Ereignis
Angehörige der Armee der Republika Srpska holten am 27. Februar 1993 auf dem Bahnhof in Štrpci 20 Reisende nichtserbischer Nationalität aus dem Zug Nr. 671 heraus, der auf der Strecke Beograd-Bar verkehrte, und töteten sie (18 Muslime, einen Kroaten, der sich als Jugoslawe definierte, und einen Fahrgast mit nicht festgestellter Identität).
Als der Zug auf dem Bahnhof von Štrpci hielt, zerrte die paramilitärische Einheit „Die Rächenden“, angeführt von Milan Lukić, diese Fahrgäste aus dem Zug und brachte sie von dort in eine Grundschule in Prelovo bei Višegrad. Dort mussten sie sich ausziehen und Geld, Goldketten und -ringe sowie alles, was sie bei sich hatten, abgeben. Sie wurden gefoltert, mit Draht gefesselt und in ein verlassenes Haus im Dorf Mušići gebracht, wo sie von Milan Lukić und Boban Inđić durch Genickschuss getötet wurden. Nebojša Ranisavljević hielt Wache und verwundete einen der Gefangenen, der zu fliehen versuchte und der schließlich von Milan Lukić erstochen wurde.
An diesem Tag wurden getötet: Esad Kapetanović, Ilijaz Ličin, Fehim Bakija, Šećo Softić, Rifat Husović, Halil Zupčević, Senad Ðečević, Jusuf Rastoder, Ismet Babačić, Tomo Buzov, Adem Alomerović, Muhedin Hanić, Safet Preljević, Džafer Topuzović, Rasim Ćorić, Fikret Memović, Fevzija Zeković, Nijazim Kajević, Zvjezdan Zuličić und eine unbekannte Person.
Die Leichen der Getöteten wurden in die Drina geworfen, doch bis heute wurden nur vier Leichen gefunden, im Perućac-See. Das jüngste Opfer war Senad Ðečević, ein Schüler aus Bar, der 16 Jahre alt war. Der getötete Kroate, der sich als Jugoslawe ausgab, war Tomo Buzov; er war der einzige Mitreisende, der sich der Entführung von Zivilisten widersetzt hatte, während die restlichen ca. 500 Passagiere schwiegen. Als er sah, dass die Soldaten einen etwa 17-jährigen Jugendlichen aus dem Zug zerrten, zog er ihn in sein Abteil, erhob sich und rief laut:
Diese Frage führte ihn in den Tod.
Der Gerichtssenat des Haager Tribunals verurteilte Milan Lukić zu lebenslanger Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht aber wegen der Entführung in Štrpci. Die Staatsanwaltschaft von Bosnien-Herzegowina hat die Anklageschrift gegen Milan Lukić für dieses Verbrechen 2019 erhoben. Die Gerichtsverhandlung vor dem Oberlandesgericht in Belgrad zur Entführung in Štrpci (die 25 Jahre nach dem Verbrechen aufgenommen wurde) dauert noch immer an. Die Angeklagten Gojko Lukić, Jovan Lipovac, Duško Vasiljević und Dragana Ðekić wurden 2023 zu insgesamt 35 Jahren Haft verurteilt, also zur Hälfte dessen, was der Staatsanwalt verlangt hatte, aber das Berufungsgericht eröffnete das Verfahren erneut. Nebojša Ranisavljević, ehemaliger Soldat der Armee der Republika Srpska, wurde 2004 rechtskräftig zu 15 Jahren Haft verurteilt und hat die Strafe abgesessen.
Biografie
Tomo Buzov ist der Held der Entführung in Štrpci und gleichzeitig ein Opfer derselben. Geboren wurde er 1940, während des Zweiten Weltkrieges, in Kaštel Novi bei Split. Er wuchs als Halbwaise auf, da sein Vater von den Ustascha ermordet worden war, weil Buzovs Großvater, ein Kroate, sich geweigert hatte, mit ihnen mitzugehen.
Buzov besuchte die Grundschule im Dorf Otok nahe Vinkovci und das Militärgymnasium in Kraljevo. Während seiner beruflichen Karriere bei der JNA (Jugoslawischen Volksarmee) diente er in Bar, Pančevo, Batajnica und schließlich in Belgrad, wo er als Offizier der JNA pensioniert wurde. Seiner Nationalität nach war er Kroate, definierte sich aber als Jugoslawe.
An diesem 27. Februar 1993 um 10 Uhr vormittags bestieg er den Zug Nr. 671 am Bahnsteig 4 des Hauptbahnhofs von Belgrad, um seinen Sohn zu besuchen, der seinen Militärdienst in Titograd (heute Podgorica) leistete. Als der Zug in Štrpci angehalten wurde und er die Entführung der Zivilisten laut anprangerte, wurde er herausgezerrt und sofort hinter dem Bahnhofsgebäude in Štrpci getötet – Milan Lakić erstach ihn und warf ihn danach in den Lastwagen zu den anderen Entführten.
Der Mord an Tomo Buzov wurde jahrelang verschwiegen, weil Buzov in kein nationalistisches Narrativ passte – für die Kroaten war er ein Jugoslawe, der als JNA-Offizier in Belgrad lebte, für die Serben ein Armeeangehöriger der JNA, dazu ein Kroate, der sich serbischen paramilitärischen Einheiten widersetzt hatte, und in Bosnien war er nicht wichtig, weil er kein Muslim war.
Erinnerungsspüren
Das erste Gedenken an seine Person fand in Kaštel Novi statt, wo 2015 eine Pontonbrücke eine Gedenktafel mit dem Namen Tomo Buzov erhielt.
Am Wohnhaus in der Milutin-Milanković-Straße 42 in Novi Beograd, in dem Buzov gewohnt hatte, wurde 2016 eine Gedenktafel angebracht; darauf stand: „Als Zeichen der Erinnerung an die Menschlichkeit und den Mut eines Mannes, der an dieser Adresse gewohnt hat“. Die Tafel wurde später abgenommen oder gestohlen, und im April 2023 wieder angebracht.
In Prijepolje (2009) und Bijelo Polje (2016) wurden Denkmäler für die Opfer der Entführung in Štrpci errichtet. Die Familie von Buzov lehnte es ab, dass eine Straße in Belgrad nach ihm benannt wird. Der Regisseur Nebojša Slijepčević drehte einen Film über Buzov „Der Mann, der nicht schweigen wollte“. Der Film erhielt 2024 in Cannes die Goldene Palme für den besten Kurzfilm.
Quellen
QuellentextAus dem Interview mit Darko Buzov, Sohn von Tomo Buzov
„… mein Vater hielt sich nicht für einen Kroaten. Er war, wie gesagt, ein Jugoslawe, ein Offizier der JNA. Nach der Entführung in Štrpci haben uns verschiedene NGOs jahrelang bedrängt, sie wollten, dass wir auf der These bestehen, die Serben hätten meinen Vater getötet, weil er Kroate war. Die Wahrheit ist jedoch, dass mein Vater Jugoslawe war. Das ist unser Land. Wir wollten diesen Krieg nicht. Niemals habe ich mich nach Rache gesehnt. Die Rache ist niemals süß, sie zieht dich immer in etwas noch Düstereres. Ich habe auch keinen Hass gespürt. Die Art und der Grund, aus dem mein Vater sein Leben lassen musste, führt zu einer Art Ruhe, dass das eben irgendwie passieren musste, damit ein jüngeres Leben gerettet wird, musste ein älteres durch seinen eigenen Willen geopfert werden. Ich würde heute das Gleiche tun.“
© Nikolić Đaković, Tanja: Ispovest Darka Buzova: Moj otac je ubijen jer nije hteo da ćuti, in: NIN, 05.06.2024, Externer Link: https://www.nin.rs/drustvo/vesti/50691/ispovest-darka-buzova-za-nin-moj-otac-je-ubijen-jer-nije-hteo-da-cuti (abgerufen am 12.10.2024).
QuellentextAus dem Text von Boris Dežulović
„An Tomislav Buzov erinnert sich jedoch niemand. Er fehlt in den Gebeten für die getöteten Muslime denn er war der einzige Nicht-Muslim unter den Fahrgästen, die an jenem Samstag aus dem Zug in Štrpci gezerrt worden waren. Er war Kroate, einer aus Kaštel Novi, er wurde von Tschetniks getötet, aber weder Kroatien noch sein Kaštel Novi erinnern sich an ihn, weil er in Belgrad lebte und Offizier der JNA war. Weder Belgrad noch Serbien erinnern sich an ihn, obwohl er Offizier war und zu seinem Sohn fuhr, der bei der serbischen Armee diente, sie erinnern sich nicht an ihn, weil er Kroate war und weil er sich einem serbischen Soldaten widersetzt hat. Nicht einmal die Mitreisenden aus dem Zug Nr. 671 erinnern sich an ihn, weil sie Angst hatten und zu Boden schauten. Kein Überlebender erinnert sich an ihn, weil er niemanden gerettet hat. Auch jener Band aus der Enzyklopädie der Toten unter dem Buchstaben N.N. erinnert sich nicht an ihn, denn er hatte einen Vor- und Familiennamen, man kennt den Namen seiner Mutter und den seines Mörders. Auch zufällige Spaziergänger werden sich nicht an ihn erinnern, weil er weder ein Grab noch ein Denkmal hat. Schließlich werden sich auch die Chroniken sinnloser Tode nicht an ihn erinnern, denn davon gibt es zu viele, und jeder solchen Tod gehört jemandem, und jedes Gedächtnis ist besetzt. Tomislav Buzov aus Kaštel Novi gehört ganz einfach zu niemandes Gedächtnis.“
© Dežulović, Boris: Priča o Tomislavu Buzovu, in: buka, 27.05.2024, Externer Link: https://6yka.com/kolumne/boris-dezulovic-prica-o-tomislavu-buzovu/ (abgerufen am 25.08.2024).