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Analysen: »Jugend 2011« – der Regierungsbericht über die junge Generation der Polen | Polen-Analysen | bpb.de

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Analysen: »Jugend 2011« – der Regierungsbericht über die junge Generation der Polen

Krystyna Szafraniec

/ 16 Minuten zu lesen

Proteste gegen das umstrittene Urheberrechtsabkommen ACTA in Warschau (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung


Der Regierungsbericht »Młodzi 2011« (»Jugend 2011«) stellt den Versuch dar, die junge Generation zu porträtieren, die das kommunistische Polen nicht erlebt hat und in der Transformationsphase nach 1989 aufgewachsen ist. Die Mehrheit der Jugend kennzeichnet der beispiellose Anstieg der Ambitionen in Sachen Bildung und Status, hohe Erwartungen an das Lebensniveau, Optimismus, Pragmatismus und eine aktive Lebenshaltung. Allerdings hatte der Massenkonsum von höherer Bildung zur Folge, dass die Bildungsabschlüsse ab- bzw. neubewertet werden. Dies sowie eine hohe Arbeitslosigkeit in der jungen Generation, befristete Arbeitsverträge, unflexible Arbeitszeiten und niedrige Einkommen für Berufsanfänger erschweren die Verwirklichung der beruflichen und persönlichen Pläne der jungen Polen. Sie gehören europaweit zu den aktivsten Nutzern der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und wollen damit eine neue Form zivilgesellschaftlichen Engagements zeigen (z. B. in der ACTA-Bewegung). Obgleich die große Mehrheit der Meinung ist, dass es richtig war, 1989 das System zu verändern, zeigen Untersuchungen eine wachsende kritische Haltung gegenüber dem Zustand der polnischen Demokratie.

Ende 2009, als die Gruppe der Strategischen Berater beim Ministerpräsidenten die Arbeit am Bericht »Polen 2030« beendet hatte (Thema: die Herausforderungen und langfristigen Entwicklungsstrategien für Polen), kam die Idee auf, eine Debatte über die Situation der jungen Generation zu initiieren. Dahinter stand die intuitive Vermutung, dass mit der jungen Generation in Polen etwas Besonderes geschieht, nicht nur, dass sie viele zivilisatorische Veränderungen am eigenen Leib erfährt. Dazu kam auch, dass sich die Vorräte der gegenwärtig regierenden Generation, die mit der Solidarność-Bewegung und mit ihrer Mission groß geworden ist, erschöpfen.

Entscheidet man sich für einen Bericht über die junge Generation, darf man keine zu optimistischen Diagnosen erwarten. Die Jungen sind dem gesellschaftlichen System und den »Machthabern« gegenüber nie gnädig eingestellt. Das versteht sich fast von selbst: Der periphere Platz der Jugend innerhalb der Struktur der Gesellschaft, der Zusammenstoß von einerseits ausschweifenden Ambitionen und andererseits Beschränkungen aufgrund der eigenen (instabilen) Position und des gesellschaftlichen Systems ziehen selten positive Bewertungen der Realität nach sich. Der Bericht »Młodzi 2011« (»Jugend 2011«), der auf eine Vielzahl von Quellen und Untersuchungen, auch internationale Forschungen, zurückgreift, zeigt sowohl die Bedürfnisse und Probleme als auch das innere Potential der jungen Polen. Er umfasst zehn Kapitel, diagnostiziert die Situation und Erwartungen der jungen Generation und formuliert Empfehlungen für die Jugendpolitik des Staates. Er stellt den Versuch dar, den hohen Prozentsatz der polnischen Gesellschaft zu porträtieren, der das kommunistische Polen nicht erlebt hat, nämlich die Jahrgänge des demographischen Hochs, die in der Transformationsphase nach 1989 aufgewachsen sind. Aber nicht nur dies entscheidet über ihre Besonderheit. Von eigener Wichtigkeit ist auch der globale Kontext. Nach 1989 entwickelte sich Polen zu einer offenen Gesellschaft, seit 2004 ist es Mitglied der Europäischen Union. Die jungen Polen, die immer häufiger ihr Europäertum unterstreichen, wachsen in einer Realität auf, die um ein Vielfaches ausdifferenzierter ist, als es sich allein aus der Transformation des alten Systems ergeben würde. Sie wachsen auf der Grenze unterschiedlicher sozialer und kultureller Welten auf. Diese Existenz im »dazwischen« ist qualitativ neu und verkompliziert manche Dinge. Vor allem aber belebt dies die Gesellschaft und Kultur, verbietet eine dogmatische Sicht auf die Welt und sensibilisiert für die Perspektive des Anderen.

Die Welt, in die Polen eintrat, ist die Welt des expansiven, dynamischen, aber auch in innere Widersprüche verwickelten demokratischen Kapitalismus. In Bildung, Politik und Medien wird er dargestellt als in rastloser Entwicklung begriffen und eine bessere Zukunft garantierend, was auf die junge Generation anregend wirkt und den Entwurf immer ehrgeizigerer Lebenspläne provoziert. Inzwischen befindet sich dieser bunte und vielversprechende Kapitalismus jedoch in einer tiefen Krise und stellt die Ambitionen der Jugend auf die Probe. Die Zukunft der jungen Generation ist sehr unsicher geworden und kann nicht nur für die Stabilität der sozialen Ordnung eine Gefahr darstellen. Die größten Befürchtungen betreffen die Möglichkeit, dass die Krise eine »verlorene Generation« hervorbringt – junge, gut ausgebildete Menschen, die vom Arbeitsmarkt isoliert bleiben und ihre Energie dafür aufbrauchen, ihr Überleben zu sichern. Es zahlt sich sowohl in wirtschaftlicher als auch politischer Hinsicht aus, diesen Gefahren entgegenzutreten, und die Weitsichtigen wissen, dass die Fürsorge gegenüber der Jugend eine Investition in das Wohlergehen der Gesellschaft ist.

Neue Lebenswelt und neue Werte


Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass das Angebot der Gegenwart (das abwechslungsreiche, reiche und angenehme Leben) die polnische Jugend bereits in den 1990er Jahren erfolgreich verführt hat. Beeindruckt von der Ideologie des Erfolgs, davon überzeugt, dass sie in einer Gesellschaft der vielen Möglichkeiten leben, traten die jungen Polen rasch den Beweis an, dass sie die Kinder des neuen Systems sind. Der beispiellose Anstieg der Ambitionen in Sachen Bildung und Status, die hohen Erwartungen an das Lebensniveau, Optimismus, Pragmatismus und eine aktive Lebenshaltung wurden zum Bestandteil der Mehrheit der Jugend. Auch wenn die Vorstellungen von einem geglückten Leben weit konventioneller sind als die der Jugend im Westen, sind die Bestrebungen, dass es ein wohlhabendes, buntes und interessantes Leben werde, eines der deutlichsten Charakteristika des Porträts der polnischen Jugend (s. Grafik 1).

Der einst feststellbare »Kern« der Werte der Jugend, die Konzentration auf Familie und das persönliche Glück, unterliegt heute einem Wandel. Nicht nur, dass unterschiedlichsten Aspekten der Rang, wichtige Lebensziele zu sein, eingeräumt wurde, sondern die Lebensziele selbst sind andere. Die Bedingung für persönliches Glück muss nicht mehr unbedingt eine Familie sein. Bei der Arbeit zählen ein gutes Einkommen und immer häufiger die persönliche Zufriedenheit und die Möglichkeit zur Weiterentwicklung. Geld ist nicht einfach per se wichtig, sondern deshalb, weil es ohne Geld nicht möglich wäre, die Errungenschaften der Konsumgesellschaft zu nutzen und den individuellen Lebensstil zu gestalten (s. Grafik 2).

Interessant ist, dass sich die Werte in unterschiedlichen Gruppen der jungen Generation annähern, insbesondere bei den jüngsten Jahrgängen, die nach 1989 geboren wurden. Ein wichtiger Faktor bei dieser Vereinheitlichung sind die neuen Medien, vor allem das Internet. Sie bewirken, dass sich nicht nur das Leben der Jugend verändert; sie selbst verändert sich und repräsentiert als Gemeinschaft eine neue gesellschaftliche Qualität. Polen gehört seit Jahren zu den dynamischsten Märkten im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie. Die jungen Polen gehören zu denjenigen, die weltweit am häufigsten ihre Handys benutzen. Ähnlich wie die Jugend der westlichen Länder erleben sie sehr früh ihre digitale Initiation. 12 Prozent erhielten ihr erstes Mobiltelefon bis zum zehnten Lebensjahr, 87 Prozent im Alter von 11–20 Jahren. Ähnlich verhält es sich mit den ersten Erfahrungen der Internetnutzung. Die jungen Polen sind ständig online, 87 Prozent haben die Angewohnheit, das Internet in Bussen, Straßenbahnen und Zügen zu nutzen und ihre Erzeugnisse ins Netz zu stellen. Der durchschnittliche polnische Teenager ist fast 20 Stunden wöchentlich online. Das ist zweimal länger als die Generation seiner Eltern und über dreimal so lang wie die Großelterngeneration. Unter den verschiedenen Medien, die die Jugendlichen nutzen, ist das Internet dasjenige, auf das zu verzichten ihnen am schwersten fiele (s. Grafik 3). Die polnische Jugend zeichnet dabei die große Teilnahme an sozialen Netzwerken aus. Die Nutzung solcher Portale geben 43 Prozent der jungen Internetnutzer an. Ein intensivere Nutzung weisen nur wenige europäische Länder auf (s. Grafik 4).

Die dynamische Expansion der digitalen Technologien formt eine neue Generation. Die neuen Medien, von denen sich die Jugendlichen nicht trennen, erschaffen einen Raum sozialer Kontakte von bisher nie gekannter Dichte. Niemals zuvor haben die Technologien die zeitlichen, räumlichen und sozio-kulturellen Barrieren so weitreichend ausgeschaltet. Dabei sind sie nicht nur Werkzeuge der Sozialisierung. Sie erlauben auch, das eigene Ich im Netz auszudrücken und reflexiv zu erleben. Das Netz sozialisiert, individualisiert und ist eine Oase der Freiheit. Darüber hinaus ist es ein Bereich, in dem ein neuer Typus von Kultur entsteht – die Kultur der Teilhabe. Diese wird vor allem von den Nutzern selbst geschaffen, indem sie ihre Erzeugnisse, Informationen, Kommentare usw. ins Netz stellen, woraus ein gedankliches und sprachliches Universum entsteht, das sofort in den unabhängigen gesellschaftlichen Umlauf eingeht. Dank dessen werden Situationen, die bisher gleichgültig aufgenommen worden sind und/oder nicht bekannt waren, neu bewertet und rufen eindeutige Emotionen hervor, die sich sofort verbreiten. Dieser Mechanismus birgt eine außergewöhnliche Kraft in sich: Die Jugendlichen passen sich aneinander an – insbesondere in Fragen, die sie selbst für wichtig erachten. Dabei kommt es zu einer unverhältnismäßigen Steigerung des Bedürfnisses, die eigene Einstellung mit den Leuten, die zum selben Netz gehören, zu konfrontieren, was nicht nur das Gefühl steigert, mit den anderen verbunden zu sein, sondern auch den Eindruck, dass man den gesellschaftlichen Diskussionen etwas Wertvolles beisteuern und sogar über etwas entscheiden kann. Diese neue Plattform gesellschaftlicher Präsenz junger Menschen ist eine neue Form ihres zivilgesellschaftlichen Engagements, das an die Stelle der alten Formen tritt, die ihre verbindende Kraft eingebüßt haben und dieser anderen Art der jungen Menschen, die Welt zu sehen, nicht zugänglich sind. Dabei wird suggeriert, dass das Netz nicht nur ein Ort symbolischer Verständigung ist, der die Lebensorientierungen der jungen Menschen einander angleicht. Als eine Form der gesellschaftlichen Kommunikation ist es außerdem ein »Wertegenerator«. Dabei kommt der Freiheit die größte Bedeutung zu – der persönlichen Freiheit, der Freiheit der Kommunikation, der Freiheit der Wahl.

Die Hauptursachen für Unzufriedenheit


Die Expansion des Konsumismus, dem die polnische Jugend so sehr erlegen ist, wurde nicht ebenso expansiv von der Entwicklung des Kapitals begleitet. Den Polen ist sehr schnell klar geworden, dass die überall lancierten Errungenschaften der Konsumgesellschaft nur diejenigen nutzen können, die es sich leisten können, das heißt die eine entsprechende gesellschaftliche Position und Geld haben. Dafür gibt es nur einen Schlüssel – Bildung. Diese Überzeugung lag dem Bildungsboom zugrunde. Polen wurde ein Land, in dem sich die Menschen intensiv aus- und weiterbilden, und der Bildungssektor war der erste, durch den sich die Welle des demographischen Hochs schob. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich die Anzahl der Studierenden in Polen knapp vervierfacht (s. Grafik 5). Wie hoch der Wert der Bildung in der Gesellschaft angesetzt ist, sieht man an der sozialen Zusammensetzung der Studierenden an privaten Hochschulen: Trotz hoher Studiengebühren überwiegt dort der Anteil der Jugend aus ärmeren Familien aus der Provinz.

Der Massenkonsum von höherer Bildung schlägt sich allerdings nicht in der beruflichen Karriere nieder. Das Bildungssystem hat seine Status verleihende Funktion verloren. Im Zusammenhang mit dem übermäßigen Bildungsangebot kommt es zu einer Abwertung, aber auch zu einer Neubewertung des Bildungsabschlusses. Der Wert des Abschlusses sinkt, weil der Bedarf an Hochschulabsolventen plötzlich gesättigt ist, aber gleichzeitig ist der Besitz eines Abschlusses Bedingung, den beruflichen Werdegang zu beginnen.

Eine zweite Ursache für die Unzufriedenheit junger Menschen liegt in der Beschäftigungssituation. Der Übergang von der Ausbildung ins Arbeitsleben ist ebenso wichtig wie schwierig. Von seinem Erfolg hängen nicht nur die Befreiung aus der elterlichen Kontrolle und die Erlangung finanzieller Unabhängigkeit ab, sondern auch die Verwirklichung der eigenen beruflichen oder persönlichen Ziele. Die Arbeit ist nicht nur eine Einkommensquelle, sondern auch eine wichtige Quelle für Zufriedenheit – bei der Arbeit wollen sich die jungen Menschen entwickeln. Ohne Arbeit zu bleiben, ist also ein Grund für besondere Unzufriedenheit.

Unter dem Einfluss der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise steigt gegenwärtig die Unsicherheit, einen zufriedenstellenden Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden, was der Anteil der Arbeitslosen unter jungen Menschen bestätigt. Obwohl sie immer besser ausgebildet sind, treffen vor allem sie die Folgen der wirtschaftlichen Rezession. Im Januar 2012 betrug die Arbeitslosenquote durchschnittlich 10 Prozent in Polen. Unter jungen Menschen bis zum 25. Lebensjahr war sie aber fast dreimal so hoch, nämlich 28 Prozent (berechnet nach der Methode von Eurostat). Aufgrund der rechtlichen Regelungen und der Präferenzen der Arbeitgeber können nicht einmal die jungen Menschen, die sich bereits mit einem Bein im Arbeitsmarkt befinden, mit einem stabilen Anstellungsverhältnis rechnen. Angeboten werden ihnen vorwiegend zeitlich befristete Verträge, die ähnlich wie in anderen EU-Ländern wegen erwarteter wirtschaftlicher Gewinne und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes eingeführt wurden (s. Tabelle 1). Deren schwache Seite sind die im Vergleich zu unbefristeten Verträgen rechtlichen Regelungen, die aus den Arbeitnehmern auf befristeter Vertragsbasis Arbeitskräfte zweiter Klasse machen – mit schlechteren Arbeitsbedingungen, schlechteren Entwicklungsperspektiven und einem niedrigeren Einkommen (in Polen durchschnittlich um 1.000 Zloty monatlich).

Die Einkommenssituation ist der dritte Bereich, der zu Unzufriedenheit führt, und dies umso spürbarer, als sie mit den ausdifferenzierten Konsumvorstellungen junger Menschen zusammenprallt. Berufsanfänger erhalten das niedrigste Einkommen. Obgleich in den letzten zehn Jahren eine systematische Verbesserung eingetreten ist, sind die Einkommen junger Menschen immer noch sehr niedrig (der Durchschnittswert beträgt 1.818 Zloty, der Median 1.530 Zloty) und liegen durchschnittlich im zweiten oder dritten Zehntel der Einkommen aller Arbeitnehmer. Eine relative Verbesserung der Situation tritt gewöhnlich nach sieben Jahren beruflicher Tätigkeit ein.

Der Faktor, der das Einkommen am meisten differenziert, und zwar bereits am Anfang des beruflichen Werdegangs, ist die Ausbildung – je höher diese ist, desto höher ist das Einkommen. Die »Rückerstattungsrate« der Investitionen in die Bildung ist in Polen höher als in anderen Ländern mit vergleichbarem Entwicklungsniveau. Der Magisterabschluss erzielt eine fast dreimal höhere Rückerstattung als der Bachelorabschluss (57 Prozent zu 17 Prozent), und der Doktortitel erhöht die Rückerstattung im Vergleich zum Magistertitel um weitere 19 Prozent. Der Bildungsboom bewirkte, dass das mittlere Einkommen der jungen Polen seit einigen Jahren den Durchschnitt der Gesamtgesellschaft überholt. Gleichzeitig begann sich aus denselben Gründen das Einkommen und das Lebensniveau der jungen Generation auszudifferenzieren.

Die ungünstigen und deutlich divergierenden Einkommenssituationen der jungen Menschen lösen Frustrationen bei denjenigen aus, die nur mit Mühe ihre Bedürfnisse befriedigen können. In einer Konsumgesellschaft leben die Armen und die Reichen nicht in voneinander getrennten Kulturen. Sie müssen gemeinsam in der einen Welt leben, die aber vom Interesse an denjenigen beherrscht wird, die Geld haben. Der dramatische Unterschied zwischen den Lebenslagen und den Möglichkeiten führt zu Frustrationen und relativen Benachteiligungen vieler junger Menschen, was in Verhaltensanomalien, in zunehmenden emotionalen Störungen (Depressionen, Neurosen) sowie in Aufruhr und renitentem Verhalten zum Ausdruck kommt. Im Bericht »Jugend 2011« ist diesen Aspekten ein eigenes Kapitel gewidmet.

Ein weiteres frustrierendes Problem ist für die jungen Menschen die Erlangung ihrer Selbständigkeit sowie der Unabhängigkeit von ihren Eltern. Die jungen Polen werden immer später selbständig, immer später verlassen sie ihr Elternhaus und gründen ein eigenes Zuhause. Diese Feststellung findet sich fast in allen Berichten wieder, die den Prozess des Erwachsenwerdens der heutigen Jugend beschreiben. Publizisten verbreiten die anschauliche These, dass eine Generation »Peter Pan« aufwächst – erwachsene, aber unreife Menschen, die bequem sind und sich vor Verantwortung fürchten. Das Problem ist allerdings vielschichtiger und hat primär sozial-ökonomische Gründe und nachrangig psychologische Ursachen.

Polen befindet sich unter den ersten zehn Ländern der Europäischen Union, in denen die erwachsenen Kinder sehr lang ihr Elternhaus nicht verlassen (bei Frauen 28,5 Jahre, bei Männern fast 30 Jahre). Und auch wenn Polen noch von einigen Ländern überholt wird, so gehört es doch zur Spitzengruppe der Länder, wo der Status »Nesthocker« über die Hälfte der Bevölkerung im Alter von 18–34 Jahre betrifft (20–24 Jahre – 83 Prozent; 25–29 – 58 Prozent; 30–34 Jahre – 28 Prozent). Bei den Jüngeren entscheidet darüber gewöhnlich die verlängerte Ausbildungsphase, bei den Älteren sind es materielle Gründe. Das Armutsrisiko ist bei den »Nesthockern« größer als bei den jungen Menschen insgesamt. Die Herkunftsfamilie erfüllt ihnen gegenüber die Rolle eines »Wartesaals« und eines »Stoßdämpfers«, der vor den allzu harten Folgen eines nicht geglückten oder schwierigen Eintritts in das erwachsene selbständige Leben schützt.

Die, die bereits ein eigenes Zuhause haben, haben schlichtweg andere Probleme. Die selbständige Haushaltsführung verursacht hohe Kosten und Dilemmata in Konsumfragen. Die Kluft zwischen der Einkommenssituation, in der sich junge Haushalte gegenwärtig befinden, und dem erwünschten Zustand ist groß – nach Angaben des Statistischen Hauptamts (Główny Urzą Statystyczny – GUS) beträgt sie monatlich 2.000 Zloty. Nur um wenige hundert Zloty geringer sind die Erwartungen der Familien in Polen. Diese Aufstellungen verdeutlichen nicht so sehr das Frustrationsniveau der Polen als vielmehr das Ausmaß der tatsächlich empfundenen Ambitionen und Konsumbedürfnisse, die insbesondere unter jungen Menschen groß sind. Manche dieser Bedürfnisse (die Nutzung einer Wohnung, die Tilgung von Krediten) sind unvermeidbar, andere können beschränkt werden (beispielsweise Lebensmittel), wieder andere – wie Ausgaben für Hightech-Geräte, moderne Haushaltsgeräte oder Ausgaben für die Freizeitgestaltung – werden als Zeichen für ein hohes Lebensniveau gewertet, als Quelle von Zufriedenheit oder auch als Notwendigkeit in der Welt von heute. Deren Position im Haushaltsbudget junger Menschen steigt.

Trotz der Spannungen, die zwischen dem Einkommen und den notwendigen oder angestrebten Ausgaben bestehen, beurteilen junge Menschen die materiellen Bedingungen ihrer Haushalte besser als die älteren Polen (s. Grafik 6). Am schlimmsten ist die Situation kinderreicher Familien mit nur einem (meist dem weiblichen) Elternteil, aber auch kinderreicher Familien mit beiden Elternteilen, bei denen aber nur ein Elternteil arbeitet (gewöhnlich der Mann); am besten geht es kinderlosen Ehepaaren.

Die Belastung durch Kinder und die Entscheidung, eine Familie zu gründen, bedeutet ein ernstzunehmendes Dilemma, vor allem für junge Frauen. Jahrelang hat sich das Familienleben in Polen auf die traditionelle Rolle der Frau gestützt, und das Muster der »Mutter Polin« dominierte die Vorstellung von Weiblichkeit, die untrennbar von der Bereitschaft war, sich für die Kinder und Familie aufzuopfern. Mit Beginn der Transformation veränderte sich das Partnerschaftsmodell, in dem die Frau einer Doppelbelastung ausgesetzt ist, in Richtung moderne Familie, das sich auf die Idee der Partnerschaft und gemeinsamen Verantwortung stützt, doch das Tempo dieser Veränderung ist nicht groß (s. Grafik 7). Untersuchungen zeigen eine steigende Belastung von Frauen durch Haushaltspflichten, sinkende Beschäftigungszahlen und einen drastischen Geburtenrückgang. Dies schlägt sich in den Haushaltsbudgets der Familien und den Entwicklungsbedingungen für die Kinder nieder, in den Beziehungen in der Familie und der Präsenz der Frauen im öffentlichen Leben.

Frauen sind im Durchschnitt besser ausgebildet als Männer (unter 1,9 Mio. Studierenden sind über 1,1 Mio. Frauen) und die von ihnen getätigten Bildungsinvestitionen verändern nicht nur ihren beruflichen Werdegang und die Bedeutung der Arbeit in ihrem Leben, sondern beeinflussen auch Entscheidungen über ihr persönliches und familiäres Leben. Die Dilemmata der Frauen verstärken sich unter dem Einfluss der Muster, die die Moderne mit sich bringt – Individualismus und das Bedürfnis nach Autonomie werden für sie immer wichtiger. Entmutigend ist die fehlende institutionelle Unterstützung, der schwierige Zugang zu Kinderkrippen- oder Vorschulplätzen, unflexible Arbeitszeiten oder Diskriminierungen seitens der Arbeitgeber gegenüber Frauen. Plätze in Kinderkrippen nehmen nicht ganze 4 Prozent der polnischen Kinder in Anspruch, der Durchschnittswert der EU beträgt 26 Prozent. In die Vorschule geht weniger als die Hälfte der Vierjährigen. Die Hauptlast für die Kinderbetreuung tragen also die Frauen – die Mütter oder die familiären Netzwerke. Der Anteil derjenigen Arbeitnehmer, die die Möglichkeit haben, flexible Arbeitszeiten wahrzunehmen, liegt in Polen bei 22 Prozent, in Schweden bei 65 Prozent und in Frankreich und Großbritannien bei 60 Prozent (nach OECD »Family Database 2010«).

Alle diese Tendenzen kennzeichnen die Situation eines tiefgreifenden Konflikts zwischen den persönlichen, familiären und beruflichen Rollen, was eine sinkende Kinderzahl nach sich zieht (1,39 gegenüber subjektiv gewünschten 2,45 Kindern) und eine niedrige Beschäftigtenquote (80 Prozent derjenigen, die einen Hochschulabschluss haben, und nur 18–30 Prozent mit weniger als mittlerem Ausbildungsniveau). Im Kontext der makroökonomischen und demographischen Herausforderungen wird die gleichzeitige Gewinnung der Frau für den Arbeitsmarkt und die Erhöhung der Kinderzahl zu einer der wichtigsten Aufgaben der Sozialpolitik und ist ein reales gesellschaftliches Problem, ein weiteres, das auf Lösung wartet, das Leben erschwert und die jungen Menschen frustriert.

Was bringt die Zukunft?


Die meiste Zeit ihres bisherigen Lebens haben die jungen Polen versucht, mit den Herausforderungen selbständig zurechtzukommen, die die Transformationsprozesse und die Öffnung Polens zur Welt mit sich brachten. Die von ihnen angewandte Methode des Selfmademan bewährte sich in vielen Bereichen, im Grunde immer dort, wo nicht das Erwachsensein gefragt war, sondern wo noch Zeit zum Experimentieren war und es noch Zeit hatte, reife Verpflichtungen fürs Leben einzugehen. Das demographische Hoch und die strukturellen Beschränkungen des Systems zeigen allerdings die Schwächen dieser Strategie, vor allem ihre geringe Wirksamkeit bei der Bewältigung von Problemen, die mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter einhergehen.

Noch mehr Ängste bringt die Perspektive einer globalen Krise mit sich. Nach einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 2011 wird eine besonders schwierige Situation in den entwickelten Länder eintreten, wo der gut ausgebildete Arbeitslose immer höhere Forderungen stellt und die Krise das Risiko erhöht, dass er eine Arbeit aufnehmen muss, die nicht zu seinen Fähigkeiten oder seinem gewünschten beruflichen Werdegang passt. Die Jugend, die darauf vorbereitet worden ist, die Wirtschaft zu entwickeln, kann dazu verurteilt werden, um das eigene Überleben zu kämpfen. Wenn sie das Gefühl hat, geringere Möglichkeiten zu haben als die vorangegangenen Generationen, könnte sie zu der Überzeugung gelangen, dass die Chancen auf eine bessere Zukunft nicht von ihr selbst vergeudet worden sind, sondern durch von ihr unabhängige Kräfte. Unter diesen Bedingungen werden Ressentiments und Sorgen der Jugend zu einer realen Gefahr.

Dies bezieht sich auch auf Polen. Die sich hinziehende Stagnation, die ein Signal für schlechte Zukunftsperspektiven ist, verstärkt die Unzufriedenheit unter den jungen Menschen. Um ihr Ausdruck zu geben, kann sich jeder Vorwand als geeignet erweisen – insbesondere Situationen, die die eigenen Werte und Lebensziele der jungen Menschen angreifen. Als Beispiel lassen sich die Proteste der jungen Polen gegen ACTA anführen, die viel mehr bedeuten als die Ablehnung restriktiver Vorschriften, die sich auf die Rezeption kultureller Inhalte beziehen. Sie signalisieren die Verbundenheit der Jugend mit der Freiheit, die für sie ein heiliger Wert ist, und mit deliberativen Prozeduren, denen sie mehr Vertrauen schenkt als den konventionellen demokratischen Formen.

Bedeutet dies, dass sich die jungen Polen kritisch auf das neue System beziehen? Keineswegs. Die große Mehrheit (83 Prozent) ist der Meinung, dass es richtig war, 1989 das System zu verändern, wobei seit 2008 deutlich häufiger darüber Zufriedenheit geäußert wird, dass es in Polen zu den Veränderungen kam. Trotzdem zeigen Untersuchungen eine wachsende kritische Haltung sowohl gegenüber dem Zustand der polnischen Demokratie (positiv bewerten sie 22 Prozent der Jugendlichen, s. Grafik 8) als auch anderen Entwicklungen in dem neuen System.

Obwohl ein systematischer Rückgang der Attraktivität des Sozialismus (bis auf 4 Prozent) und ein deutlicher Anstieg der Befürwortung des Kapitalismus (auf 52,1 Prozent) zu verzeichnen ist, lässt sich gleichzeitig eine Rückkehr der Präferenzen für hybride Lösungen feststellen, in denen sich die Grenzen zwischen Etatismus und Marktwirtschaft überschneiden (s. Grafik 9).

Es steigt die Zahl der Anhänger eines staatlichen Interventionismus und wachsen die Erwartungen gegenüber der Regierung, nicht nur was den Bereich der Preiskontrolle, der Bestimmung der Einkommenshöhe und Einkommensspanne, die Schaffung von Arbeitsplätzen oder die Unterstützung bankrotter Betriebe betrifft, sondern auch was den Entzug von Privilegien für die katholische Kirche oder andere Gruppen, die sich am staatlichen Herd wärmen wollen, angeht. Weder die einen noch die anderen sollten als Kennzeichen für die Ansprüche der jungen Generation gewertet werden. Einerseits steht dies für die wachsende Ratlosigkeit der Jugend angesichts der globalen Situation und Risiken, auf die sie keinen Einfluss hat, andererseits für die zunehmende zivilgesellschaftliche Reife, deren Konzept einer gut funktionierenden Gesellschaft keine Privilegien vorsieht.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Zum Bericht »Młodzi 2011« (»Jugend 2011«) Kancelaria Prezesa Rady Ministrów (Hg.): Młodzi 2011. Warszawa 2011.

Fussnoten

Prof. Dr. hab. Krystyna Szafraniec ist Professorin am Institut für Soziologie der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn (Uniwersytet Miko³aja Kopernika, Toruñ) und Leiterin des Lehrstuhls für Bildungs- und Jugendsoziologie. Sie ist Autorin des Berichts »Młodzi 2011« (»Jugend 2011«), herausgegeben von der Kanzlei des Ministerpräsidenten (Kancelaria Prezesa Rady Ministrów), Warszawa 2011.