Als die Ergebnisse der Parlamentswahlen im Jahr 2011 veröffentlicht wurden, zeigte sich eine ganz neue Qualität. Für die Palikot-Bewegung waren in der siebten Legislaturperiode Robert Biedroń, ein offen schwul lebender (out of the closet) und langjähriger Aktivist der Schwulenbewegung, und Anna Grodzka, Transfrau und Transgender-Aktivistin, in den polnischen Sejm eingezogen. An diesem für die nationale Vertretung so symbolischen Ort gibt es nun zwei so offensichtliche "Sonderlinge". Betrachtet man diese Tatsache als eine Art Zielpunkt, stehen dahinter mindestens drei Jahrzehnte des homosexuellen/schwulen Aktivismus. Seine Rekonstruktion ist keine leichte Sache, weil sich die polnische Zeitgeschichtsforschung fast überhaupt nicht mit Geschichte im homosexuellen Kontext befasst. Das ist ein weißer Fleck. Dabei wäre Polen ein überaus dankbarer Gegenstand für derartige Überlegungen. Schließlich bekam es 1932 ein recht liberales Strafgesetzbuch, das die sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen entkriminalisierte. Doch, so die Strafrechtlerin Professor Monika Płatek, blieb trotz eines (im Vergleich zu anderen europäischen Ländern) überaus liberalen Gesetzes eine Art Bestrafung homosexueller Prostitution, und der Prostitution war bereits eine Einladung ins Café oder ins Theater verdächtig. Dieser Passus wurde jedoch aus dem Strafgesetzbuch von 1969, das 1970 in Kraft trat, gestrichen. Somit kam es, zumindest theoretisch, in der Volksrepublik Polen zu einer gänzlichen Entkriminalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen. Im Vergleich mit der europäischen oder amerikanischen war die polnische Gesetzgebung also ausgesprochen modern. Dennoch war das Leben nichtheterosexueller Menschen nicht rosig, denn Homosexualität wurde im Alltagsleben vollkommen pathologisiert und tabuisiert. Dieser Stand der Dinge verband zweifelsohne das Regime der Volksrepublik Polen mit den Amtsträgern der katholischen Kirche. Die emanzipatorischen Aktivitäten konzentrierten sich also nicht auf Fragen, die mit dem Sex zusammenhingen (denn der war in Polen legal), sondern auf eine Fülle von Problemen, die sich – in Hegelscher Tradition – als die "Anerkennung" eines andersartigen, aber würdigen Lebens bezeichnen lassen. Die drei Emanzipationswellen entsprechen in etwa drei aufeinanderfolgenden Jahrzehnten, die in grafischer Verkürzung folgendermaßen dargestellt werden könnten:
1981–1990 – die frühe Emanzipationsphase, "die anderen"
1990–2003 – die schwul-lesbische Emanzipation
2003 bis heute – die Sichtbarkeit im öffentlichen Diskurs, die Politisierung der Homophobie.
Die 1980er Jahre – kein Wunsch sich zu outen
In den 1980er Jahren tritt in der Volksrepublik Polen eine Art soziokulturelle Liberalisierung ein und es werden Themen wieder aufgegriffen, die bis dato verdrängt worden waren (darunter beispielsweise die Frage der polnisch-jüdischen Beziehungen). Zu Beginn des Jahrzehnts erscheinen zwei Werke, die offen andere (wenn auch ähnliche) Versionen männlicher homosexueller Identität thematisieren. Das ist zum einen Julian Stryjkowskis Erzählung Tommaso del Cavaliere (1981), zum anderen der Roman Rudolf (1980) von Marian Pankowski, der im Exil in Brüssel geblieben war. Das erste Werk erzählt von dem genialen Künstler Michelangelo aus der Sicht eines von ihm ignorierten Schülers; das zweite Werk beschreibt die Begegnung eines vorbildhaften Professors mit einem deutschen Homosexuellen (in der polnischen Literatur waren die Homosexuellen oft Nicht-Polen), der es genießt, am Rande der Gesellschaft zu bleiben (womit er den Professor natürlich schockiert). Beide Werke kann man je für sich als Existenzmuster für homosexuelle Männer lesen, als im Grunde einzige Möglichkeiten, denn die Palette vorhandener Rollen war überaus dürftig. Kurz gesagt bot sie den Künstler und den Perversen. Kompensation in der Kunst oder ein Leben voller Heuchelei am Rande der Gesellschaft. Tertium non datur. Die Literatur Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre (beispielsweise in W ptaszarni (Im Vogelhaus) von Grzegorz Musiał, Ból istnienia (Existenzschmerz) von Marcin Krzeszowiec und Grecki bożek (Der griechische Götze) von Marek Nowakowski) zeigt, wie unzureichend diese Palette der Möglichkeiten war. Von besonderer Bedeutung ist hier der Roman von Krzeszowiec. Sein Hauptprotagonist ist weder Künstler noch Perverser. Krzeszowiec stellt ein neues Existenz- und Identitätsmuster vor, das unter echten Schmerzen entsteht: den Schwulen. Und damit läutet er das neue Jahrzehnt ein (sein Roman entstand Ende der 1980er Jahre und erschien 1992). Soviel zur Identitätsfrage in der Literatur. Die 1980er Jahre weisen zahlreiche Spuren des stärker werdenden Interesses an dieser Thematik auf. Agata Fiedotow hat in ihrem Artikel Początki ruchu gejowskiego w Polsce (1981–1990) diese Frage aus historischer Perspektive untersucht. Vor allem habe sich im öffentlichen Diskurs etwas verändert. Das Thema Homosexualität sei im Zeitraum 1981–1989 etwa 100 Mal aufgetaucht; das ist nicht viel im Vergleich damit, wie oft es allein im Jahr 1990 angesprochen wurde, aber es ist sehr viel im Vergleich damit, wie oft es vor den 1980er Jahren erwähnt wurde. Hier muss vor allem Barbara Pietkiewiczs Reportage Gorzki fiolet (Bitteres Violett) aus dem Jahr 1981 genannt werden, die in der Polityka veröffentlicht wurde, also in einem Mainstream-Wochenmagazin.
Erwähnenswert ist auch der Artikel von Krzysztof Darski (unter diesem Pseudonym trat Dariusz Prorok auf) mit dem charakteristischen Titel Jesteśmy inni (Wir sind anders), ebenfalls in der Polityka abgedruckt (1985), der eigentlich das erste polnische schwule Emanzipationsmanifest war. Hier ein Zitat: "Verlacht und an den Rand der Gesellschaft gedrängt, diskriminiert von ausnahmslos allen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen, verfolgt von Schwulenfeinden, geschlagen und beleidigt von Flegeln, während die Autoritäten dieser Welt schweigend zustimmen, vereinsamt und vom Staat, der Kirche, der Wissenschaft aufgegeben. […] Haben Homosexuelle irgendwelche Rechte in unserem Land? Ist irgendjemand daran interessiert, sie bei ihren so offensichtlichen persönlichen Problemen zu unterstützen? Liegt irgendjemandem daran, dass eine Beziehung zwischen zwei Männern aufrechterhalten wird?" Eines der rätselhaftesten Ereignisse bezüglich homosexueller Männer in der Volksrepublik Polen war die polenweite Aktion unter dem Decknamen "Hyacinthus", die auf das Schwulenmilieu abzielte und Ende 1985 von der Bürgermiliz und dem Sicherheitsdienst durchgeführt (und später mehrmals wiederholt) wurde. Noch immer ist über diese Aktion nur wenig bekannt. Obwohl in Polen die Zeit der Volksrepublik recht intensiv untersucht wird und es selbst über das Auto der Marke "Syrenka" eine eigene Monografie gibt, existiert über die Verfolgung von Homosexuellen noch immer keine gesonderte kompetente historische Arbeit. Im Übrigen ist bekannt, dass fast die gesamte Volksrepublik-Zeit hindurch homosexuelle Männer vom Sicherheitsdienst überwacht (unter anderem Jarosław Iwaszkiewicz, Jerzy Andrzejewski und Michel Foucault) und Verzeichnisse für Homosexuelle angelegt wurden. Die Aktion "Hyacinthus" war womöglich eine Intensivierung dieser Vorgehensweisen, sie mag eine sehr eigen verstandene Prävention vor HIV/AIDS zum Ziel gehabt haben, vielleicht war sie aber auch der Versuch, die ersten Schwuleninitiativen einzudämmen. Wer aber waren die sexuell Andersartigen des achten Jahrzehnts? Wie haben sie sich gesehen, wie haben sie sich definiert?
Agata Fiedotows Arbeit liefert hierzu interessantes Material, wie beispielsweise die Information, dass Aktivisten, die im Verband International Gay Association (IGA) organisiert waren, eine spezielle Abteilung für Kontakte mit den Ländern des kommunistischen Blocks gegründet hatten, den East Europe Information Pool (EEIP), der Informationen über die rechtliche und soziale Situation homosexueller Menschen sammeln und zu ihnen Kontakt aufnehmen sollte. Der EEIP wurde innerhalb der mit der IGA zusammengeschlossenen österreichischen Organisation Homosexuelle Initiative Wien (HOSI) gegründet, Koordinator wurde der in Wien lebende Pole Andrzej Selerowicz. Vielleicht waren deshalb die Kontakte zu Polen am intensivsten. Fiedotow hat etwa 280 Briefe analysiert, die in den 1980er Jahren bei den Vertretern des EEIP und bei den Jugendzeitschriften Razem und Na przełaj eingegangen waren. Aus diesen Briefen geht eine recht traurige kollektive Autobiografie der Homosexuellen hervor. Die Historikerin listet charakteristische Topoi auf: Feindseligkeit und Intoleranz der Umgebung (aber auch die Klage über schwierige Lebensbedingungen – in den Briefen, die an die westlichen Organisationen geschrieben wurden), unaufhörliche Befürchtungen, Unruhe, Ängste (wiederholter Verfolgungswahn), das Gefühl von Vereinsamung, Zusammenbruch (Alkoholismus, Depression, Selbstmord), aber manchmal auch – wesentlich seltener – die Akzeptanz der eigenen Sexualität ("mir geht es damit gut"). Darüber hinaus beschreibt Fiedotow die Strategie des Versteckens – vom Doppelleben in heterosexuellen Ehen (laut Darski war die Mehrheit der Homosexuellen in Polen verheiratet) bis hin zur selbst gewählten Einsamkeit. Besonders interessant war das EEIP-Projekt der gesellschaftlichen Entmarginalisierung – ein Versuch, die Schwulenidentität und die sie begleitende Emanzipationsbewegung in die Wirklichkeit, die am Ende der Volksrepublik herrschte, zu integrieren. Dieser Versuch endete in einem vollkommenen Fiasko, weil er an den Realitäten des Lebens in Polen vorbeiging. Die westlichen Aktivisten wunderten sich über den Widerstand gegen gesellschaftliche Initiativen von unten, nicht nur seitens des Regimes, sondern auch von den Betroffenen selbst, die sich nicht darum rissen, ihre eigenen Aktivitäten zu formalisieren (denn das hätte bedeutet, sich zu outen). Sehr lange wurde in schwulen Gruppen überwiegend der private Charakter gepflegt; hier sprach man über "unsere Themen". Wer Kontaktadressen zum Korrespondieren sammelte, weckte Misstrauen. Der Redakteur des Bulletins EEIP war für die Leser eher eine Art Freund und Berater als ein potenzieller Leader der Schwulenbewegung. Mit Sicherheit ist es nicht gelungen, eine schwule Identität (Öffentlichkeit, Stolz, Beziehungen) und ein gesellschaftliches Bewusstsein als Gegenstück zur "Klappen-Homosexualität" aufzubauen, sprich einer auf Zufalls-Sex begründeten Homosexualität.
Die 1990er Jahre – unter sich: Initiativen, Medien, Selbstbeschreibung
Was jedoch Ende der 1980er Jahre nicht gelungen war, wurde Schritt für Schritt im folgenden Jahrzehnt verwirklicht. Die 1990er Jahre waren nämlich die Zeit, in der Schwulenprojekte ins Leben gerufen wurden und die Schwulenidentität stabilisiert wurde. Beginnen wir am Anfang. Erstens wurde das Vereinsgesetz geändert, wonach die Legalisierung nun den Bezirksgerichten unterlag und nicht wie bisher den Verwaltungsbehörden. Auf diese Weise wurde 1990 der Verein "Lambda" eingetragen. In manchen größeren Städten bildete sich eine halböffentliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs heraus. Den meisten Einfluss hatten sicherlich die Zeitschriften, die an Homosexuelle gerichtet waren. Manche waren recht kurzlebig, andere existierten lange, so zum Beispiel das in Posen erscheinende Magazin Inaczej (zwölf Jahre). Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug geschätzt werden. Das waren keine pornografischen Zeitschriften, sie durften von dem Pressevertriebsunternehmen Ruch vertrieben werden und waren somit im Grunde in ganz Polen erhältlich. Zwar wurden sie ganz bestimmt nicht auf Dörfern und in Kleinstädten verkauft, aber man kann sagen, dass sie recht gut erhältlich waren. Auf diese Weise spielten sie sicherlich die Rolle eines Lehrbuchs für schwule Identität. Apropos "schwule" Identität: Betrachten wir einmal die Begriffe, die die Betroffenen für sich selbst benutzten, wenn sie ihre Identität beschrieben. In den 1980er Jahren wurde häufig das Wort "inny" (anderer) gebraucht. In manchen Briefen an die Vertreter von EEIP kommt das Wort "Homosexueller" überhaupt nicht vor, und als positive Selbstbezeichnung wurde eben das euphemistische Wort "anderer" benutzt ("Ich bin anders"). Schließlich trug das bereits erwähnte Manifest von Prorok den Titel "Wir sind anders"; das 1990 gegründete Posener Magazin hieß Inaczej (Anders). Die Andersartigkeit scheint also der Schlüssel zur damaligen Identität zu sein, und gleichzeitig ist sie eine positive Selbstdefinition, wobei es an anderen nicht demütigenden Bezeichnungen mangelt. Ende der 1980er Jahre tauchte in Polen das Wort "gay" auf.
Die ersten Ausgaben der Zeitschriften zeigten eine regelrechte sprachliche Aneignung dieses Wortes. Sie benutzten zum Beispiel das Adjektiv "gayowski", das mit der Zeit dann zu "gejowski" wurde. Das war jedoch nicht nur ein Wort, sondern es stand ein ganzes Identitätsprojekt hinter dieser Bezeichnung, das sich durch die gesamten 1990er Jahre hindurch und auch im darauffolgenden Jahrzehnt entwickelte. Auch dieses Identitätsprojekt wartet noch immer auf eine historisch-soziologische Beschreibung und Analyse, obwohl das notwendige Material umfangreich ist: die Zeitschriften, die Diskussionen, die geführt wurden, sowie zahlreiche Briefe an die Redaktionen. Eine solche Analyse wäre mit Sicherheit ein interessanter Beitrag zur Charakteristik Polens in der Zeit der politischen Transformation. Auf ein paar Dinge soll hier noch hingewiesen werden. Erstens erwies sich die amerikanische Emanzipationstradition als bedeutsam, insbesondere der "Stonewall-Mythos", ein Ereignis, das den Wendepunkt bringen sollte. Viele Male wurden diese Ereignisse angeführt und es wurde gemutmaßt, ob in Polen (nicht) etwas Ähnliches passieren könnte. Ein weiteres Thema ist eine Art Separatismus zwischen Schwulen und Lesben. Sie bilden eher getrennte Gruppen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen. Ausdruck dieses Separatismus war die Zeitschrift Inaczej – ein Schwulenmagazin mit ein paar Seiten für Lesben. Dabei kam es in den 1990er Jahren in Polen zu einer immer deutlicheren Stabilisierung der lesbischen Identität. Die Tatsache, dass sich damals diese noch immer vorpolitische lesbische Identität herauskristallisierte, wurde von Joanna Mizielińska registriert.
Doch die "homosexuelle Frage" konnte in den 1990er Jahren nicht als wesentliche gesellschaftliche Frage in den öffentlichen Diskurs durchdringen. Den Journalisten wäre es nicht in den Sinn gekommen, Politiker nach ihrem Verhältnis zur Legalisierung von Lebenspartnerschaften und Ehen zu befragen. Diese Frage wurde eher als gesellschaftlich marginal und unpolitisch wahrgenommen. Das änderte sich jedoch nach dem Jahr 2003. Schauen wir uns einmal die Literatur der 1990er Jahre an. Zu Beginn des Jahrzehnts entstand in Polen eine quasi-emanzipatorische Prosa, die von den Kritikern überhaupt nicht wahrgenommen wurde. Literarisch war sie durchschnittlich (was jedoch besagte Kritiker in keiner Weise entschuldigt). Erinnern wir uns an das umfangreiche Buch Ból istnienia von Marcin Krzeszowiec (1992), an Nieznany świat (Die unbekannte Welt) von Antoni Romanowicz (1992), an Zakazana miłość (Verbotene Liebe) von Tadeusz Gorgol (1990) und Gorące uczynki (Frische Tat) von Witold Jabłoński (1989). Diese Bücher sind meistenteils bedrückend, weil sie die pathologisierte Homosexualität in der Volksrepublik Polen verbildlichen (sie entstanden zu dieser Zeit, doch erst in der Dritten Republik wurde es möglich, dass diese Bücher tatsächlich erschienen, auch wenn sie nicht wahrgenommen wurden). Ihre Protagonisten sagen Folgendes: Ja, wir sind homosexuell, schaut einmal, wie schwer wir es haben (weil sie es wirklich schwer hatten), versteht uns also (dazu ist es wohl nicht gekommen). In diesem Zusammenhang kristallisierte sich ein neuer Identitätstyp heraus – der Schwule (und nicht der Homosexuelle der Moderne). Die polnische lesbische Literatur der 1990er Jahre hatte nicht die gleiche Durchschlagskraft. Die auffallendste Autorin war (und ist weiterhin) Ewa Schillig, deren Buch Lustro (Der Spiegel) 1998 erschienen ist. Das war die erste polnische Sammlung von Erzählungen, deren Protagonistin immer eine Lesbe ist (obwohl der Leser nie von Anfang an weiß, welche es ist, was der Lektüre suspense verleiht).
"Sie sollen uns sehen" – gegen Homophobie
Wollte man ein Datum für den Durchbruch benennen, wäre das mit Sicherheit (obwohl natürlich symbolisch) das Jahr 2003. Damals wurden in polnischen Städten im Rahmen der Aktionen "Niech nas zobaczą" (Sie sollen uns sehen) Plakate mit gleichgeschlechtlichen Paaren aufgehängt. Leider wurden sie schnell heruntergerissen. Das gesamte künstlerische Projekt von Karolina Breguła kann man sich in mehreren Galerien in Polen ansehen. Fünfzehn Männerpaare und fünfzehn Frauenpaare, eher junge Menschen aus Großstädten, sie halten sich an den Händen und schauen uns in die Augen. Diese Porträts haben eine enorme Diskussion und ungewöhnliche Kontroversen ausgelöst. Sie waren Symptom für etwas Neues: Die homosexuelle Frage drang in den öffentlichen Diskurs durch und wurde politisch. Mit der Zeit unterlag sie einer Art Kommerzialisierung. In diesem Zeitraum entstand auch die neue schwul-lesbische Organisation "Kampania Przeciw Homofobii" (Kampagne gegen Homophobie). Allein der Name der Organisation deutet auf eine gewisse Veränderung im emanzipatorischen Denken hin. Das Problem war nicht mehr der Homosexuelle, dessen Normalität bewiesen werden musste. Mit dieser neuen Sichtweise begann man, die Vorurteile gegen nichtheterosexuelle Personen, sprich die Homophobie, als Problem zu benennen. Homosexualität wurde auch zu einem Brennpunkt der nationalen Identität. Aus dieser – der nationalen – Perspektive wurden Homosexuelle als "Fremde" (und nicht mehr als "Andere" wie in den 1980er Jahren) wahrgenommen. Besonders deutlich wurde dies in der Zeit, als die Gleichheitsparade verboten wurde. Dazu schreibt Przemysław Czapliński: "Im kollektiven Diskurs ist der sexuell Andersartige vom Anderen zum Fremden geworden", wofür das Vorgehen der Polizei am 19. November 2005 in Posen ein deutliches Beispiel war. "Der Gleichheitsmarsch wurde von einer Gegendemonstration aufgehalten, deren Teilnehmer unter anderem ›Schwule in die Gaskammer‹ und ›Wir machen mit euch das, was Hitler mit den Juden gemacht hat‹ riefen. Die Polizei hat gegen die antisemitischen und schwulenfeindlichen Rufe nichts unternommen, dafür aber 65 Teilnehmer des Gleichheitsmarsches festgenommen. Diejenigen, die die feindseligen Parolen gerufen haben, haben ihr Recht darauf zu bestimmen, wer ein Fremder ist, ausgetestet und die Erfahrung gemacht, dass ein solches Vorgehen nicht nur erlaubt, sondern sogar gesetzlich geschützt ist." Tatsächlich wurden für diese dritte Etappe der Emanzipation die Gleichheitsparaden und -märsche besonders wichtig.
Zu Beginn wurden die Paraden von den Medien nicht stark wahrgenommen, erst das Verbot (zunächst in Warschau durch den Stadtpräsidenten Lech Kaczyński im Jahr 2004) führte dazu, dass der schwul-lesbische Kampf um Anerkennung und gleiche Rechte medial sichtbar und zu einer brennenden politischen Frage geworden ist. Gleichzeitig hat sich damals der schwulenfeindliche Diskurs mit dem Homosexuellen als dem Fremden herausgebildet. Mit seinen extremen Versionen haben wir bis heute zu tun. Bisweilen kann man geradezu den Eindruck gewinnen, dass der moderne Homophobietyp, der in den rechtsgerichteten Medien residiert, bereits alle Grenzen des Anstands überschritten hat und teilweise die Gestalt eines Pogromdiskurses annimmt. Für die schwule Identität hat das neue Jahrzehnt, insbesondere nach dem Jahr 2003, auch Veränderungen gebracht. Vor allem vollzog sich langsam eine technologische Revolution, die neue und effektive Emanzipationstools lieferte. Das Internet und seine Möglichkeiten förderten die Aktivität und eine neue schwule und lesbische Identität. Gleichzeitig jedoch hat es die Papierpresse zu Fall gebracht und die alte schwule Identität der 1990er Jahre, die sich um die Zeitschriften gebildet hatte, anachronistisch werden lassen (denn unterwegs hatte sich auch ein Generationswechsel vollzogen). Langsam wurde der Transgender-Aktivismus immer sichtbarer, besonders im Zusammenhang mit der Organisation "Trans-fuzja" (deren Vorsitzende zuvor die Abgeordnete Anna Grodzka gewesen war). Es entstand wieder eine schwul-lesbische Literatur, die – anders als die im vorangegangenen Jahrzehnt – wahrgenommen, gelesen und analysiert wurde, weil der gesellschaftliche Kontext ihr besondere Bedeutung verlieh. Besonders bekannt wurde Lubiewo von Michał Witkowski (2004), eine Camp-Erzählung über Homosexuelle, die sich nach der Volksrepublik Polen sehnen und mit der neuen kapitalistischen Wirklichkeit nicht zurechtkommen können oder wollen. Denn wie Untersuchungen gezeigt haben, hat sich in Polen die gesellschaftlich-ökonomische Kluft vergrößert, die immer stärker von innen an dem liberalen Subjekt der schwul-lesbischen Politik nagt. Mit anderen Worten: Es lässt sich kaum von einer schwulen Identität oder "einem Bild des durchschnittlichen Schwulen" sprechen, denn die ökonomischen und sozialen Unterschiede beeinflussen diese Identität. Auch die politischen Interessen unterscheiden die Schwulen. Dieses Phänomen spiegelt in gewissem Grad die Literatur der dritten Emanzipationswelle wider. Das in der ersten Hälfte des Jahrzehnts erschienene Buch Lubiewo spielt am Ende der 1980er und – was vielleicht weniger offensichtlich, aber relativ wichtig ist – in den 1990er Jahren. Es operiert sehr deutlich mit den gegensätzlichen Identitätsmustern "Schwuler versus Tunte", die in den Kontext der polnischen Transformation gestellt werden. Es fällt ins Auge, dass das pejorative Wort "ciota" (Tunte) in der polnischen Sprache – neben der Konnotation mit männlicher Homosexualität –"Trottel" bedeutet, also jemand, der gescheitert ist. Man könnte Lubiewo demzufolge als eine Geschichte über die Gewinner und Verlierer der polnischen Transformation lesen, die in der Sprache einer homosexuellen Quasi-Identität beschrieben werden. In dieser Version sind die "Schwulen" diejenigen, die ihr Leben meistern, sie sind potenzielle Nutznießer des Systemwandels.
Man kann nur bedauern, dass in soziologischen Analysen diese Klassenunterschiede im Bereich der homosexuellen Identität (die vor dem Hintergrund einer immer stärkeren ökonomischen Schichtenbildung entsteht) selten zum Gegenstand konstruktiver Reflexionen in den polnischen Queer-Studien geworden sind. In einem Text, der etwa ein Jahrzehnt später geschrieben wurde, in Tęczowa Trybuna 2012 (Die Regenbogentribüne 2012) von Paweł Demirski, der als eine Art Nationaldrama von Monika Strzępka auf die Bühne gebracht wurde, sieht die Sache bereits etwas anders aus. Diese Erzählung baut auf Randgruppen der nationalen Gemeinschaft auf – weil zweifelsohne nur dort schwule Fußballfans und Verehrer der Nationalmannschaft zu finden sind. In diesem Stück geht es um schwule Fußballfans, die während der EURO 2012 in Polen einen Platz auf der nationalen Tribüne fordern. Hier jedoch wurden "Schwule" eher als die Verlierer der Modernisierungsillusionen der 1990er Jahre dargestellt, die unaufhörlich (und vergeblich) nach dem Image der Mittelklasse streben. Mehr noch, es wird deutlich, dass sich – innerhalb einer neoliberalen und konservativen Hegemonie – die Interessen von schwulen Fußballfans und Künstlern der höheren Klasse deutlich voneinander unterscheiden. Deshalb kann man heute nicht von den Schwulen sprechen. Wir sind von der Unsichtbarkeit von Schwulen und Lesben zur Sichtbarkeit gelangt, von der vorpolitischen Phase zur Politisierung von Homosexualität und Homophobie. Dennoch bleibt mit Sicherheit noch viel zu tun.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska
Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem "Jahrbuch Polen 2014 Männer" des Deutschen Polen-Instituts, das im März 2014 erscheinen wird.