Unsere Hypothese war, dass es Polen und Litauern vor allem an gegenseitigem Verständnis für die gemeinsamen Beziehungen, die Ängste und Interessen fehlt. Dies haben unsere Untersuchungen bestätigt. Der daraus entstandene Bericht "Nebeneinander. Die gegenseitige Wahrnehmung von Polen und Litauern" (poln.: Obok siebie. Wzajemne postrzeganie się Polaków i Litwinów, bibliographische Angabe am Ende des Textes) enthüllt ein geringes Wissen der Polen über die Litauer und umgekehrt, was den Fortbestand von Stereotypen begünstigt. Er zeigt, wie die Medienberichterstattung und die Konflikte im politischen Diskurs auf die allgemeine Atmosphäre der polnisch-litauischen Beziehungen und die gegenseitige Wahrnehmung unserer Gesellschaften Einfluss nehmen.
Analyse: Die gegenseitige Wahrnehmung von Polen und Litauern
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Die polnisch-litauischen Beziehungen waren in letzter Zeit angespannt. Als ein polnischer Minister im Jahr 2012 zu verstehen gab, dass er schon auf einen Regierungswechsel in Wilna warte, wurden sie frostig. Das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) und die Bronisław Geremek Stiftung (Fundacja im. Bronisława Geremka) begannen daher im Sommer 2012 umfragebasierte Untersuchungen der gegenseitigen Wahrnehmung von Polen und Litauern.
Kontext
Die polnisch-litauischen Beziehungen kann man nicht verstehen, ohne den historischen Kontext zu berücksichtigen. Die Anfänge der Integration Polens und Litauens reichen bis ans Ende des 14. Jahrhunderts zurück. 1569 entstand in Folge der Lubliner Union die sogenannte Republik beider Nationen (poln.: Rzeczpospolita Obojga Narodów), die bis zu den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts bestand. Im polnischen Bewusstsein und in der öffentlichen Debatte hält sich bis heute deutlich die Sympathie für den "gemeinsamen Staat" und die "gemeinsame Geschichte", was insbesondere das Werk Pan Tadeusz (dt.: Herr Thaddäus) des polnischen Nationaldichters der Epoche der Romantik, Adam Mickiewicz, befestigte. Jeder Pole lernt in der Schule den Prolog dieses Nationalepos auswendig, das mit den Worten "Litauen, du meine Heimat…" beginnt. Auf diesen Abschnitt der gemeinsamen Geschichte, der in Polen eindeutig positiv gesehen wird, beziehen sich auch die staatlichen Würdenträger bei offiziellen Gelegenheiten. Gleichzeitig wird sie in Litauen mit deutlich größerer Distanz betrachtet und ist die "Republik beider Nationen" eher ein Symbol für die Dominanz Polens über Litauen. Wichtig ist hier auch, dass sich die litauische nationale Identität vor allem im Widerstand gegen Polen herausgebildet hat. Nach dem Ersten Weltkrieg blieben die Versuche, einen Staat der beiden Nationen zu gründen, erfolglos, und die polnisch-litauischen Beziehungen waren in der Zwischenkriegszeit angespannt. Ein Streitpunkt war die Zugehörigkeit Wilnas und der Gebiete "Zentrallitauens". Historisch gehörten sie zu Litauen, sie wurden aber vor allem von polnischer Bevölkerung bewohnt. Dieses Gebiet wurde Polen zugeschlagen, was die litauische Seite als Besatzung betrachtete. In den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Erlangung der Unabhängigkeit Litauens, knüpften Polen und Litauen gute Beziehungen. Allerdings wuchsen schrittweise die Missverständnisse im Zusammenhang mit der Behandlung der polnischen Minderheit in Litauen. Gegenwärtig wohnen über 200.000 Personen in Litauen, die die polnische Nationalität angeben. Sie stellen zirka 6,6 Prozent der Einwohner dar und sind vor den Russen die größte Minderheit in Litauen. Sie leben vor allem in Wilna und Umgebung. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben deren Vertreter verschiedene Forderungen zu ihren Rechten als Minderheit formuliert. Die Hauptstreitpunkte sind zurzeit:
Die fehlende Möglichkeit, die polnischen Namen in den Dokumenten entsprechend der polnischen Schreibweise zu schreiben;
das Fehlen zweisprachiger, litauisch-polnischer Straßenschilder in den Regionen, die von der polnischen Minderheit bewohnt werden,
die Schließung polnischer Schulen und die Verabschiedung eines nach Einschätzung der Vertreter der Minderheit ungünstigen Bildungsgesetzes,
die Rückgabe litauischen Grund und Bodens an die Polen, dessen Besitz zur Zeit des kommunistischen Systems aberkannt worden war.
In Polen herrscht die Überzeugung, dass Litauen nicht nur seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, sondern dass es auch gegen die europäischen Standards, die die nationalen Minderheiten betreffen, verstößt. Andererseits ist das polnische Schulwesen in Litauen das am besten entwickelte derjenigen Länder, in denen die Polonia lebt. In den Regionen, in denen Polen leben, gibt es auf allen Bildungsniveaus polnische Schulen. In Wilna besteht eine Filiale der Universität Białystok, wo man auf Polnisch studieren kann. Außerdem sind die Polen auf der Ebene der Selbstverwaltung vertreten und haben seit den letzten Wahlen im Jahr 2012 mit der Wahlaktion der Polen in Litauen (Akcja Wyborcza Polaków na Litwie – AWPL) auch eine politische Vertretung im Parlament. Diese gehört auch der Regierungskoalition an. Ihr Vorsitzender, Waldemar Tomaszewski, ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Der neue litauische Ministerpräsident und der neue Außenminister haben bereits Warschau besucht, was einige Kommentatoren veranlasste, von einer "neuen Öffnung" in den polnisch-litauischen Beziehungen zu sprechen (vgl. ausführlicher den Text "Polen und Litauen – eine komplizierte Nachbarschaft" von Michał Olszewski in den Polen-Analysen 123).
Das gegenseitige Bild der Polen und Litauer – Zusammenfassung der Umfragergebnisse
Die Kenntnis über das andere Land und Kontakte
Polen und Litauer leben in benachbarten Ländern mit einer langen gemeinsamen Geschichte und sollten sich gut kennengelernt haben. Die Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Kenntnis recht oberflächlich ist und sich das Wissen auf ausgewählte Bereiche bezieht. Deutlich sind die Missverhältnisse bei den beiderseitigen Kontakten. Die Polen haben viel seltener Kontakt zum Nachbarland als die Litauer zu Polen. Die überwältigende Mehrheit der Polen, 91 Prozent, war noch nie in Litauen. Regelmäßige Fahrten ins andere Land gibt 1 Prozent an, sporadische Reisen einige Prozent. Die Litauer fahren häufiger nach Polen. Die Hälfte der Befragten war mindestens ein Mal im Nachbarland, ein Drittel (30 Prozent) mehrmals. Nur 5 Prozent geben an, dass sie regelmäßig nach Polen fahren. Das Bild Litauens stützt sich in Polen in hohem Maße auf den Mythos der verlorenen polnischen Ostgebiete und die Literatur, vor allem Pan Tadeusz. Die Polen schöpfen ihr Wissen über Litauen vor allem aus der Schule und den Schulbüchern (45 Prozent). Erst auf den folgenden Plätzen finden sich die Medien. Bei den Litauern nimmt das Fernsehen den ersten Platz ein (48 Prozent) und erst danach die Schule (35 Prozent) und Artikel in der Presse (30 Prozent). Fahrten sind mit familiären, sozialen oder beruflichen Kontakten verbunden. Unterdessen hat die übergroße Mehrheit sowohl der Polen (93 Prozent) wie auch der Litauer (80 Prozent) keine Kontakte im anderen Land. Konkret beeinflusst dies das geringere Wissen der Polen über das andere Land. Die Polen sehen sich viel häufiger als die Litauer außerstande, Fragen über das Nachbarland zu beantworten. Die Wissensquellen spiegeln sich in den Assoziationen wider. Spontan hat jeder dritte Pole eine Assoziation aus dem Bereich der Kultur, dabei 27 Prozent Pan Tadeusz. Bei den Litauern sind die neutralen Assoziationen am häufigsten (zum Beispiel Nachbarland – 23 Prozent). 16 Prozent stellen Verbindungen zur Wirtschaft her (vor allem günstige Einkäufe, nämlich 12 Prozent). Die Umfrageteilnehmer wurden auch nach ihrer Bewertung der Produkte aus dem anderen Land befragt. Die Mehrheit der Polen (59 Prozent) konnte natürlich nicht die litauischen Waren beurteilen. Anders die Litauer, die den polnischen Produkten mehrheitlich positive Noten geben. Über zwei Drittel (68 Prozent) bewerten sie als ansprechend.
Die Einstellung zum anderen Land
Die Hälfte der polnischen und der litauischen Gesellschaft fühlt der anderen Nation gegenüber weder Antipathie noch Sympathie. Allerdings sind die Polen deutlich positiver den Litauern gegenüber eingestellt als umgekehrt. Fast die Hälfte der Polen (44 Prozent) bringt den Litauern Sympathie entgegen. Ein Viertel der Litauer (25 Prozent) nennt Sympathie und fast ebenso viele (23 Prozent) Antipathie gegenüber Polen. Am häufigsten bringen Polen mit höherer Bildung, die sich für Politik interessieren und führende Positionen bekleiden, den Litauern Sympathie entgegen. Zu der Gruppe der Litauer, die Polen gegenüber negativ eingestellt sind, zählen die Jüngsten in der Untersuchung, die 15- bis 24-Jährigen. Sympathie wird im Allgemeinen häufiger denjenigen entgegengebracht, die einem ähnlich oder besser bekannt zu sein scheinen. In der Tat haben die Polen, die sagen, dass die Litauer ihnen ähnlich seien, häufiger ein positives Verhältnis zu ihnen. Auf der litauischen Seite besteht dieselbe Tendenz. Generell herrscht bei der Frage der Ähnlichkeit der beiden Nationen Übereinstimmung – die Mehrheit der Befragten ist davon überzeugt, insbesondere die Vertreter der nationalen Minderheiten. Den Angaben nach akzeptieren die Polen die Litauer sehr viel lieber in verschiedenen sozialen Rollen von Tourist (92 Prozent) bis Schwiegersohn und -tochter (77 Prozent) als umgekehrt. Die Litauer sähen lieber einen Russen als einen Polen als Chef oder Schwiegersohn. Im Fall der Litauer ist der Grad der Akzeptanz gegenüber den Polen zwar niedriger, aber immer noch hoch, vom Touristen (91 Prozent) über Schwiegersohn/-tochter (68 Prozent) bis zum Ratsmitglied (61 Prozent). Interessant ist, dass die Litauer in allen Fällen den Polen gegenüber abgeneigter sind als den Russen. Dieses Missverhältnis ist teilweise deutlich, es beträgt von 4 bis zu 12 Prozentpunkte zuungunsten der Polen. Keine Probleme, die Vertreter der Gesellschaft, in der sie leben, in unterschiedlichen Rollen zu akzeptieren, haben dagegen die nationalen Minderheiten. In beiden Fällen beträgt die Akzeptanz über 90 Prozent. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten zwischen Polen und Litauern kann die Bewertung beeinflussen, ob die jeweilige Minderheit zur Mehrheit der Gesellschaft im betreffenden Land passt. Über zwei Drittel der Polen (68 Prozent) sind der Ansicht, dass die Litauer in Polen hinsichtlich des Lebensstils und der Sitten und Bräuche zur polnischen Gesellschaft passen. Die Litauer denken ähnlich über die Polen in Litauen, obwohl sie diese Meinung seltener äußern (54 Prozent). Anderer Meinung sind 14 Prozent der Polen und über zwei Drittel (35 Prozent) der Litauer.
Die Rechte der nationalen Minderheiten
Die Rechte der nationalen Minderheiten in beiden Staaten bleiben eine der am häufigsten genannten Herausforderungen für die bilateralen Beziehungen. Die Untersuchungen zeigen, dass die Frage des Respektierens der Rechte der polnischen Minderheit in Litauen die beiden Gesellschaften spaltet. Paradoxerweise wird die Situation nicht von den Betroffenen selbst, sondern von den Polen, die in Polen leben, am negativsten bewertet. 27 Prozent der Befragten meinen, dass die Rechte respektiert werden, 48 Prozent meinen dies nicht. Die litauischen Polen sind gespalten. 44 Prozent sind überzeugt, dass ihre Rechte respektiert werden, 16 Prozent haben in dieser Angelegenheit keine Meinung, und 40 Prozent meinen, dass sie nicht respektiert werden. Gleichzeitig behaupten 71 Prozent, dass sie selbst oder ihre Angehörigen nie mit Formen von Diskriminierung konfrontiert wurden. Gegenteiliger Ansicht sind 21 Prozent. Die Litauer wiederum sind der Meinung, dass es kein Problem gibt. 76 Prozent meinen, dass die Rechte der Polen respektiert werden, 14 Prozent meinen dies nicht. Die litauische Minderheit in Polen, zirka 8.000 Personen nach der Nationalen Volkszählung 2011, fühlt sich nicht diskriminiert. 76 Prozent der Befragten aus dieser Gruppe urteilten, dass ihre Rechte respektiert werden (gegenteiliger Ansicht sind 14 Prozent), und 86 Prozent sind nicht mit Formen von Diskriminierung in Berührung gekommen. Auch in diesem Fall ist die Tendenz sichtbar, dass die Minderheit selbst die Situation positiver einschätzt als die Litauer, die in Litauen leben.
Die polnisch-litauischen Beziehungen
Die Untersuchungsergebnisse hinterfragen auch die Stichhaltigkeit einiger gängiger Meinungen über die polnisch-litauischen Beziehungen. Die schwerstwiegende ist vielleicht die, dass Polen in Litauen allgemein als Bedrohung wahrgenommen wird. Mit dieser Feststellung stimmten nur 14 Prozent der litauischen Befragten überein – nicht viel mehr als unter den polnischen Befragten. Auch die litauischen Experten stimmten nicht zu. Ein weiteres Stereotyp ist, dass die Gesellschaft (und die Wähler) in beiden Ländern von den Politikern eine unnachgiebige Haltung erwarten, beispielsweise die kompromisslose Unterstützung von Seiten der polnischen Regierung für die Forderungen der Vertreter der Minderheit in Litauen. Zu erfahren ist jedoch, dass die deutliche Mehrheit der Polen (68 Prozent) und der Litauer (70 Prozent) der Ansicht sind, dass Polen und Litauen in den Beziehungen zum anderen Land auf Zusammenarbeit und Kompromisse setzen sollten. Nur jeder fünfte Befragte möchte, dass die Regierung die Interessen des eigenen Landes rigide verteidigt. Die Einwohner beider Länder halten darüber hinaus das Nachbarland für eher freundlich gesinnt als feindlich gegenüber dem eigenen eingestellt. Dies meinen die größten Gruppen unter den Befragten, nämlich 41 Prozent der Polen und 35 Prozent der Litauer. Fast gleich große Gruppen sagen, dass das Nachbarland weder freundlich noch feindlich eingestellt sei (34 Prozent). Was die Vertreter der Minderheiten betrifft, so sind über 60 Prozent der Ansicht, dass das Land, in dem sie leben, dem anderen Land gegenüber freundschaftlich eingestellt ist.
Polnische und litauische Experten über die bilateralen Beziehungen – Zusammenfassung der qualitativen Untersuchung
Die Umfragen wurden um Untersuchungen erweitert, die auf Interviews mit polnischen und litauischen Experten für die polnisch-litauischen Beziehungen beruhten. Ziel war es, die Denkweise derjenigen Polen und Litauer zu eruieren, die in beiden Ländern als sogenannte Meinungsführer in diesem Bereich betrachtet werden können – unabhängige Experten, Politiker, Journalisten, Beamte, Diplomaten und Geschäftsleute. Die Experten wurden wegen ihrer Kenntnisse und ihrer Erfahrungen, ihres Einflusses auf die aktuelle Regierungspolitik in Warschau und in Wilna sowie auf die öffentliche Meinung ausgewählt. Die bilateralen Beziehungen werden in Polen negativer bewertet als in Litauen. Die Mehrheit der polnischen Experten sagt geradeheraus, dass sie schlecht seien, nach Einschätzung vieler sogar am schlechtesten seit dem Zusammenbruch der UdSSR. Meistens wird dies als Paradox wahrgenommen, denn einerseits gibt es gemeinsame Interessen auf der internationalen Bühne: Polen und Litauen sind "natürliche Verbündete" in Bereichen wie Energie, Politik gegenüber Russland und Osteuropa (Programm der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union), hinzu kommt die reiche gemeinsame Geschichte und die nach Meinung der Interviewteilnehmer recht gute Kenntnis voneinander. Dennoch seien andererseits die bilateralen politischen Beziehungen fatal. Unter den litauischen Experten sind die Meinungen differenzierter. Die Bewertungen schwanken zwischen "sehr schlecht" über "normal" bis zu "gut und pragmatisch". Relativ häufig, häufiger als in Polen, unterstreichen die Experten, dass in den meisten Bereichen der bilateralen Zusammenarbeit – wie im Rahmen der Europäischen Union – Polen und Litauen "normal" zusammenarbeiten. Problematisch ist die Frage der polnischen Minderheit, aber meistens wird hier von Missverständnissen, stereotypen Sichtweisen, Phobien der Politiker auf höchster Ebene gesprochen. Manchmal unterstreichen die Experten, dass das negative Bild der Beziehungen in den Medien nicht wahr sei. Als Gegengewicht zu den politischen Beziehungen, die nicht die besten sind, stellen die litauischen Experten häufig die guten wirtschaftlichen Beziehungen dar. Für beide Expertengruppen ist der Problemkatalog der bilateralen Beziehungen eher abgeschlossen. Unter den Experten treten nur geringe Unterschiede auf. Die polnischen Experten benennen als Hauptproblem am häufigsten die Nichteinhaltung der Rechte der polnischen Minderheit, aber viele von ihnen nehmen auch einen übermäßigen politischen Druck von Warschau auf Wilna wahr. Die litauischen Experten stellen häufiger den zweiten Aspekt heraus, sind sich aber auch der Notwendigkeit einer anderen Haltung der Minderheit gegenüber bewusst.
Polnische Experten über die Situation der polnischen Minderheit und über die litauischen Politiker
Die deutliche Mehrheit der polnischen Experten, aber auch ein Teil der litauischen Experten, sind der Ansicht, dass Litauen sich der Fragen, die von Vertretern der Minderheit aufgebracht wurden, annehmen sollte. Dies betrifft vor allem die Schreibweise polnischer Namen in Dokumenten und die zweisprachigen Schilder. Die litauischen Experten erinnern dagegen daran, dass die polnische Minderheit nirgendwo in der Welt solche Rechte wie in Litauen besitzt, wo die Polen nämlich die Möglichkeit haben, ihre Bildungsweg komplett, von der Grundschule bis zum Studium, auf Polnisch zu absolvieren. Der größte Teil ist auch der Ansicht, dass die Probleme der Minderheit übertrieben werden. Die Meinungen der polnischen Experten über die polnische Minderheit in Litauen sind differenziert. Unter den Teilnehmern der Interviews gab es diejenigen, die unterstrichen, dass der polnischen Minderheit nichts Schlechtes widerfährt, und die die "hysterischen Reaktionen" der Minderheiten-Vertreter beispielsweise auf das Bildungsgesetz kritisierten. Sie erinnerten daran, dass die zweisprachigen Ortsschilder in Polen, so in Schlesien, ebenfalls Kontroversen hervorrufen. Ihrer Meinung nach braucht Litauen mehr Zeit und Polen mehr Geduld. Allerdings dominiert in Polen die Überzeugung, dass die Polen in Litauen tatsächlich schlecht behandelt werden. Es ist schwer, einen Experten zu finden, der die Politik der litauischen Regierung gegenüber der polnischen Minderheit als angemessen bezeichnet. Kritisiert wird, dass die Forderungen nicht erfüllt, internationale Normen des Minderheitenrechts nicht beachtet und Versprechen nicht eingelöst werden. Die Gründe einer solchen Politik werden in Polen meistens im Bestreben der litauischen Politiker gesehen, die nationalistische Wählerschaft zu gewinnen, was eine antipolnische Rhetorik nach sich ziehe. Einige Experten interpretieren dies als Ergebnis der demographischen Probleme Litauens und der Emigration gut ausgebildeter Litauer. Infolge dessen werde die polnische Kultur als Bedrohung wahrgenommen. Große Bedeutung für die Betrachtung der Frage der Minderheit hat der Eindruck, dass Wilna die abgegebenen Versprechen nicht einhält. Die polnischen Experten weisen häufig auf dieses Problem hin und deuten an, dass die aktuelle polnische Regierung es nicht für sinnvoll hält, einen Dialog mit Wilna zu führen, da dies auf neuerliche Versprechen hinauslaufen würde, die abermals nicht erfüllt werden würden. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf das Gesetz über die Schreibweise polnischer Namen hingewiesen, das das litauische Parlament an dem Tag abwies, als der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński Wilna besuchte.
Litauische und polnische Experten über die polnische Regierungstätigkeit
Charakteristisch für die litauischen Experten ist, dass sie das Engagement der polnischen Regierung für die Polen im Ausland als sehr positiv und beneidenswert beurteilen. Gleichzeitig kritisiert aber die Mehrheit dieser Experten die polnische Politik konkret dafür, dass sie zu emotional handele, sich in die inneren Angelegenheiten Litauens einmische sowie dafür, dass sie ohne Konsultationen mit der litauischen Regierung handele. Außerdem habe man auch mit schwierigen Persönlichkeiten zu tun, z. B. mit Außenminister Radosław Sikorski. Die polnischen Experten kritisieren die polnische Regierungspolitik häufiger als die litauischen Experten. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang die gesamte polnische Handlungsstrategie gegenüber den Polen im Ausland kritisiert, die nicht zur Integration der Polen beispielsweise in Litauen führe und keine Führungspersönlichkeiten auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hervorbringe. Stattdessen ermuntere das offizielle Polen dazu, eine eigene polnische kulturelle community zu bilden und sich als solche zu isolieren. Als typisches Beispiel für diese These wird die Gründung einer Filiale der Universität Białystok in Wilna angeführt, wo litauische Polen auf Polnisch studieren können. Die Absolventen können also eine gesamte Ausbildung einschließlich Studium durchlaufen, auch wenn sie die litauische Sprache nicht gut beherrschen. Anstatt in der litauischen Gesellschaft Führungsrollen zu übernehmen und gleichzeitig die polnische Minderheit zu repräsentieren, suchten sie Arbeit in Polen. Es taucht die Meinung auf, dass Polen unnötigerweise die Renationalisierung der polnischen Minderheit begünstigt, die sich in der Zeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR nicht in dem Maße mit minderheitsspezifischen Forderungen identifiziert habe, wie es heute der Fall sei. Ein weiterer Aspekt der Kritik an den Beziehungen der polnischen Regierung zu Litauen ist die nach ihrer Auffassung übermäßige Konzentration auf die Angelegenheiten der Minderheit. Einige Experten sagen gerade heraus, dass Polen zur "Geisel" der Vertreter der polnischen Minderheit wird, denn die gesamte polnische Politik Litauen gegenüber sei von der Bewertung abhängig, wie die Regierung in Wilna die polnische Minderheit behandelt.
Wer trägt die Schuld an den schlechten Beziehungen?
Die Schuld für die Zerrüttung der polnisch-litauischen Beziehungen geben die Experten beider Länder häufig konkreten Politikern oder Politikergruppen. Wenn man jemanden als "schwarzen Charakter" der polnisch-litauischen Beziehungen bezeichnen kann, so ist es für die Litauer mit Sicherheit Außenminister Sikorski, seltener die gesamte Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk. Sie werden für ihre Arroganz und ihre "Muskelspiele" gegenüber dem kleineren Nachbarn kritisiert. Sikorski oder Tusk werden häufig Lech Kaczyński gegenüber gestellt, der positiver beurteilt wird. Die zweite, häufig kritisierte Persönlichkeit ist Waldemar Tomaszewski oder etwas weiter gefasst das Milieu der AWPL. Vorgeworfen wird ihm, die Angelegenheiten der Minderheit und letztendlich die Eskalation des Konflikts für den Ausbau seiner politischen Position auszunutzen. Einer der litauischen Experten äußerte die Meinung, dass die polnischen Politiker untereinander darum konkurrieren, "wer die litauischen Polen am meisten liebt". Kritisiert werden aber auch die litauischen Politiker, insbesondere der ehemalige Außenminister Audronius Ažubalis und Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė, für die Unfähigkeit zum Dialog mit den Polen und übertrieben negative Reaktionen. Die polnischen Experten nennen nicht so eindeutig konkrete Personen, versucht man jedoch, entsprechend einen litauischen "schwarzen Charakter" zu benennen, dann wäre dies sicherlich Dalia Grybauskaitė. Meistens werden in Polen allerdings die litauischen Politiker im Allgemeinen bezichtigt, seit Jahren keine der Forderungen der litauischen Staatsbürger polnischer Herkunft zu erfüllen und Versprechen nicht einzulösen. Die politische Klasse Litauens wird allgemein als kurzsichtig kritisiert und ihr wird vorgeworfen, eine nationalistische Rhetorik gegen die Minderheit einzusetzen, um die Unterstützung der rechten Wählerschaft zu erlangen. Experten, die versöhnlicher eingestellt sind, kritisieren ebenfalls die polnische Regierung für diplomatische Unfähigkeit, häufigen übermäßigen Druck auf Litauen, was nur die litauische Haltung verhärten würde, und eine unkritische Übernahme der Position der Vertreter der litauischen Minderheit als ihre eigene.
Polen und Litauen auf der internationalen Bühne und die bilateralen Beziehungen
Die Meinungen darüber, ob die polnisch-litauischen Konflikte Einfluss auf das erfolgreiche Handeln auf internationaler Ebene nehmen, insbesondere in der EU, sind unter polnischen und litauischen Experten geteilt. Die Mehrheit ist der Auffassung, dass die internationalen Interessen beider Staaten einander ähnlich sind und Polen und Litauen in vielen Dingen Verbündete sein sollten, beispielsweise was das Verhältnis zu Russland angeht. Gemeinsame Standpunkte treten bei solchen Angelegenheiten wie der "Orangen Revolution" in der Ukraine oder dem Krieg in Georgien im Jahr 2008 auf. Ein Teil der Experten meint, dass die Zusammenarbeit und Koordination zurzeit fortgesetzt wird. Die Zusammenarbeit im Rahmen der EU stützt sich ihrer Meinung nach auf die Arbeitsgruppen auf der Verwaltungsebene, wo der bilaterale Konflikt keine Rolle spielt. Andere unterstreichen, dass dieser doch großen Einfluss auf die Beziehungen zwischen den politischen Führungspersonen habe und sich dort auf die beiderseitige Zusammenarbeit auswirke, wo die Kooperation dieser Politiker notwendig wäre. Genannt werden hier die Beziehungen zu den Ländern im östlichen Europa, der Streit um die Patrouillenflüge der NATO über die baltischen Staaten, die fehlende Unterstützung Polens für die Kandidatur Litauens für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die litauischen Experten wurden außerdem um die Bewertung Polens als Führer in der Region Ostmitteleuropa gebeten. Die Mehrheit urteilte, dass Polen das Potential habe, eine solche Rolle auszufüllen, es aber nicht ausschöpfe, denn es repräsentiere die Interessen der anderen Staaten in der Region nicht. Dies würde eine solche Position jedoch verlangen.
Russland und die polnisch-litauischen Beziehungen
Bei der Diskussion über den polnisch-litauischen Konflikt taucht fast immer auch Russland als derjenige Akteur auf, der von den Missverständnissen zwischen den beiden Staaten profitiert. Auch in den Interviews wurden die Experten nach der Rolle Russlands bei den polnisch-litauischen Missverständnissen gefragt. Die Mehrheit der Experten stimmt darin überein, dass Russland mit Sicherheit von dem Konflikt profitiere und die politisch Verantwortlichen in Russland der Meinung seien, dass dieser im russischen Interesse liege. Demnach soll das gespannte Verhältnis zwischen Polen und Litauen Russland erlauben, seinen Einfluss in der Region auszubauen. Es ist allerdings schwer, klar zu erkennen, ob die Experten tatsächlich Handlungen Moskaus zur Vertiefung der Entfremdung zwischen Warschau und Wilna wahrnehmen oder die Einschätzungen dahin gehen, dass Moskau die Missverständnisse nur ausnutzt. In Polen sind die Experten recht häufig der Ansicht, dass Russland großen (zu großen?) Einfluss auf Litauen nimmt, wobei drei Aspekte dieses Einflusses benannt und hervorgehoben werden: die russische Minderheit, einige litauische Politiker (mit russischen Wurzeln oder auf geschäftlicher Ebene mit Russland verflochten) und kulturell-sprachliche Einflüsse (zahlreiche russischsprachige Medien). In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass die Koalition zwischen der AWPL und der Partei der litauischen Russen Russische Allianz (Rusų Aljansas) nicht sehr positiv in Polen betrachtet wird. Die litauischen Experten richten dagegen ihre Aufmerksamkeit häufig auf den Versuch der Regierung Tusk in Warschau, die polnisch-russischen Beziehungen zu verbessern (als "Flirt" mit Russland bezeichnete dies einer der Befragten) und deuten an, dass sich dies auf Kosten Litauens vollziehe. Sie heben des Weiteren hervor, dass bis vor kurzem der polnische und der litauische Umgang mit Russland identisch waren; zurzeit aber wende sich Polen Russland zu und ignoriere Litauen. Unter den litauischen Experten lässt sich eine gewisse Enttäuschung feststellen, dass der Neuanfang Polens in den Beziehungen zu Russland nicht mit Litauen konsultiert wurde.
Zusammenfassung
Sind die präsentierten Ergebnisse der Untersuchung gut oder schlecht? Unserer Meinung nach kann man sie insbesondere vor dem Hintergrund der zahlreichen negativen Darstellungen in den Medien als relativ positiv bewerten. Es scheint, als würden die Gesellschaften beider Länder eine gesunde Distanz zu den Konflikten auf politischer Ebene wahren. Die deutliche Mehrheit der Polen (68 Prozent) und der Litauer (70 Prozent) sind der Ansicht , dass Polen und Litauen im bilateralen Verhältnis auf Zusammenarbeit und Kompromisse setzen sollten. Nur jeder fünfte Befragte möchte, dass die Regierung die Interessen des eigenen Landes rigoros verteidigt. Die polnischen und litauischen Experten stimmen deutlich stärker miteinander überein als die Regierungen in Warschau und Wilna (Siehe auch den Text von Michał Olszewski in den Polen-Analysen 123). In manchen Fragen treten allerdings Unterschiede auf und manchmal Missverständnisse. Die litauischen Experten machen häufig darauf aufmerksam, dass sich Polen unter der Regierung Tusk von den kleineren Ländern, darunter Litauen, abgewendet habe, weil es seine Position auf der internationalen Bühne ausbaue und sich dabei an die stärksten Länder, Deutschland und Russland, anlehne. Hier besteht die Meinung, dass insbesondere der Versuch, die polnisch-russischen Beziehungen und Kontakte zu verbessern, auf Kosten Litauens stattfindet. Die polnischen Experten wiederum interpretieren die Abkühlung in den Beziehungen zu Litauen als Resultat der Enttäuschung Warschaus über die litauische Minderheitenpolitik und insbesondere über die nicht eingehaltenen Versprechen. Die am häufigsten auftretende Empfehlung, den polnisch-litauischen Dialog zu erneuern, baut auch darauf auf, diese Fragen gemeinsam zu klären. Polen und Litauen haben in der internationalen Arena viele gemeinsame Interessen. Warschau und Wilna beurteilen die Politik der EU ähnlich und könnten sie in Hinblick auf die Staaten der Östlichen Partnerschaft oder Russland gemeinsam gestalten. Sie sind ähnlich sensibel gegenüber den Gefahren für die Energiesicherheit Europas. Sie sollten sich gemeinsam dafür einsetzen, die Öffnung der Eurozone für Staaten, die ihr noch nicht angehören, aufrechtzuerhalten. Schließlich sollten sie zusammen die EU-Mitgliedschaft zur sozio-ökonomischen Modernisierung und zum Abbau zivilisatorischer Rückstände im Vergleich zu Westeuropa nutzen. Hierfür wäre eine bilaterale Zusammenarbeit in den Bereichen Kommunikation und Energie notwendig. Gut wäre es, wenn sich Polen und Litauen für die Umsetzung ihrer gemeinsamen Interessen einsetzen, gleichzeitig ihre bilateralen Probleme lösen und nicht zuließen, dass diese Probleme die Verwirklichung bilateraler Vorhaben blockieren.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Der Bericht "Obok siebie. Wzajemne postrzeganie się Polaków i Litwinów" (Nebeneinander. Die gegenseitige Wahrnehmung der Polen und Litauer) von Aleksander Fuksiewicz, Jacek Kucharczyk und Agnieszka Łada, Instytut Spraw Publicznych: Warszawa 2013, ist als pdf-Dokument auf der Internetseite des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych), Warschau, zugänglich unter: www.isp.org.pl
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator im Europäischen Programm des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten, Warschau (Instytut Spraw Publicznych – ISP, Warszawa). Seine Forschungsgebiete sind die polnische Außenpolitik, insbesondere die polnische EU-Politik, und die Institutionen der Europäischen Union.
Vorstandsvorsitzender des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten, Warschau (Instytut Spraw Publicznych – ISP, Warszawa), ist Experte für die polnische Außen- und EU-Politik. Weitere Forschungsgebiete sind die transatlantischen Beziehungen, Populismus, Korruption sowie good governance.
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Europäischen Programms des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten, Warschau (Instytut Spraw Publicznych – ISP, Warszawa). Ihre Forschungsgebiete sind die Institutionen der Europäischen Union, insbesondere das Europäische Parlament und der EU-Ratsvorsitz, Deutschland und die deutsch-polnischen Beziehungen, die polnische Außen- und EU-Politik sowie die Wahrnehmung der Polen im Ausland und Ausländer in Polen.
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