Zu Kriegsbeginn, in den ersten Märztagen, suchten mehr als einhundert Menschen Zuflucht in unserer kleinen Wochenendsiedlung in der Nähe von Kyjiw. Auf sieben Straßen kamen 99 Erwachsene und 34 Kinder. Auch einige schwangere Frauen waren dabei. Schwierige Umstände. Am schlimmsten war, dass wir plötzlich von russischen Streitkräften umzingelt waren. Über die Warschawska- und Schytomyrska-Schnellstraße, die nach Kyjiw führen, rollten ununterbrochen russische Militärfahrzeuge. Unsere Leute zerstörten sie, aber ständig kamen neue nach. Nach Westen, von Kyjiw weg, konnten wir auch nicht, weil die russländischen Streitkräfte alle Straßen abgeriegelt hatten. Gleich in den ersten Kriegstagen brachen das Internet und die Funkverbindung zusammen, denn die Funkmasten, die uns vor dem Krieg versorgt hatten, wurden zerstört oder hatten keinen Strom mehr. Aber die Siedler hatten schnell herausgefunden, dass es morgens und abends im Wald oder auf der Straße an den Häusern, mal an der einen, mal an der anderen Stelle für ein paar Minuten schwaches Netz gab. Wenn man Glück hatte, konnte man mit jemandem in Kyjiw oder in einer anderen ukrainischen Stadt sprechen. Und erfahren, was es Neues gab! Ich werde mich eine Leben lang an die kleinen Waldlichtungen erinnern, die von dutzenden, ja, manchmal hunderten Leuten gleichzeitig gestürmt wurden, wenn „die Welle kam“. Alle versuchten, da draußen, in Kyjw, in der Ukraine, jenseits der Besatzungszone jemanden zu erreichen. „Ich liebe dich! Ich liebe dich“, schrie einer rechterhand. „Ich verstehe nicht, warum du uns hier nicht rausholen kannst! Versehe ich nicht!“, schrie eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm und Tränen der Verzweiflung in den Augen. „Haben wir Kyjiw noch?“, schrie ich mich heiser, aber am anderen Ende kam nichts an. „Haben wir Kyjiw?“ Das, wenigstens das musste ich wissen. Aber ich hörte nicht, was meine Gesprächspartner sagte. „Wir haben Kyjiw“, sagte eine ältere Frau zu mir und fasste mich vorsichtig am Arm. „Das haben mir meine Verwandten gerade gesagt.“ Kyjiw hält sich, und deswegen halten auch wir uns irgendwie …
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Volodymyr Rafeenko Als Mitglied des „Ukrainian Center of International PEN Club“ veröffentlichte der Autor, Dichter, Literatur- und Filmkritiker und Lektor bereits etliche Romane und Essays, die schon für vielfältige Preise ausgezeichnet worden sind. Volodymyr Rafeenko wurde 1969 in Donetsk geboren. Bis 2014 veröffentlichte Rafeenko hauptsächlich noch auf Russisch und wurde als repräsentativ für die russischsprachige Literatur angesehen. Nach seinem Umzug 2014 nach Kyjiv schreibt er mittlerweile auf Ukrainisch und steht repräsentativ für die gesamte ukrainische Literatur. 2019 erschien Rafeenkos erster Roman auf Ukrainisch.