Die aktuelle erhebliche Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und Russland übt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die polnische Volkswirtschaft aus. Polens Nachbar Russland ist immerhin die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt bzw. die fünftgrößte Volkswirtschaft in Europa. Vor allem ist Russland ein wichtiger Wirtschaftspartner Polens, was im Sinne außenwirtschaftlicher Überlegungen gemäß der Gravitätstheorie nicht überraschend ist. Gravitätsmodelle der Außenwirtschaftstheorie basieren auf der Hypothese, dass der bilaterale Wirtschaftsaustausch zwischen zwei Ländern durch geographische Nähe, absolute Marktgröße und gegebenenfalls weitere Faktoren wie historische und sprachliche Gemeinsamkeiten und/oder Integrationen geprägt ist. Diese Faktoren sprechen im Falle Polen-Russland für einen substantiellen Wirtschaftsaustausch zwischen den beiden Ländern. Daher ist es umso wichtiger, ein klares Bild über mögliche Folgen und Risiken der beiderseitigen Wirtschaftssanktionen zwischen der EU und Russland zu gewinnen. Hier ist zunächst zwischen möglichen direkten und indirekten Effekten, die aus einem nun geringeren wirtschaftlichen Austausch zwischen Polen und Russland und gegebenenfalls noch weiteren Wirtschaftssanktionen resultieren, zu trennen. Einerseits gibt es Risiken bzw. mögliche unmittelbare negative Effekte in den direkten wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Polen und Russland, etwa im bilateralen Handel. Zudem können die Importrestriktionen Russlands für polnische Agrargüter folgenschwere unmittelbare Folgen für die Preisentwicklung und deflationäre Risiken auf dem heimischen Markt in Polen haben, etwa durch ein Überangebot und damit einhergehend einen Preisverfall.
Generell lässt sich feststellen, dass Polen bei den direkten Effekten (bilateraler Warenhandel, Risiken für die Preisentwicklung), die sich aus der Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Russland ergeben, zu den exponiertesten EU-Ländern gehört. Allerdings sind einige andere mittel- oder südosteuropäische EU-Länder (Ungarn, die Slowakei oder Bulgarien, aber nicht die baltischen Staaten) im Schnitt in den direkten Wirtschaftsbeziehungen noch stärker mit Russland verflochten als Polen.
Mittelbare Folgen der sich verschlechternden Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Russland für Polen ergeben sich v. a. aus möglichen Rückwirkungen auf das Investitionsklima in Polen selbst sowie in Westeuropa bzw. aus den denkbaren Folgen für die EU insgesamt. Zudem gibt es weitere komplexe Kanäle, wie internationale finanzielle Verflechtungen mit Russland (etwa im europäischen Bankensektor oder über den EU-Offshore-Standort Zypern) oder Verflechtungen über Ausländische Direktinvestitionen (ADI), die mögliche mittelbare Folgen – auch für Polen – haben können. Was die genannten mittelbaren Effekte betrifft, gehört Polen eindeutig zu den potentiell weniger betroffenen EU-Ländern. Es gibt keine polnischen internationalen Kreditinstitute mit substantiellem Russlandgeschäft, die polnischen Direktinvestitionen in Russland können vernachlässigt werden ebenso wie polnische ADI in Russland.
Bedeutung des Russlandhandels auf der Export- und Importseite
In Bezug auf den Russland-Außenhandel gehört Polen eindeutig zu den stärker exponierten EU-Ländern. Dies gilt sowohl im Vergleich zu andern westeuropäischen EU-Ländern als auch im Vergleich zu anderen mitteleuropäischen Nachbarländern. Der Anteil Russlands an den Exporten Polens liegt bei etwa 5 % und zeigt zumindest im längerfristigen Trend (mit zeitweisen Rückschlägen) seit der Russlandkrise 1998/1999 eine ansteigende Tendenz. Zudem weist die polnische Volkswirtschaft insgesamt eine beachtliche Außenhandelsoffenheit auf. Die Waren- und Güterexporte liegen immerhin bei 40 % des BIP. Die recht hohe Außenhandelsoffenheit allgemein in Kombination mit der überproportionalen Ausrichtung auf Russland erklärt auch, warum die Exporte Polens nach Russland in Relation zum BIP auf einem aus EU-Perspektive beachtlichen Niveau liegen. Die Güterexporte Polens nach Russland betragen ca. 2 % des heimischen BIP; ein Wert der nur von den baltischen Staaten und einigen anderen kleinen und noch handelsoffeneren EU-Volkswirtschaften (v. a. Finnland, Ungarn, Slowakei und Tschechien) übertroffen wird. Im Gegensatz dazu weisen viele andere EU-Länder, auch kleinere und handelsorientierte Länder, hier deutlich geringere Werte auf. In Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden oder Österreich betragen die Exporte nach Russland jeweils nur rund 0,3–1,3 % des heimischen BIP. Die gegenwärtig negative Dynamik bei den Exporten nach Russland hat sich in Polen im ersten Halbjahr bereits deutlich gezeigt. Während der polnische Export insgesamt im ersten Halbjahr 2014 um 6,5 % gegenüber der Vorjahresperiode zulegte, sind die Exporte nach Russland im selben Zeitraum um etwa 10 % eingebrochen. Diese Entwicklung der polnischen Exporte deckt sich mit dem Trend in anderen EU-Ländern, etwa in Deutschland, wo die Exporte nach Russland, entgegen dem allgemein leicht positiven Trend bei den Exporten insgesamt, im ersten Halbjahr 2014 um 15,5 % eingebrochen sind. Die negative Dynamik im Russlandhandel allgemein hat wohl einen größeren Einfluss auf Polen und die EU als die Importrestriktionen der EU, die nur etwa 0,1 % des gesamten Außenhandels der EU bzw. 0,6 % des gesamten Außenhandels in Polen betreffen.
Der jüngste Rückgang bei den polnischen Exporten nach Russland steht im Gegensatz zu den Trendentwicklungen der letzten Jahre, in denen die polnische Wirtschaft auf längere Sicht auf Russland als attraktiven Exportmarkt gesetzt hat. Von 2005 bis 2010 haben die polnischen Exporte nach Russland um 150 % Prozent zugelegt. Im gleichen Zeitraum sind die Exporte Polens insgesamt "nur" um etwa 65 % gestiegen, das Exportvolumen nach Deutschland immerhin um 80 %. Bis zu einem gewissen Grad war es für die polnische Wirtschaft in den letzten Jahren sinnvoll, auf Russland als prominente Exportdestination zu setzen. Historisch gesehen, repräsentierte Russland bzw. die Sowjetunion etwa 25–30 % der polnischen Exporte, Deutschland (Bundesrepublik und DDR) dagegen nur etwa 15 %. Beide Nachbarländer, Russland und Deutschland zusammen, stehen damit historisch für etwa 40–45 % der polnischen Exporte. Heute steht Deutschland "nur" für 25 % der Exporte Polens, wobei hier der Trend seit Jahren eher rückläufig ist. Seit 2009 ist der Anteil Russlands an den polnischen Ausfuhren um 1,6 Prozentpunkte angestiegen (von 3,7 % auf 5,3 %), während der Anteil Deutschlands um etwa drei Prozentpunkte abgenommen hat (von 28 % auf 25 %). Zusammengenommen stehen Russland und Deutschland damit derzeit aber "nur" für ca. 30 % des polnischen Außenhandels, was auf ein fundamental begründbares und mittelfristiges Wachstumspotential in dieser Relation hindeutet und hier eben v. a. für den Anteil Russlands als Exportdestination. Zumal gerade auf der Exportseite die Warenströme Polens nach Russland nur bei etwa 20 % der Ausfuhren nach Deutschland liegen, während das russische BIP absolut gesehen immerhin 55 % der Wirtschaftsleistung Deutschlands beträgt. Allerdings ist im Sinne nun möglicher Verluste an Exportchancen nach Russland auch zu berücksichtigen, dass von 2010 bis 2013 die polnischen Exporte nach Russland insgesamt nur noch um 5–6 % zugelegt haben. Diese Entwicklung ist auf eine schon länger beobachtbare Wachstumsschwäche, Investitionszurückhaltung und auf eine auf Importsubstitution ausgerichtete Politik in Russland – auch schon vor der Ukraine-Krise – zurückzuführen. Die moderaten Anstiege bei den polnischen Ausfuhren nach Russland in den letzten Jahren zeigen aber auch, dass es gerade in den letzten drei Jahren weder sehr expansive noch überoptimistische Markteroberungsstrategien polnischer Firmen auf dem russischen Markt gab, was zumindest kurzfristig hilft, Abwärtsrisiken zu begrenzen. Dennoch sind die Abwärtsrisiken nicht zu unterschätzen, da Russland und die Ukraine – dorthin unterhält Polen auch überproportional ausgeprägte Wirtschaftsbeziehungen – immerhin 30–40 % des polnischen Außenhandels mit Ländern außerhalb der Eurozone darstellen.
Interessanterweise ist Polen bei den Importen aus Russland etwas weniger prominent exponiert als viele andere EU-Länder bzw. ist Polen hier relativ gesehen auch weniger prominent exponiert als bei den Exporten. Der polnische Güterimport aus Russland liegt nur bei etwa 4 % des BIP, während hier deutlich mehr EU-Länder als auf der Exportseite höhere Abhängigkeiten als Polen aufweisen. Die etwas geringere Abhängigkeit Polens bei den Importen reflektiert v. a. das langfristige Bestreben Polens, im Energiebereich unabhängiger von Gaslieferungen aus Russland zu werden. In Polen tragen die Energieimporte aus Russland nur 27 % zum inländischen Energiekonsum bei; in vielen anderen EU-Ländern werden hier Werte um die 40 % oder mehr erreicht.
Agrarausfuhren nach Russland und mögliche Deflationsrisiken
Die zuvor skizzierte Bedeutung Russlands für den polnischen Außenhandel und hier v. a. die Exporte legt nahe, dass die bereits erfolgte merkliche Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den EU-Ländern und Russland fühlbare Auswirkungen auf die polnische Wirtschaft haben wird. Allerdings kommt der polnischen Wirtschaft zugute, dass sie insgesamt dennoch etwas weniger vom Außenhandel abhängig ist, als einige andere sehr handelsoffene westeuropäische EU-Länder oder auch einige kleinere mitteleuropäische Volkswirtschaften in der Nachbarschaft Polens. Jedoch hat der Agrarsektor in Polen eine überproportionale volkswirtschaftliche Bedeutung im Vergleich zu den meisten anderen EU-Ländern sowie den ostmitteleuropäischen Nachbarländern mit ähnlichem Entwicklungsstand. Der Anteil des Agrarsektors an der Bruttowertschöpfung in Polen ist im EU-Vergleich sehr hoch: Polen ist hier unter den 28 EU-Ländern das Land mit dem sechsthöchsten Beitrag des Agrarsektors an der Bruttowertschöpfung. Hervorzuheben ist in diesem Kontext auch, dass der Beitrag des Landwirtschaftssektors zur Bruttowertschöpfung in Polen in der letzten Dekade weniger deutlich gefallen ist, als in anderen EU-Ländern mit einem hohen Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung. Dies lässt sich mit einer relativ hohen Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Landwirtschaft (mit Exportquoten von 50–70 % Prozent in wichtigen Produktkategorien) und Exporterfolgen erklären (etwa 50–60 % der Apfelernte gehen nach Russland), die nun aber einen Bumerang-Effekt haben. Die prominente Exponiertheit im Agrarsektor kompensiert im Lichte der aktuellen russischen Einfuhrrestriktionen für EU-Agrargüter die im Allgemeinen moderate Exportabhängigkeit der polnischen Volkswirtschaft im Mittelfeld der EU-Länder – denn in Bezug auf die Agrarexporte nach Russland ist Polen besonders exponiert. Polen ist der siebtwichtigste Agrargüterlieferant für Russland, mit einem Anteil an den Agrareinfuhren von etwa 4 %. Bei den Einfuhren nach Russland insgesamt befindet sich Polen im Gegensatz dazu nicht unter den zehn wichtigsten Lieferländern. Damit ist die Exponiertheit Polens im Agrarsektor etwa doppelt so hoch wie bei den Exporten nach Russland allgemein. Unter den EU-Ländern weisen nur noch die Niederlande eine ähnlich starke Exponiertheit im Agrarsektor auf, wobei in Bezug auf das heimische BIP die Exponiertheit Polens im Agrarsektor unter den wichtigen EU-Agrarexporteuren nach Russland mit Abstand die Größte ist.
Im Vergleich zu einigen anderen EU-Ländern könnte Polen zugutekommen, dass die polnischen Agrarexporteure durchaus gewohnt sind, kreativ mit Importrestriktionen von russischer Seite umzugehen. In der Vergangenheit haben polnische Firmen oft legale Wege gefunden, ihre Produkte weiterhin indirekt nach Russland zu exportieren. Da Russland diesmal aber Einfuhren aller EU-Länder blockiert, werden umgelenkte Transaktionen nach Russland – über andere EU-Länder, etwa auch Deutschland,– nun unmöglich. Es bleibt nur noch der Exportumweg über Belarus, den wichtigsten Agrargüterimporteur Russlands, doch werden sich substantielle Warenflüsse kaum über das kremltreue Belarus nach Russland schicken lassen, ohne dass es zu Gegenreaktionen kommen wird. Dies legt im Umkehrschluss nahe, dass die aktuellen Importrestriktionen dieses Mal stärker auf den polnischen (Agrar-)Exporteuren lasten werden. Im Kontext möglicher Folgeeffekte der Restriktionen für Agrareinfuhren aus der EU nach Russland ist angesichts der aktuellen Entwicklungen zu betonen, dass dieser Nachfrageausfall zu einem Überangebot auf den heimischen Märkten führen wird. Dieser Effekt begünstigt fallende Preisen für Agrarprodukte bzw. Lebensmittel auf dem Heimatmarkt. Solche Folgen sind in der aktuellen Situation, in der eher Deflations- als Inflationssorgen in der Eurozone und in Polen relevant sind, nicht gering zu schätzen – jüngst hat die Konsumentenpreisinflation in Polen sogar das Nullniveau erreicht, wobei ein temporärer Preisrückgang noch nicht gleich Deflation bedeutet, zumal der potentielle Angebotsüberhang und mögliche Preisrückgang bei Agrargütern in Polen und der EU durch eine dieses Jahr im Trend gute Ernte für viele Agrargüter nochmals verstärkt werden könnte. Polen ist besonders exponiert, was gestiegene Deflationsrisiken betrifft, die aus fallenden Lebensmittelpreisen resultieren. Der Anteil von Lebensmitteln im für die Inflation bzw. Inflationsmessung relevanten repräsentativen Konsumenteneinkaufskorb bzw. Konsumentenpreisindex liegt in Polen auf einem im EU-Vergleich sehr hohen Niveau. Lebensmittel repräsentieren fast 18 % im für den durchschnittlichen polnischen Haushalt repräsentativen Konsumentenpreisindex, d. h. 18 % der Inflation werden von den Lebensmittelpreisen bestimmt, während die entsprechenden Vergleichswerte in vielen westeuropäischen Ländern eher bei 10 % liegen.
Die zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit in Bezug auf den heimischen Markt und den Außenhandel sowie akute Deflationssorgen haben bereits ihre Spuren in Stimmungsumfragen in der polnischen Industrie hinterlassen. Hier deutet die wichtige Einkaufsmanagerbefragung schon seit längerem (sogar bereits vor der mit ihr korrespondierenden Befragung in der Eurozone) auf zunehmende Vorsicht bei den Wirtschaftsakteuren. Allerdings sind in solchen Umfragen die unmittelbaren Effekte der Ukraine-Krise bzw. der beiderseitigen Wirtschaftssanktionen der EU und Russlands schwer von anderen Effekten, die etwa aus anderen negativen geopolitischen Entwicklungen der letzten Monate resultieren oder der allgemeinen Wachstumsschwäche der EU geschuldet sind, zu separieren. Mittlerweile ist die Eintrübung bei den Stimmungsindikatoren auch schon auf die Industrieproduktion durchgeschlagen, die auf Jahressicht unlängst sogar geschrumpft ist.
Geringere indirekte wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland als andere EU-Länder
In anderen Dimensionen der Verflechtungen, etwa im Bereich der Direktinvestitionen oder des Engagements heimischer Banken in Russland, tritt Polen deutlich weniger hervor als westeuropäische EU-Länder. Hier sind beispielsweise Frankreich, Italien, Deutschland, die Niederlande, Schweden, Finnland oder auch Österreich deutlich stärker exponiert. Bei ihnen machen die grenzüberschreitenden Forderungen internationaler (Groß-)Banken im Schnitt 2–3 % des jeweiligen heimischen BIP aus. Zudem weisen diese Länder in der Regel auch beachtliche Engagements an Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in Russland auf, etwa in Form von Produktionsstandorten. In der Summe betragen diese wirtschaftlichen Verflechtungen in einigen westeuropäischen EU-Ländern 3–6 % des BIP. Auch im Bankenbereich ist die Verflechtung Polens mit Russland gering. Allerdings sind einige in Polen tätige westeuropäische Großbanken stark im Russlandgeschäft engagiert. Insofern hat Polen auch ein gewisses mittelbares Interesse daran, dass diese Banken nicht zu viel Gegenwind in ihren Russlandaktivitäten zu spüren bekommen; zu ihnen gehören Kreditinstitute aus Deutschland, Italien, Frankreich und Österreich, die sich überproportional in Russland engagieren. Im Zusammenspiel mit der nicht zu vernachlässigenden Exponiertheit einiger dieser Länder im Warenhandel mit Russland ergibt sich, dass Polen nicht zu den am stärksten von der Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen EU-Russland betroffenen EU-Ländern gehört, sondern eher im Mittelfeld der relevanten Vergleichsländer liegt. Insgesamt beträgt die direkte und indirekte (Brutto-)Exponiertheit Polens im Wirtschaftsbereich gegenüber Russland aktuell etwa 6,5 % des BIP. In einigen anderen EU-Ländern werden hier Werte von 10 % oder mehr erreicht. Einige kleinere EU-Länder wie Österreich oder die Niederlande sind durch eine ähnliche Exponiertheit in Relation zum BIP gekennzeichnet, und selbst einige große EU-Länder wie Deutschland erreichen hier immer noch Werte von 3–4 % des BIP. Als Kenngröße wird hier die Brutto-Exponiertheit gegenüber Russland betrachtet (und keine Nettogröße), da die Gesamtheit der Verflechtungen den möglichen politischen Druck bzw. Lobbyingdruck in einem Land adäquater ausdrückt als eine fiktive Nettogröße, die gegebenenfalls für exakte Wirtschaftsprognosen relevanter ist.
Eine besonders hohe Exponiertheit gegenüber Russland weisen einige westeuropäische EU-Länder v. a. über substantielle ADI oder Bankenforderungen auf, die im Eskalationsfall eine andere Qualität haben können als "reine" Handelsverflechtungen. Hier bestehen Totalverlust- bzw. Enteignungsrisiken bei erheblichen Investitionen und Vermögenswertpositionen, denn im Gegensatz zu möglicherweise nicht erfolgten Außenhandelstransaktionen liegen bei ADI- oder Bankenengagements oft substantielle Vermögenswerte in Russland selbst, die über Jahre akkumuliert wurden. Daher sollte Polen, trotz seiner tendentiell harten Haltung in der politischen Debatte über Wirtschaftssanktionen der EU, hinreichend Rücksicht auf andere wirtschaftlich sehr exponierte EU-Länder nehmen, zumal Polen auch über weitere Zweit- und Drittrundeneffekte von einer Eskalation betroffen sein könnte, die komplexe und indirekte wirtschaftliche Verflechtungen westeuropäischer Länder mit Russland betrifft. Ferner sollte auch im Falle Polens nicht unterschätzt werden, dass nicht zu vernachlässigende finanzielle Verflechtungen mit dem Finanz- und Offshore-Standort Zypern bestehen, über den viele russische Investitionen und Offshoring-Transaktionen getätigt werden. Immerhin steht Zypern für etwa 3 % der ADI in Polen (während ADI aus Russland in Polen selber nur 0,1 % des ADI-Bestandes in Polen ausmachen). Aber auch hier gilt, dass die relative Stärke der polnischen Binnenwirtschaft im Zusammenspiel mit der tief verwurzelten russlandkritischen Haltung die harte Position Polens in der Sanktionsdebatte innerhalb der EU begünstigt.
Offensichtlich hat Polen auch eine höhere Zahlungsbereitschaft, im Sinne von möglichen wirtschaftlichen Rückschlägen durch Wirtschaftssanktionen. Allerdings sollte diese Zahlungsbereitschaft dann auch realisiert werden, was nicht zu den Meldungen passt, dass polnische Agrarerzeuger EU-Kompensationszahlungen in extrem überproportionalen Umfang angefordert haben. Außerdem verfügt Polen im EU- bzw. Eurozonenkontext noch über einige Puffer auf nationaler Ebene, um gesamtwirtschaftliche Rückschläge abzufedern. Die Polnische Nationalbank (Narodowy Bank Polski) hat ausreichenden zinspolitischen Spielraum für signifikante weitere Leitzinssenkungen, den sie angesichts der aktuellen Schwächeerscheinungen auch nutzen wird. Zudem verfügt der polnische Staat, im Gegensatz zu vielen westeuropäischen Ländern, aufgrund einer soliden Defizitposition und eines niedrigen Staatsschuldenstands über hinreichende fiskalische Puffer. Die Regierung Polens könnte angesichts des sich eintrübenden Wirtschaftsumfelds die gegenwärtig und in den kommenden Jahren angestrebte Budgetkonsolidierung moderat abschwächen, ohne gegen EU-Regeln im Bereich der Wirtschafts- und Fiskalpolitik zu verstoßen und die gesamtwirtschaftliche Stabilität sowie das Vertrauen am Finanzmarkt in Mitleidenschaft zu ziehen. In Anbetracht der thematisierten Spielräume in der Geld- und Fiskalpolitik weist Polen einen deutlich höheren Grad an gesamtwirtschaftlicher und antizyklischer Flexibilität auf als viele andere EU-Volkswirtschaften. Viele andere EU-Länder werden ihre Unterstützungsmaßnahmen zur Kompensation von Verlusten im Russlandhandel eher nur auf die Förderung von Absatzmarktumlenkungen und gegebenenfalls die Aufstockung von EU-Geldern fokussieren müssen.
Gesamtwirtschaftliche Effekte durch den russisch-ukrainischen Konflikt und die Eurozonenschwäche
Die Effekte des Rückgangs im polnisch-russischen Wirtschaftsaustausch könnten Polen in den Jahren 2014 und 2015 etwa 0,2–0,4 Prozentpunkte seines potentiellen BIP-Wachstums in einem besseren externen Umfeld kosten (für die Eurozone insgesamt werden die Effekte bei etwa 0,2 Prozentpunkten angesetzt). Dabei könnten die möglichen Abschläge auf das Wirtschaftswachstum im Jahr 2015 am oberen Ende der genannten Spanne liegen, 2014 werden sie sich wahrscheinlich noch am unteren Ende befinden. Von polnischer Seite sind zuletzt teils höhere Werte kommuniziert worden, so etwa ein Ausfall von 0,6 Prozentpunkten beim BIP-Wachstum. Solche Werte sind einerseits im politischen Kontext zu sehen und andererseits sind sie oft auch das Resultat zu optimistischer Wachstumsprognosen. Das polnische Finanzministerium prognostizierte zeitweise für 2014 ein BIP-Wachstum von 3,6 %; derzeit liegt die Prognose des Finanzministeriums immer noch bei 3,3 %, was deutlich zu hoch zu sein scheint – eher möglich scheint nur noch ein Wirtschaftswachstum von 2,8–3,1 %. Dennoch könnte Polen in besonderer Weise unter einer weiteren Verschärfung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Russland leiden, denn oft wendet Russland Sanktionsmaßnahmen an, die bestimmte EU-Länder, darunter Polen, in besonderer Weise betreffen. Weitere Restriktionen und Sanktionen könnten eben zunächst gegenüber Polen angewendet werden. An dieser Stelle ist weiter zu betonen, dass die insgesamt moderaten volkswirtschaftlichen Kosten nicht bedeuten, dass nicht einzelne polnische Unternehmen und hier gerade auch mittelständische Unternehmen in besonderer Weise betroffen sein könnten, beispielsweise diejenigen mit Fokus auf Russland oder solche, die Großaufträge verlieren. Zudem kann es hier auch indirekte Übertragungseffekte durch die engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Deutschland geben. Wenn einzelne deutsche (Groß-)Unternehmen besonders stark unter der Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland leiden, etwa durch den Ausfall von Großaufträgen, kann das über sogenannte Zweitrundeneffekte auch auf Zulieferer in Polen zutreffen.
Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist allerdings zu betonen, dass sowohl für Polen als auch für Deutschland das im Vergleich zu den Rücksetzern im wirtschaftlichen Austausch mit Russland größere Problem die eklatante Wachstumsschwäche in einigen großen westeuropäischen EU-Ländern bzw. der Eurozone darstellt. Sowohl in Deutschland als auch in Polen ist der Anteil der Eurozone an den Exporten in den letzten Jahren dramatisch gefallen und diese Verluste können nur partiell auf anderen Märkten kompensiert werden. Der Exportanteil der Eurozone an den polnischen Ausfuhren hat sich von knapp 60 % auf dem Höhepunkt 2006/2007 auf etwa 50 % in den letzten Jahren reduziert. In Deutschland ist der Exportanteil der Eurozone im gleichen Zeitraum ebenso um zirka 10 Prozentpunkte gefallen, wobei die langfristigen Verluste in Deutschland noch dramatischer sind (von einem Hoch von 51 % Mitte der 1990er Jahre auf 35 % aktuell). Insofern ist es richtig, dass sich prominente polnische Politiker derzeit auf EU-Ebene nicht nur für Kompensationen bei Exportausfällen im Agrarsektor stark machen, sondern sich in den letzten Wochen auch aktiv in die allgemeine Debatte über die gesamteuropäische Wachstumsschwäche einmischten. Letztere lässt sich nicht nur mit der Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland erklären. Exemplarisch ist hier der Vorstoß des polnischen Finanzministers in Richtung eines substantiellen Europäischen Investitionsfonds (EIF), der die aktuell günstigen globalen Finanzierungskonditionen für substantielle Investitionen in den EU-Staaten nutzen könnte.