachkriegszeit beweisen, dass die deutliche Mehrheit der Länder nicht den Sprung auf die hohen Entwicklungsniveaus vollzogen hat. Diese Logik suggeriert, dass die Wachstumsdynamik gebremst wird, sobald ein mittleres Wachstumsniveau erreicht ist. Es sei daher leichter, den wirtschaftlichen Rückstand auf einem niedrigen Entwicklungsniveau aufzuholen, solange der Entwicklungsgrad und das BIP relativ gering sind (low base effect) – ebenso wie Entwicklung ausgelöst werden kann, wenn einem imitierten Wachstumstrend gefolgt wird. Wenn allerdings die "leicht zugänglichen Wachstumsquellen" (low hanging fruit) ausgeschöpft sind, müssen neue Wachstumsmotoren gefunden werden, die Alternativen zu billiger Arbeitskraft oder billiger, schmutziger Energie darstellen. Hier ist die Regel, dass dies der Mehrheit der Volkswirtschaften nicht gelingt und es sich um eine Ausnahme handelt, wenn eine Wirtschaft die Distanz zwischen einem mittleren und einem hohen Einkommensniveau überwindet. Viele europäische Wirtschaften entwickeln sich fortwährend, nachdem sie das durchschnittlichen EU-Bruttoinlandsprodukts auf dem Niveau von 80 bis 90 Prozent erreicht haben, doch sie holen nicht die Distanz zu den höchstentwickelten entwickelten Wirtschaften auf (bzw. nicht dauerhaft und dynamisch). Gleichzeitig lässt sich der Plan, ein Entwicklungsniveau von zirka 90 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts zu erreichen, schwerlich als wenig ambitioniert bezeichnen, zumal die Europäische Union einige der reichsten Länder der Welt umfasst. Ganz abgesehen davon, dass es sich um das höchste Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung Polens in seiner über tausendjährigen Entwicklung handelt.
Innovation, das heißt die teuerste und riskanteste Strategie, einen Wettbewerbsvorsprung aufzubauen, erfordert zusätzlich etwas, das die Wirtschaftssoziologen "Infrastruktur des Vertrauens" nennen. In Polen ist das Defizit an Vertrauen und gesellschaftlichem Kapital permanent spürbar, es wird geradeheraus von einer Kultur des fehlenden Vertrauens gesprochen. Das Regierungsjahr von PiS brachte hier keine Verbesserungen, sondern eher eine Zerstörung der "Vertrauensinfrastruktur" in vielen politischen und wirtschaftlichen Bereichen. Die Folge wurde sofort im Rückgang von Investitionen sichtbar, die eine wichtige Komponente des BIP und eine Ankündigung seines zukünftigen Wachstums sind – in diesem Falle des Rückgangs der Wachstumsdynamik. Das Schlagwort des Strategiepapiers, "Ein starkes Polen durch Zusammenarbeit", kann die Verluste, die in Polen seit 2015 im Bereich des gesellschaftlichen Kapitals eingetreten sind, keinesfalls ersetzen.
Der "gute Wandel", das Motto des Wahlkampfes 2015, der PiS an die Macht brachte, beinhaltet, das bisherige Entwicklungsmodell zu hinterfragen und ein neues vorzuschlagen. Die totale Kritik an der Transformation und an der Phase nach 1989 würde eine "souveräne strategische Vision" erfordern. Wenn die Regierung von Beata Szydło ein "Polen in Trümmern" vorfand, dann verlangt die neue Strategie eine radikale Veränderung. Indessen bietet der "Morawiecki-Plan" zu 90 Prozent die Fortsetzung einer Strategie, die auch in zahlreichen anderen Dokumenten dieses Typs zu finden ist, zum Beispiel in der "Entwicklungsstrategie für das Land bis zum Jahr 2020", die vom Ministerrat im September 2012 verabschiedet worden war, also unter der PO-Regierung von Donald Tusk. Derlei Strategien werden in Polen sehr häufig verfasst, aber sehr selten gelesen – und fast nie umgesetzt.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate