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"Wir müssen sprechen, Zeugnis ablegen." | Das gesamte Bild - Ukraine | bpb.de

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Borys Chersonskyj

"Wir müssen sprechen, Zeugnis ablegen."

Borys Chersonskyj

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Ukrainische Flüchtlinge passieren am 23.3. den Grenzübergang ins polnische Medyka. Mehr als 3,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben nach Angaben des UNHCR bislang ihr Land verlassen und sind in die europäischen Nachbarstaaten geflüchtet. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Sergei Grits)

Ukrainische Flüchtlinge passieren am 23.3. den Grenzübergang ins polnische Medyka. Mehrere Monate habe ich verfolgt, wie die Russländische Föderation Truppen entlang der ukrainischen Grenze aufmarschieren lässt, und mir war klar, dass das einen Grund haben musste. Es würde auf einen Angriff hinauslaufen.

Wenn ich ab und zu meine Vermutungen kundtat, musste mir von allen Seiten anhören, das sei Unfug. Niemand wird Sie überfallen. Da sind Manöver, sonst nichts. Das Lächeln auf den Gesichtern bedeutete mir: Du bist übergeschnappt, du drehst durch, eine fixe Idee. Irgendwann kursierten in den Medien Aufmarschpläne. Das nächste sarkastische Grinsen – wer würde schon Geheimdienstinformationen durchstechen? Und woher stammten die Informationen überhaupt? Alles Unsinn, Fake. Dass du darauf reinfällst.

Ich bin eigentlich nicht schlecht im Analysieren. Aber der Druck ist nicht ohne Wirkung geblieben. Die Vorahnung des heraufziehenden Kriegs hat sich von Gesprächen und Warnungen in die Poesie verlagert. Zwei Wochen vor dem Einmarsch habe ich ein Gedicht geschrieben: Vielleicht sind das die letzten friedlichen Tage.

Aber wer braucht in unseren Tagen schon Gedichte? Wer liest sie? Erzählen Sie Ihren Freunden besser nichts von Ihren Publikationen. Das interessiert keinen. Irgendwann ist das Unvermeidliche eingetreten.

Und dann hieß es plötzlich von allen Seiten: Sie müssen fliehen! Gehen Sie so schnell wie möglich weg! Ihre proukrainische Position ist bekannt. Auch dem FSB. Haben Ihnen die Detonationen 2015 denn nicht gereicht?

Die Sirenen heulten. Fliegeralarm Der Großangriff hatte begonnen. Aus Polen, Deutschland und Kanada meldeten sich Freunde, mit denen wir telefoniert hatten. Ich bekam paradoxe Ratschläge: Geht nach Russland oder Transnistrien. Da habt ihr nichts auszustehen. Ein russischer Soldat vergreift sich nicht an einem Kind. Und ob, und außerdem sind wir keine Kinder. Was tun? Ich bekam ein Residenzstipendium in Umbrien angeboten. Also zogen wir los. Die Literatur ist ja nun mal meine Waffe in diesem Kampf.

Ohne große Reisevorbereitungen zu treffen, machten wir uns auf den Weg. Flüchtlinge war für uns nicht die passende Bezeichnung, schließlich traten wir eine Residenz an. Wer wir sind, fragten wir uns trotzdem. Warum hatten wir nicht wenigstens ein paar Hemden eingepackt? Warum unsere Bücher nicht mitgenommen? Und nicht an das italienische Buch gedacht? Also doch. Wir sind zwei der Millionen Flüchtlinge …

Die erste Etappe bis zum Grenzübertritt in Moldawien ist unerträglich. Stundenlanges Warten in kilometerlangen Schlangen am Zoll. Dann endlich eine richtige Entscheidung: Die Fußgänger werden von den Autofahrern getrennt und in kleinen Gruppen mit Shuttlebussen zur Grenze gebracht. Dann beginnt die lange Reise nach Rumänien. Mit uns eine junge Frau mit einem zweijährigen Kind. Das Kind weint und ist unruhig. Sie versucht, es in den Schlaf zu wiegen, es brüllt. Die Mutter küsst das Kind und entschuldigt sich, dass sie mit ihm von zu Hause weggeht und praktisch ins Blaue fährt – sie hat eine Freundin in Mailand, aber wie soll sie sie finden? Wird sie die ungebetenen Gäste überhaupt aufnehmen? Sie erzählt, dass das Kind Angst hatte, auf die Straße zu gehen, und auf die Frage, wovor, habe es knapp geantwortet: "Bum!". Richtig, die Kuh macht "Muh", der Hund "Wau" und die Bombe "Bum".

Die Besatzer werden sich nicht nur für die Getöteten und Verwundeten, sondern auch für die Kinder, die sie in Schrecken versetzt haben. Und die Erwachsenen, die vor Angst von einem Moment zum anderen zu displaced people, zu Obdachlosen geworden sind. Wir schämten uns. Wir waren doch beruflich unterwegs, hatten eine Einladung, wurden erwartet … Das beschämte uns noch mehr. Wir müssen schreiben. Wir müssen sprechen, Zeugnis ablegen. Das ist unsere einzige Legitimation und Bestimmung. Aber können unsere Worte mit Dokumentaraufnahmen mithalten? Ich weiß es nicht.

Aus dem Russischen von Claudia Dathe

Borys Chersonskyj *1950 in Tscherniwtsi. Studierte Medizin in Odessa. Die ersten Gedichte schrieb er in seiner Jugend. Daneben übersetzt er aus dem Englischen, Ukrainischen, Weißrussischen und Georgischen. In der ehemaligen Sowjetunion konnten seine Werke nicht erscheinen, seither veröffentlichte er zwanzig Gedichtbände und zahlreiche Übersetzungen. Träger verschiedener Literaturpreise, darunter des Josif-Brodski-Preises, des Sonderpreises im Wettbewerb "Moskowski Stschet", des Antologija-Preises und des österreichischen Literaris-Preises. In Übersetzung erschienen seine Gedichte außerdem in den Niederlanden, Deutschland und Italien.

Fussnoten

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geboren 1950 in Tscherniwtsi. Studierte Medizin in Odessa. Die ersten Gedichte schrieb er in seiner Jugend. Daneben übersetzt er aus dem Englischen, Ukrainischen, Weißrussischen und Georgischen. In der ehemaligen Sowjetunion konnten seine Werke nicht erscheinen, seither veröffentlichte er zwanzig Gedichtbände und zahlreiche Übersetzungen. Träger verschiedener Literaturpreise, darunter des Josif-Brodski-Preises, des Sonderpreises im Wettbewerb "Moskowski Stschet", des Antologija-Preises und des österreichischen Literaris-Preises. In Übersetzung erschienen seine Gedichte außerdem in den Niederlanden, Deutschland und Italien.