Was man auch in den Notrucksack packt, Platz ist ohnehin nur für das Nötigste: ein Paar Strümpfe, zwei Wechsel-T-Shirts, eine Hose oder so. Wenn’s hoch kommt. Niemand nimmt Abendkleider, Absatzschuhe oder Schmuck mit. Oder angefangene und zur Seite gelegte Bücher, ins Herz geschlossene Kunstwerke, Vinylplatten, die er auf Flohmärkten erstanden oder bei einem Indie-Musiker geordert hat. In Gepäckstücken wie diesen ist kein Platz für Lieblingsteller oder -tassen, in die man den Morgenkaffee gießt und aus denen er am besten schmeckt. Der Krieg ändert die Einstellung zu materiellen Dingen: Sie verlieren einerseits ihren Wert und bekommen andererseits eine große symbolische Bedeutung. Wenn etwa ein Kind einen Teelöffel nicht hergeben will, weil es ihn von der Großmutter geschenkt bekommen hat, oder wenn jemand statt der Hausapotheke einen alten löchrigen Pullover einpackt, weil er sich darin sicher und behaglich fühlt. In keinem Rucksack ist Platz für alle Dinge. Ihr Platz ist jetzt in der Erinnerung. Die Erinnerung war in der ukrainischen Kunst über lange Zeit ein zentrales Thema – Künstlerinnen und Künstler reflektierten über traumatische Erfahrungen, recherchierten in Archiven und arbeiteten mit fremden Erinnerungen. In der jetzigen Zeit läuft keiner über kalte Bibliotheksflure – kalte Luftschutzbunker, kalte feuchte Keller haben sie ersetzt. Statt der fremden Erinnerung plagt die eigene. Wenn jemand von seinen Träumen unter Alarm spricht, versteht ihn jeder, denn diese abgerissenen und kurzen Träume in Luftalarmpausen sind mittlerweile zu einer kollektiven Erfahrung geworden. Zu meinen ukrainischen Lieblingsfilmen gehört „Ich und Mariopol“, den Petro Armjanowskyj 2017 gedreht hat. Die Stadt erlebte 2014 den Einfall prorussischer Sympathisanten, die separatistische Bestrebungen propagierten, und widerstand. Die tragischen, noch ganz frischen Erinnerungen wurden verstärkt von der permanenten Bedrohung, die vom Grenzland und der Nähe der Kampfhandlungen ausging, wurden sichtbar in den Fassaden mehrerer ausgebrannter Gebäude, darunter auch der Stadtverwaltung. Armjanowskyj fängt diese Unruhe ein, er spricht mit Menschen, fragt nach ihren Träumen, denn nur das gibt Halt und lässt einen vorwärts gehen. Sein Videoessay ist außerdem eine Erinnerung an seine Kindheit, als er zum ersten Mal nach Mariupol kam. Eine Beziehung zu einer Stadt entwickelt sich meist dann, wenn man mit ihr eigene Erlebnisse und Gefühle verbindet. Die Größe einer Stadt erschließt sich, wenn man die Straßen durchstreift, die Häuser und Plätze betrachtet, die verborgenen Winkel entdeckt hat. Die Stadt erschließt sich durch den salzigen Geruch vom Meer, das Brennen auf der Haut von der dörrenden Sommersonne. So langt die Stadt am Körper an und dringt durch die Haut ins Gedächtnis, wo sie sich für lange Zeit einnistet. Die naive kindliche Phantasie, der Traum vom Frieden, der Glaube an die Gerechtigkeit, die plötzlich eintritt – all das überlagert sich und formt sich im Film zu einer Poesie der eingefangenen dramatischen Wirklichkeit. Diese Poesie ist heute verschwunden. Und auch die „Wirklichkeit der Existenz in einer unglaublichen Nähe zum Krieg“ ist Erinnerung. Der Krieg ist inzwischen in den Körper eingewachsen – in den Körper der Stadt genauso wie in die Körper der Bewohnerinnen und Bewohner. Wo sind die Protagonisten jetzt? Haben sie überlebt? Wovon träumen sie, wenn sie sich vor den russischen Luftangriffen verstecken, wenn es ihnen überhaupt gelungen ist, sich in Sicherheit zu bringen? Heute ist Mariupol in Kyjiw, Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Wien, Krakau, Poznan, Rom, überall dort, wo verschiedene Ichs sind. Überall dort, wo man sich so an die Stadt erinnern kann, wie sie für die Menschen war. Die Erinnerung hat jetzt einen großen Stellenwert. Und so lange diese Erinnerung existiert, gibt es eine Chance, in die eigene Stadt zurückzukehren, mit all dem, was uns dort nahe ist. Egal was wir in unseren Notrucksack stecken, für die Erinnerung ist auf jeden Fall Platz.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Kateryna Iakovlenko wurde in Luhansk geboren und lebt mittlerweile in Kyjiw. Sie studierte Journalismus und soziale Kommunikation der Nationalen Universität in Donetsk. Die Kunstkritikerin und -expertin sowie Journalistin arbeitet viel mit visueller Kunst. An der Franko Universität in Lviv forschte sie über die Transformation des heldenhaften Narratives der Donbas Region in den Medien. Ihre momentanen Forschungen haben die Kunst in einer Zeit des politischen Wandels und Krieges sowie die Optik von Gender und Frauen in der visuellen Kunst im Fokus.