Das aktuelle Konzept einer europäischen "Energie-Union", das auf eine Initiative des amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, in seiner Zeit als polnischer Ministerpräsident zurückgeht, betont die Bedeutung regionaler Kooperation für die europäische Energiepolitik und insbesondere auch die Versorgungssicherheit. Dieser Beitrag untersucht mit Blick auf Polen und Deutschland, inwiefern unterschiedliche Interpretationen und Formulierungen von Energiesicherheit in den beiden Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik behindern. Deutschland und Polen nehmen in der Energiedebatte der EU eine hervorgehobene Stellung ein. Obwohl sie im Bereich der Energiesicherheit in vielen Fällen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, vertreten sie aufgrund divergierender Interpretationen häufig unterschiedliche politische Lösungen.
Während Deutschland die Entscheidung getroffen hat, den Betrieb von Atomkraftwerken (AKW) einzustellen und stattdessen den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben, bleibt Polen diesen gegenüber skeptisch und erwägt den Bau seines ersten AKW. Auch die Positionen zur Nutzung von Schiefergas divergieren. Polen blickt mit Enthusiasmus auf das Potential dieser Ressource, die Abhängigkeit von Energieimporten – insbesondere aus Russland – zu reduzieren und so für mehr Energiesicherheit zu sorgen. Deutschland hingegen hat auf Umweltbedenken mit gesetzlichen Regelungen reagiert, von denen erwartet wird, dass sie die Entwicklung von Schiefergas bis auf weiteres auf Eis legen.
In Bezug auf erneuerbare Energien, Atomenergie und Schiefergas können Polen und Deutschland ihre jeweils eigene nationale Politik verfolgen, solange keine EU-weite Harmonisierung vorgeschrieben ist. Im Zusammenhang mit Gas-Pipelines und Stromleitungen sind die Politiken aber miteinander verwoben und das Handeln des einen Landes wird vom anderen als direkte Bedrohung wahrgenommen. Die größte Kontroverse zwischen Deutschland und Polen im Bereich Energie ist eindeutig der Bau der Nord Stream-Pipeline, die direkte Erdgaslieferungen aus Russland nach Deutschland ermöglicht, wobei die traditionellen Transitstaaten, so auch Polen, umgangen werden. Aus diesem Grund verglich 2006 der damalige polnische Verteidigungsminister Radosław Sikorski (Bürgerplattform/Platforma Obywatelska – PO) das deutsch-russische Pipeline-Abkommen mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt (Hitler-Stalin-Pakt). Im Sommer 2016 führten Pläne, die Pipeline auszubauen (Nord Stream II), abermals zu Spannungen. Bei einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juni 2016 erklärte die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło (Recht und Gerechtigkeit/Prawo i Sprawiedliwość – PiS), der Ausbau von Nord Stream sei eine "Investition, die zur Spaltung Europas führen wird". Ein polnisches Kartellverfahren hinderte in der Folge Unternehmen aus der EU daran, mit Russland ein Joint Venture für das Nord Stream II-Projekt zu gründen.
Debatten über Energiesicherheit rücken Energiefragen häufig in den Bereich strategischer Planungen und nationaler Sicherheit, wodurch sie internationale Beziehungen im Energiebereich zu Fragen der Sicherheitspolitik machen können. Daher untersucht dieser Beitrag, wie Energiesicherheitsdebatten in Polen und Deutschland das Denken über Energiepolitik prägen. Auf diese Weise können wir die entscheidenden Themen und mögliche Divergenzen und Gemeinsamkeiten im Denken der zwei Nachbarstaaten über Energiepolitik identifizieren.
Erneuerbare Energien
Im Bereich der erneuerbaren Energien verfolgen Polen und Deutschland sehr unterschiedliche Strategien. Deutschland arbeitet auf eine schnelle Wende zu erneuerbaren Energien hin, mit dem Ziel Atomenergie kurzfristig und fossile Energieträger mittel- bis langfristig ersetzen zu können. Im Gegensatz dazu betont Polen die geopolitische Dimension der Energieversorgung. Unter diesem Aspekt wird Kohle als notwendig für die Gewährleistung einer umfassenden Stromversorgung des Landes erachtet, während Atomenergie – und perspektivisch auch ausgewählte, wirtschaftlich zu produzierende erneuerbare Energien – als zusätzliche Quellen gehandelt werden.
In Deutschland gelten erneuerbare Energiequellen nicht als Bedrohung für die Energiesicherheit, sondern – im Gegenteil – als der Weg, um diese zu erreichen. Auch in Polen erkennen einige das Potential der erneuerbaren Energien. Viele sehen in ihrem Ausbau allerdings ein mögliches Risiko für die Energiesicherheit. Erneuerbare Energien gelten, vor allem im Vergleich zu Kohle, als teuer, unzuverlässig und schwankend. Deshalb wird eine zunehmende Abhängigkeit von erneuerbaren Energien als Fortsetzung der aktuellen Abhängigkeitssituation Polens vom Ausland im Bereich der Energieversorgung wahrgenommen. Vor dem Hintergrund der seit langem bestehenden polnischen Abhängigkeit von russischem Gas- und Ölimporten sind viele im Land misstrauisch gegenüber dem Entstehen von Abhängigkeiten von ausländischen (z. B. deutschen) Technologien, insbesondere, wenn ihr Einsatz inländische Akteure benachteiligt. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kosten der Abkehr vom Kohlebergbau, an dem 100.000 Arbeitsplätze hängen, werden beispielsweise als zu hoch empfunden. Außerdem müsste die polnische Energie-Infrastruktur ausgebaut und modernisiert werden, um den Anteil erneuerbarer Energien am Energiemix Polens zu erhöhen, was erhebliche Zusatzkosten bedeuten würde.
Auch in Deutschland gibt es Bedenken bezüglich der Kosten der Wende zu erneuerbaren Energien und der wirtschaftlichen Folgen für die deutsche Industrie und private Verbraucher, insbesondere für die einkommensschwachen. Es ist allerdings festzuhalten, dass die Kostendiskussion – ebenso wie die über größere Schwankungen und das Risiko von Versorgungslücken – oft mit Blick auf den einzigartigen deutschen Weg geführt werden, der die Förderung erneuerbarer Energien mit dem Atomausstieg verbindet. Ein anderes Problem, das direkter mit den erneuerbaren Energien zusammenhängt, ist die Notwendigkeit des massiven und schnellen Ausbaus der deutschen Starkstromleitungen.
Ein großer Unterschied zwischen der deutschen und der polnischen Debatte über erneuerbare Energien besteht darin, dass deutsche Medien und ExpertInnen häufiger positive Aspekte des Ausbaus erneuerbarer Energien hervorheben, zum Beispiel dass eine technologische Vorreiterstellung eingenommen wird und neue Arbeitsplätze geschaffen würden.
Eine überraschende Gemeinsamkeit ist die seltene Thematisierung der klimatischen Auswirkungen der verschiedenen Energiequellen sowohl in den deutschen als auch in den polnischen Medien und Interviews: Wie jüngere Studien ergeben haben, wird Energiesicherheit nach wie vor stärker über Zuverlässigkeit und Kosten als über Umweltfreundlichkeit definiert. Eine weitere deutsch-polnische Gemeinsamkeit liegt in der Schwierigkeit, angemessene politische Maßnahmen zu finden, um den Ausbau und die Verbreitung erneuerbarer Energien zu unterstützen. In Polen ist die Wahrnehmung verbreitet, die gegenwärtige Politik habe in erster Linie große industrielle Akteure begünstigt. In Deutschland wurde vielfach das Problem der mangelnden Harmonisierung erwähnt, wobei zum einen die fehlende Koordinierung zwischen den Ministerien und zum anderen die Zusammenarbeit von Bund und Ländern kritisiert wurde.
Mit wenigen Einschränkungen äußerten EntscheidungsträgerInnen und ExpertInnen beider Staaten in Interviews positive Ansichten über eine verstärkte bilaterale Kooperation im Energiebereich. Deutsche Interviewpartner sind sich bewusst, dass die deutsche Praxis der Einspeisung überschüssiger Energie in das polnische Netz (loop flows) für Polen problematisch ist. Die Meinungsverschiedenheiten über Klima- und Atompolitik wurden ebenfalls mehrfach erwähnt. Polnische Experten betonten, dass Polen von der deutschen Energiewende lernen könne, und wiesen auf das große Interesse polnischer Kommunen hin. Auf nationaler und Unternehmensebene besteht allerdings die Sorge, Deutschland könne seine Energiewende propagieren, um die eigene Industrie voranzubringen und die deutsche technologische Dominanz auszubauen. Vom polnischen Standpunkt aus betrachtet wäre eine Wende zu erneuerbaren Energien leichter umzusetzen, wenn Deutschland – und die EU – die politischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten in Polen stärker berücksichtigen und das Land dabei unterstützen würden, negative Folgen aufzufangen. ExpertInnen aus beiden Ländern sind sich darin einig, dass die Energiewende einfacher wäre, wenn es eine stärkere Koordination der verschiedenen Politikbereiche gäbe – sowohl innerhalb nationaler Grenzen als auch über sie hinweg.
Atomenergie
Auch die polnischen und deutschen Debatten über die Zukunft von Atomkraftwerken unterscheiden sich erheblich. Sie gehen von verschiedenen Ausgangspunkten und Bedenken aus. Zwar haben beide Staaten in den 1950er und 1960er Jahren mit Atomreaktoren experimentiert, jedoch hat nur Deutschland den Schritt zur groß angelegten zivilen Nutzung atomarer Energie gemacht. Zuerst errichtete die DDR das Atomkraftwerk Rheinsberg, später folgte die Bundesrepublik Deutschland. Nach der Wiedervereinigung blieben nur die westdeutschen Reaktoren in Betrieb. Ab den 1980er Jahren wurde eine allmähliche Abkehr von der Atomenergie diskutiert. Allerdings wurde die Entscheidung zum Atomausstieg erst in der Folge der Reaktorkatastrophe von Fukushima (Japan) im Jahr 2011 getroffen – die letzten AKW sollen 2022 vom Netz gehen. In Polen gab es ab den späten 1970er Jahren konkrete Pläne zur Errichtung eines AKW, dessen Konstruktion in den 1980er Jahren am Zarnowitzer See (Jezioro Żarnowieckie) bei Danzig (Gdańsk) begann. In den 1990er Jahren wurde der Bau jedoch abgebrochen und ein Moratorium für Atomenergie verkündet, da es nach jahrelangen Protesten einer Bürgerbewegung an der Baustelle gesellschaftlichen Protest im ganzen Land gab. Ab 2005 kam die Idee, ein AKW zu errichten, erneut auf und seit 2009 wird das offizielle polnische Atomprogramm diskutiert, mit dem Ziel, bis Mitte der 2020er Jahre zwei Reaktoren, möglicherweise wieder bei Zarnowitz, zu errichten.
In Deutschland steht der Sorge um die Sicherheit der Reaktoren die Sorge über die möglichen Auswirkungen des Atomausstieges auf die nationale Energiesicherheit im weiteren Sinne gegenüber. Es wird auch bezweifelt, ob die Abschaltung der AKWs möglich ist, ohne in Form der Nutzung von Kohle und Braunkohle für die Grundlasterzeugung Kompromisse für die Sicherheit der Umwelt und bei der Bekämpfung des Klimawandels einzugehen. In Polen werden Reaktorsicherheit und der Umgang mit atomarem Abfall lediglich auf theoretischer Ebene diskutiert, während die Argumentation für die Konstruktion der ersten AKW des Landes an den Kategorien Energieunabhängigkeit, Modernisierung und Rentabilität orientiert ist.
In den polnischen Medien wird Atomenergie als Antwort auf die Abhängigkeit des Landes in der Energieversorgung präsentiert. Häufig wird hier Bezug zu Russland genommen, obwohl aus Russland importiertes Erdgas und Atomkraft im polnischen Energiemix nicht notwendigerweise austauschbar sind. Referenzpunkt der Sicherheit ist also das Atomenergieprojekt an sich – und die beiden zentralen "Bedrohungen" oder Herausforderungen, die erwähnt werden, sind die geringe gesellschaftliche Akzeptanz der Atomenergie und die wachsenden Investitionskosten. Die polnische Regierung unter der Führung der PO initiierte eine großangelegte Medienkampagne, die darauf abzielte, die entscheidenden gesellschaftlichen Gruppen (Kommunen und unentschlossene BürgerInnen) zu überzeugen, das Atomenergieprojekt und die Argumente der nationalen Sicherheit und der Modernisierung zu unterstützen.
"Ein Land, das im ökonomischen Aufstieg begriffen ist, besonders eines wie Polen, kann sich eine verhältnismäßig teure Investition nicht einfach aufgrund von Launen leisten. Es stehen sehr ernstzunehmende Gründe dahinter. Einer dieser Gründe ist unsere Konzeption von Energiesicherheit, die Notwendigkeit, [Energiequellen] zu diversifizieren, ebenso wie die Struktur der Energieproduktion im Stromsystem", erklärte ein Vertreter der damaligen Abteilung für atomare Energie im Wirtschaftsministerium. Andererseits wird die Rationalität des Projektes und die Angemessenheit der Beteiligung der Regierung von anderen in Frage gestellt: "Man fragt sich manchmal, ob die Regierung dieses Programm wirklich durchdacht hat", merkte ein Anwalt an, der an der Gesetzgebung zur Atomenergie mitarbeitet. Als zentrale Bedenken werden Verzögerungen des Programms und Fragen der ökonomischen Sicherheit auf gesellschaftlicher und nationaler Ebene vorgebracht.
In Deutschland ist die Frage der Atomenergie wesentlich politisierter, was sich in Ausmaß und Hitzigkeit der medialen Debatte zeigt. Die am häufigsten genannte Schwierigkeit der Energiepolitik des Landes ist die Abhängigkeit von Importen und, ebenfalls wichtig, der Klimawandel. In diesem framing stellt die Atomenergie keinen Teil der Lösung dar, sondern wird zu einem Problem, das aufgrund bezweifelbarer Reaktorsicherheit und atomarer Abfälle mit Sicherheitsrisiken verbunden ist. Auf der anderen Seite sorgt die Abschaltung der AKW für Bedenken bezüglich der Kosten, dem möglichen Anstieg der Strompreise und der Unbeständigkeit erneuerbarer Energiequellen, die die Zuverlässigkeit des Energiesystems einschränken.
Die beiden nationalen Perspektiven – oder zumindest die dominanten Positionen, die sich aus den Debatten ableiten lassen, – sind schwer miteinander zu versöhnen. In Deutschland ist die Anti-Atomkraft-Stimmung sehr stark und es besteht ein breiter Konsens zugunsten eines allmählichen oder schnellen Atomausstiegs. Deutsche BürgerInnen und Umweltorganisationen protestierten darüber hinaus gegen das polnische Atomenergieprojekt, indem sie hunderte von Protestbriefen an verschiedene zuständige Stellen sandten, in denen sie sich in der Regel auf die Aarhus-Konvention zur transnationalen Abschätzung von Umweltfolgen bezogen. Was in Deutschland als logischer Schritt wahrgenommen wird, um unnötige Risiken zu reduzieren und das Energiesystem und die Wirtschaft umzugestalten, scheint aus polnischer Perspektive alles andere als rational zu sein. "Ich denke, in Polen haben wir eine Gesellschaft, die ausreichend rational ist, während das, was wir in Deutschland sehen, für mich ein logischer Irrweg ist. Es gibt dort keinen Raum für Diskussion, aber in einem demokratischen Staat sollte es immer Raum für Diskussion geben. In dieser Debatte bedeutet eine gegensätzliche Meinung Rückschrittlichkeit", erklärte ein polnischer Energieexperte, der 2013 an einer deutsch-polnischen Diskussion über Atomenergiepolitik in Berlin teilnahm.
Die Nord Stream-Pipeline
Noch kontroverser wird die Nord Stream-Pipeline diskutiert, die Russland die Möglichkeit gibt, Erdgas durch die Ostsee direkt nach Deutschland zu liefern, wobei die Transitstaaten in Mittel- und Osteuropa, darunter auch Polen, umgangen werden. Während Polen und Deutschland in Bezug auf erneuerbare Energien und Atomenergie im Prinzip unabhängig voneinander verschiedene Strategien verfolgen können, werden Handlungen im Zusammenhang mit Pipelines vom jeweils anderen Staat als direkte Bedrohung wahrgenommen.
In Polen ist die Diskussion über die Nord Stream-Pipeline in den Medien und im Parlament über alle Parteigrenzen hinweg enorm negativ gewesen. Nord Stream gilt als politisch motiviert und als Gefahr für die polnische Energiesicherheit. Im Vergleich zu Deutschland fand im polnischen Parlament eine sehr viel breitere Debatte statt. Ohne dass positive Aspekte der Nord Stream-Pipeline zur Sprache gekommen wären, wurde ihre Konstruktion direkt mit ökonomischen Bedrohungen und mit politischen Risiken in Verbindung gebracht. Es wurde das Argument vorgebracht, dass Russland nach Abschluss des Baus der Pipeline seine Gaslieferungen nach Polen aussetzen könnte, ohne Deutschland und anderen westlichen Verbraucherländern zu schaden. Außerdem würde der Bau der Pipeline Umweltschäden verursachen, zu einem Verlust von Transitzahlungen für russisches Gas führen, das momentan durch Polen geleitet wird, und die Hafeneinfahrt in Swinemünde (Świnoujście) für größere Schiffe blockieren, was wiederum die Diversifizierung der Energieversorgung beeinträchtigen würde. In den polnischen Medienberichten waren die Hauptbedrohungen, die mit der Nord Stream-Pipeline in Verbindung gebracht wurden, politischer Art, gefolgt von wirtschaftlichen und Umweltrisiken, wobei technische Risiken nur selten thematisiert wurden.
Die deutsche Diskussion über die Nord Stream-Pipeline fiel positiver aus. Das Projekt ist häufig als alternative Transportroute dargestellt worden, die Transitstaaten wie die Ukraine umgeht und auf diese Weise die deutsche Energiesicherheit stärkt. Abweichende Stimmen haben in erster Linie die mit dem Bau der Pipeline verbundenen Umweltrisiken hervorgehoben, die Schäden für die Beziehungen Deutschlands mit Polen und den baltischen Staaten, die sich entschieden gegen die Pipeline stellen, sowie die wachsende Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen. Im deutschen Parlament gab es nur eine kleine Diskussion über die Nord Stream-Pipeline. Während die verschiedenen Regierungskoalitionen unabhängig von den beteiligten Parteien die Pipeline im Allgemeinen befürworteten, waren die Grünen (kurz nach der Unterzeichnung des Pipeline-Vertrages im Herbst 2005 in der Opposition) am kritischsten.
In deutschen Medienberichten ist die Pipeline als ein politisches Projekt kritisiert worden, mit dem Druck auf die Transitstaaten für russisches Gas ausgeübt werden soll und das die Beziehungen zu Polen und zu den baltischen Staaten belastet. Außerdem werden eine verstärkte Abhängigkeit von russischem Gas und das Risiko von Umweltschäden für die Ostsee als Folgen der Pipeline gesehen. Zudem ist argumentiert worden, dass Nord Stream im Verhältnis zu alternativen Überland-Pipelines zu teuer sei.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die emotionalere polnischen Debatte sich weitgehend auf eine Sicht beschränkte, in der die meisten Risiken direkt mit Ängsten vor einer russisch-deutschen Annäherung auf Kosten polnischer Interessen verknüpft wurden. Die weit weniger aufgeregte deutsche Debatte konzentrierte sich auf die Umweltrisiken, während Verweise auf politische Risiken in der Regel im Kontext der bewussten Reflexion polnischer Bedenken gemacht wurden.
Basierend auf dieser Analyse der polnischen Debatte lässt sich argumentieren, dass die Ukrainekrise 2014 in Kombination mit dem Wechsel Donald Tusks vom Amt des polnischen Ministerpräsidenten zum Präsidenten des Europäischen Rates die Voraussetzung dafür schuf, dass die polnische Bedrohungswahrnehmung die europäische Energiepolitik stärker prägte und Tusks Vorschläge in das Konzept der EU für die Energie-Union einflossen.
In diesem Zusammenhang ist es umso aufschlussreicher, dass der 2015 von Gazprom vorgebrachte Vorschlag zum Ausbau der Nord Stream-Pipeline das Gefühl eines Déjà-vu hervorgerufen hat. Die Bundesregierung hat erneut erklärt, der Ausbau der Pipeline sei kein politisches, sondern ein ökonomisches Projekt. In der Antwort auf eine offizielle Anfrage der Parlamentsfraktion der Grünen verkündete sie im April 2016, dass Gazproms Position auf dem europäischen Binnenmarkt "in erster Linie von der Wettbewerbsfähigkeit russischer Gaslieferungen im Wettbewerb mit anderen Anbietern" abhinge. Der polnischen Forderung, die Pipeline über Land über polnisches Territorium zu verlegen, entgegnet die Bundesregierung, das Nord Stream-Konsortium sei in den eigenen finanziellen und wirtschaftlichen Entscheidungen frei.
Tusk gab allerdings zu bedenken, dass der Nord Stream-Ausbau nicht den EU-Energierichtlinien über die Diversifizierung der Versorgung entspräche und die Rolle der Ukraine als Transitstaat untergrabe. Wie bereits erwähnt, sprach die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło bei einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juni 2016 mit Blick auf die Folgen eines Ausbaus der Investition von einer "Teilung Europas". Als Reaktion auf ein polnisches Kartellverfahren entschieden die an dem Nord Stream II-Projekt beteiligten Unternehmen im August 2016, sich für den Ausbau nicht zu einem Joint Venture zusammenzuschließen. Erneut zeigte diese Episode unabhängig von der Zukunft des Projektes, dass die polnischen und deutschen Wahrnehmungen der Energiesicherheit in Bezug auf russische Gaslieferung so gegensätzlich sind wie eh und je.
Schiefergas
Schiefergas hat in letzter Zeit in Europa eine Vielzahl von Kontroversen und Hoffnungen hervorgerufen, wie an den Energiedebatten in Polen und Deutschland abzulesen ist. Während Polen das Schiefergas-Projekt anfangs sehr enthusiastisch anging, wählte Deutschland unter Berücksichtigung von Umweltrisiken und der öffentlichen Meinung eine wesentlich vorsichtigere Herangehensweise. In Polen und Deutschland greifen zwei Problemstellungen ineinander: Die Verfügbarkeit von Schiefergas als Ressource und die technologischen Risiken des Produktionsprozesses (fracking). Dementsprechend kann zwischen Debatten über die Bedeutung von Schiefergas für die Energiesicherheit einerseits und Debatten über die Umweltrisiken von fracking andererseits unterschieden werden. Während der erste Aspekt die polnischen Diskussionen prägt, ist letzterer in der deutschen Schiefergasdebatte präsenter.
Polnische Medien haben über Schiefergas in erster Linie im Hinblick auf Polens Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen berichtet, insbesondere zu Beginn der Debatte im Jahr 2011. Russland wurde häufig als potentielle Bedrohung für die polnische Energiesicherheit genannt. Allerdings wurde dem fracking als Umweltbedrohung, die zur Vergiftung des Wassers führen und die Umwelt beschädigen kann, das gleiche Maß an Aufmerksamkeit gewidmet (siehe auch
In Polen durchgeführte Interviews mit ExpertInnen offenbarten ihre pragmatische Einstellung zur Rolle von Schiefergas für die Steigerung der polnischen Energiesicherheit. Die Interviews wurden 2015 und 2016 durchgeführt, als die erste Welle der Begeisterung für Schiefergas in Polen abgeebbt war, nachdem einige globale Erdöl- und Erdgasunternehmen, die die Exploration vorangetrieben hatten, Polen wieder verlassen hatten. Polnische ExpertInnen äußerten, dass mehr Untersuchungen und Forschung notwendig seien, um den Umfang des kommerziell verwertbaren Gases in Schiefergesteinsformationen realistisch einschätzen zu können. Dementsprechend lautete die am häufigsten wiederholte Empfehlung, vor Ort weitere Untersuchungen durchzuführen und so viel wie möglich über den Umfang förderbarer Vorkommen in Polen herauszufinden. Bis Juni 2016 sind etwa 70 Explorationsbohrungen durchgeführt worden, wobei zirka 200 solcher Bohrungen notwendig sind, um sich ein Bild des kommerziell nutzbaren Schiefergasvorkommens in Polen machen zu können. Auch in Deutschland wurde vielfach die Empfehlung zu weiteren Schiefergasuntersuchungen gegeben. Dabei ging es in der Regel jedoch um Einschätzungen zu den Folgen der Nutzung von Schiefergas für die Umwelt. Das Moratorium der Bundesregierung für die Zeit, bis die Risiken besser bekannt und messbar sind, wurde als eine gute Lösung beurteilt.
Allerdings hat das Polnische Nationale Geologische Institut die bisher einzigen Untersuchungen in Europa durchgeführt, die verschiedene Auswirkungen der Schiefergasförderung auf die Umwelt messen. Diese wurden jedoch nicht in eine spezielle Gesetzgebung umgesetzt. Außerdem bleibt den ExpertInnen des Instituts zufolge das Problem des Umgangs mit den Abfällen des fracking in Polen ungelöst. Eine entsprechende Gesetzgebung wurde im deutschen Bundestag entworfen und schließlich im Juni 2016 verabschiedet.
In beiden Ländern hat das Interesse an Schiefergas in letzter Zeit wegen der sinkenden Öl- und Gaspreise abgenommen. Fracking ist eine teure Technologie, so dass Schiefergas bei Ölpreisen unter 50 US-Dollar pro Barrel nicht mehr rentabel ist. Dennoch hat die polnische Regierung ein Gesetz über die Versteuerung unkonventioneller fossiler Brennstoffe vorbereitet und das polnische Geologierecht abgeändert, um die Bedingungen für eine Neubelebung des Schiefergas-Projektes zu schaffen, sobald die Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt erneut steigen.
Internationale Verbindungsleitungen für Strom
Sowohl für Deutschland als auch für Polen bringt die bestehende Infrastruktur für Elektrizität Probleme mit sich. In Polen sind die Übertragungs- und Verteilungsnetze in schlechtem Zustand und in vielen Regionen für die langfristige Versorgung von Bevölkerung und Industrie nicht ausreichend. In Deutschland bleiben die Jahrzehnte der Teilung in West und Ost sichtbar, da die wenigen Verbindungen zwischen den Gebieten der zwei früheren Staaten den Verbindungsleitungen zwischen zwei separaten nationalen Systemen gleichen. Dies wird im Zusammenhang mit der Ausweitung des Einsatzes erneuerbarer Energien zunehmend zum Problem, da erneuerbare Energien häufig in Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte und schlechter Energieinfrastruktur produziert werden. In Kombination mit einem Handelssystem, das nicht den tatsächlichen Möglichkeiten des Energieflusses entspricht – nicht nur Brandenburg und Bayern liegen in derselben Marktgebietszone, sondern auch Baden-Württemberg und Österreich –, führt das zu häufigen unkontrollierten Elektrizitäts-Ringflüssen (loop flows), also dazu, dass Energie aus dem deutschen Nordosten durch das polnische Netz nach Süden fließt.
Obwohl polnische JournalistInnen und ExpertInnen der deutschen Seite häufig vorwerfen, diesem Problem nicht im angemessenen Maße Aufmerksamkeit zu widmen, ist die Debatte über Verbindungsleitungen und Übertragungsnetze in den deutschen Medien erheblich prominenter als in den polnischen. Von den 1.457 im Rahmen unseres Projektes analysierten Artikeln aus deutschen Medien, die auf das Elektrizitätssystem Bezug nehmen, nennt ein großer Teil verschiedene Formen technischer Gefahren für das System. Vor allem werden das unzureichende Netz thematisiert sowie die Möglichkeit von Blackouts und Probleme, die für benachbarte Systeme entstehen können. Viel davon wird den "nicht kontrollierbaren" erneuerbaren Energien angelastet, zumindest von den konservativen Medien.
Die am häufigsten vorgeschlagene Lösung ist die einfache, "negative": Die Trennung der zwei Energiesysteme. Da es aber de facto unmöglich ist, die Verbindung zu kappen, sind auf Druck des polnischen Netzbetreibers an den zwei deutsch-polnischen Verbindungsstellen Phasenschieber installiert worden. Eine "positive" Lösung wäre die Integration Polens in die mitteleuropäischen Stromlieferungen durch die Ausweitung der Übertragungsinfrastruktur auf beiden Seiten der Grenze und den Bau neuer Verbindungsleitungen. Das ist aus wirtschaftspolitischen Gründen allerdings schwierig, da die größere Integration der Leitungsnetze zu mehr Wettbewerb unter den Stromanbietern führt und damit die teureren Stromquellen aus dem Handel gedrängt würden. Früher waren die deutschen Preise höher, in den letzten Jahren lagen aber die polnischen Energiepreise im Großhandel konstant über den deutschen. Polnische Stromproduzenten könnten also in ihrem eigenen Land durch deutsche Stromlieferungen verdrängt werden.
Eine radikalere Maßnahme wäre es, die bisherigen Marktgebietszonen aufzulösen und einen auf den tatsächlichen Energieflüssen basierenden, transnationalen Kapazitäts-Koordinations-Mechanismus zu errichten, der Deutschland und Polen als zwei Elemente desselben Systems behandeln würde. Obgleich diese Lösung unter den Aspekten Systemstabilität, Ausbau der erneuerbaren Energien sowie unter dem sozialen Aspekt die rationalste wäre, ist sie politisch umstritten, da sie beiden Staaten einen Teilverzicht auf Souveränität über ihre Energiesysteme abverlangen würde.
Fazit
Die Analyse der Mediendebatten zeigt, dass sich die Bedenken Polens und Deutschlands bezüglich der Energiesicherheit deutlich unterscheiden. Im Allgemeinen gibt Deutschland der technologischen Innovation und der Stabilität seiner Elektrizitätssysteme und Übertragungsnetzwerke die Priorität, während Polen den Schwerpunkt auf Autarkie und Unabhängigkeit von ausländischen Einflüssen, insbesondere von russischen und deutschen, legt. Allerdings teilen die beiden Staaten, wie ausführliche Interviews mit deutschen und polnischen EnergieexpertInnen (PolitikerInnen, RegierungsvertreterInnen sowie RepräsentantInnen aus Think-Tanks und Industrie) zeigten, die Dreiecks-Definition von Energiesicherheit als bestehend aus Versorgungssicherheit (Zuverlässigkeit), Nachhaltigkeit (Umweltfreundlichkeit) und Wettbewerbsfähigkeit (Finanzierbarkeit).
Interessanterweise werden in Energiesicherheitsdebatten über AKW und Schiefergas zwei unterschiedliche Themen miteinander vermengt: die technische Sicherheit (im Sinne des englischen Wortes safety) und die Versorgungssicherheit (im Sinne von security). Sowohl im Polnischen als auch im Deutschen werden beide Konzepte durch dasselbe Wort ausgedrückt (bezpieczeństwo bzw. Sicherheit). Diese linguistische Anmerkung ist deshalb bedeutsam, weil separate Herausforderungen und die Regelungsgebiete Reaktor- und fracking-Sicherheit einerseits und nationale Energiesicherheit als gesicherte Energieversorgung andererseits leicht verschwimmen, wenn sie sprachlich in einem vereinenden Konzept zusammengefasst sind. Deshalb kann sich die Frage nach Risiken und Bedrohungen im Zusammenhang von Atomenergie und Schiefergas als problematisch erweisen.
Indessen hat unsere Studie gezeigt, dass Deutschland und Polen sowohl im Bereich Atomenergie als auch Schiefergas unterschiedliche Ansätze verfolgen. Während Deutschland die technische und ökologische Sicherheit von Atomenergie und Schiefergas in den Fokus nimmt, betrachtet Polen beide als potentielle Quellen sicherer, sprich verlässlicher Energiequellen und lenkt die Debatte in Richtung Versorgungssicherheit.
Strategische Energieinfrastruktur – die Nord Stream-Pipeline und die internationalen Verbindungsleitungen für Strom – wird in Polen in ein negativeres Licht gestellt als in Deutschland. Es ist schwierig, die beiden Typen von Infrastruktur zu vergleichen, doch verursacht jede Art grenzüberschreitender Infrastruktur auf polnischer Seite größere Sorgen und führt zu Debatten über die mögliche Instrumentalisierung von Energieinfrastruktur für politische Ziele und über eine zunehmende Abhängigkeit von anderen Staaten.
Aus diesen Ergebnissen resultieren mehrere Empfehlungen. Zunächst zeigte unsere Studie, dass auf beiden Seiten weitere Lernprozesse notwendig sind. Es besteht eine Reihe von falschen Annahmen und Missverständnissen über die Energiepolitik des jeweiligen Nachbarn. Unsere InterviewpartnerInnen räumten ein, dass sehr wenig Kooperation und Dialog in den von uns untersuchten Bereichen der Energiepolitik bestehe.
Es ist wichtig, die unterschiedlichen Perspektiven des polnischen "geopolitischen" und des deutschen "ökonomischen" Ansatzes in der Energiepolitik zu verstehen, ohne einen der beiden zu karikieren. Beide Perspektiven können Grundlage für rationale Politikgestaltung sein, wobei Entscheidungen und Strategien auf unterschiedlichen Grundannahmen und Ideen darüber basieren, wie Akteure des Energiesektors funktionieren und agieren. Um diese Unterschiede zu überwinden, ist es wichtig, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen, um eine gemeinsame Basis zu finden.
Europäische Energiepolitik und die Energieunion müssen Ansätze hervorheben, die keine Nullsummen-Lösungen sind, und die vielfältigen Vorteile kooperativer Ansätze zur Energiesicherheit und -erzeugung betonen. Die EU-Institutionen bieten das beste Forum, um Vertrauen zwischen den Regulationsorganen nationaler Energiepolitiken und EntscheidungsträgerInnen herzustellen und um auf dem Weg zu einer tieferen Integration in der Zukunft Transaktionskosten zu senken.
Übersetzung aus dem Englischen: Tabea Pottiez
Dieser Beitrag präsentiert Ergebnisse des soeben abgeschlossenen zweijährigen Projektes "Auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik? Energiesicherheitsdebatten in Polen und Deutschland", finanziert von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (No. 2014-15). Es basiert auf der Analyse zentraler polnischer und deutscher Printmedien aus dem Zeitraum 2004 bis 2014, auf Interviews mit EntscheidungsträgerInnen und ExpertInnen in Polen, Deutschland und Brüssel sowie auf der Analyse von Strategiepapieren, Expertenberichten und parlamentarischen Protokollen.
Das Projektteam bestand aus: Dr. Andreas Heinrich, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Dr. Julia Kusznir, Jacobs University Bremen, Dr. Aleksandra Lis, Adam Mickiewicz Universität, Posen (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza, Poznań), Prof. Dr. Heiko Pleines, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Prof. Dr. Karen Smith Stegen, Jacobs University Bremen und Dr. Kacper Szulecki, Environmental Studies and Policy Research Institute, Breslau (ESPRI, Wrocław).
Die deutschen Medienberichte wurden von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen ausgewählt und kodiert (Kodierer: Thomas Sattich, Koordinator: Andreas Heinrich). Die polnischen Medienberichte wurden an der Uniwersytet im. Adama Mickiewicza Poznań ausgewählt und kodiert (Kodiererinnen: Agata Stasik und Aleksandra Lis, Koordinatorin: Aleksandra Lis). Die Interviews wurden von den Projektpartnern durchgeführt, die für die jeweilige Fallstudie zuständig waren.
Über das Autorenteam
Für die einzelnen Fallstudien waren folgende Projektpartner zuständig: erneuerbare Energien: Jacobs University Bremen; Atomenergie: ESPRI, Wrocław und Jacobs University Bremen; Nord Stream-Pipeline: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen; Schiefergas: Uniwersytet im. Adama Mickiewicza, Poznań; Verbindungsleitungen: ESPRI, Wrocław.