„Was können wir aus dem Krieg wirklich lernen?“ Dass es die Besonderen nicht gibt. Jeder Versuch, dem Krieg auch nur irgendeinen Sinn zuzuweisen, scheitert am ersten Leichenberg. Den gibt es in jedem Krieg, und immer sieht er anders aus. Meiner zum Beispiel lag in Butscha. Als wir dort hin kamen, musste ich an Oberst Kurz‘ Monolog aus dem Film „Apokalypse now“ denken. An den Teil, wo er sagt: „Man muss sich das Grauen zum Freund machen.“ Kurz darauf weiß alle Welt von Butscha, und in den sozialen Netzwerken kursieren erschütternde Clips mit weißen Seelen von Getöteten. Unbekümmert befördert die Computergrafik gleichermaßen ermordete Kinder und ihre Schlächter in den Himmel. Nur dass sie in der Ukraine von ihren Müttern begleitet werden und in Russland das „heilige russische Heer“ dazu gezeichnet wird, das in den ukrainischen Städten „fürs Vaterland“ sein Leben lässt. Die Wirklichkeit liegt indessen still in Butscha oder lag zumindest dort, als ich vor Ort war. Zwischen Kiefern und beschaulichen Villen (im Übrigen unversehrt, nur geplündert) lag ein Haufen verbrannter Leichen, ein zerfetztes Kind darunter. Ein Stück entfernt ein verkohltes Bein, das streunende Hunde abgenagt hatten. Sie hatten die menschlichen Überreste gefressen und warteten an den Eigenheimen auf ihre Besitzer, die sie verlassen hatten. Viele von ihnen lagen ganz in der Nähe, hinter den Zäunen, die sie von ihren vierbeinigen Freunden trennten. Mit Einschüssen an den Schläfen. Unsere Fotos sind von den Medien in Europa nicht gezeigt worden – all das findet lediglich Eingang in die Statistik und in unsere Träume. Für ganze zwei Tage, weil die Psyche die Gräuel nicht gleich verarbeiten kann. „Man muss sich das Grauen zum Freund machen“, hatte Kurtz gesagt. Die Besonderen also. Jene, die überlebt haben und auf die Reste schauen wie in einen Spiegel. Weder der zahllose Tod noch das eigene Überleben lassen sich mit einem göttlichen Willen erklären, der „Erwählte“ ausliest wie eine biblische Geschichte. Wenn du die verkohlten Reste siehst, wird dir der ganze Irrsinn klar. Wie bei Kafka. „Wie ein Hund“, ist das letzte, was der Protagonist vor seiner Hinrichtung denkt. In der Ukraine haben viele Menschen nicht einmal mehr das denken können.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Stanislaw Wolodomyrowytsch Assejew publizierte unter dem Pseudonym Stanislaw Wasin im Verlaufe des Krieges 2015 bis 2017 Berichte für ukrainische Medien aus seiner Heimatstadt Donetsk. Der 1989 in Donetsk geborene Schriftsteller und Journalist befand sich von 2017 bis 2019 in Gefangenschaft der international nicht anerkannten separatistischen „Volksrepublik Donetsk“ für „Spionage“. Sein Report „Heller Weg – Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019“ erschien Anfang diesen Jahres auch auf Deutsch.