Knapp davongekommen?
Die XII. Präsidentschaftswahlen der V. Republik
Stefan Seidendorf
/ 8 Minuten zu lesen
Link kopieren
Mit 58,55 % der gültigen Stimmen wurde Emmanuel Macron im Präsidentenamt bestätigt, jedoch gaben rund 28 % der Wahlberechtigten keine Stimme ab. Wie steht es um das politische System in Frankreich?
Am 24. April 2022 konnte Emmanuel Macron die zweite Runde der Präsidentschaftswahl für sich entscheiden. Mit 58,55 % der abgegebenen gültigen Stimmen setzte sich der Amtsinhaber deutlich gegen seine Herausforderin Marine Le Pen (41,45 %) durch, die für den rechtspopulistischen Rassemblement national angetreten war. Der klare Sieg Macrons fällt jedoch weniger deutlich aus, wenn man die 8,66 % abgegebenen ungültigen und „weißen“ Stimmzettel in Betracht zieht, sowie insbesondere die im Rahmen von französischen Präsidentschaftswahlen ungewöhnlich hohe Enthaltung von 28,01 % berücksichtigt. Demnach wurde Macron nur von einer relativen Mehrheit von rund 38,50 % der auf den Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten gewählt. Dennoch kann Macron mit diesem Sieg seine zweite Amtszeit antreten.
Der Wahlkampf 2022 unterschied sich in einigen Punkten von den früheren Wahlkampagnen der V. Republik. Einerseits war er durch eine große Anzahl zur Wahl zugelassener Kandidaturen gekennzeichnet. Nur 2002 gab es, mit 16 Bewerberinnen und Bewerbern um das höchste Amt, eine größere Auswahl für die Wählerinnen und Wähler. Wie schon damals, ermöglichte die große Anzahl an Kandidaturen auch 2022 den extremen politischen Strömungen bedeutende Erfolge. Mit dem aus Rundfunk und Fernsehen bekannten Polemiker und mehrfach wegen Aufstachelung zum Rassenhass verurteilten Éric Zemmour und der Kandidatin des Rassemblement national (früher Front national), Marine Le Pen, dominierten rechtsextreme und rechtspopulistische Argumente zumindest die mediale Debatte. Zusammen kamen die beiden Kandidaten in der ersten Runde (am 10. April 2022) auf über 30 % der abgegebenen Stimmen.
Le Pen gelang es außerdem, in die Stichwahl einzuziehen, wo ein Triumph gegen Amtsinhaber Emmanuel Macron nicht ausgeschlossen wurde. Daneben erreichte der Drittplatzierte, Jean-Luc Mélenchon, der Vertreter eines linkspopulistischen Wahlbündnisses um seine Bewegung La France insoumise, ebenfalls fast 22 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang. Eine weitere strukturelle Entwicklung kennzeichnete die Wahl: Die etablierten Parteien, die seit den späten fünfziger Jahren das Parteiensystem der V. Republik dominiert hatten, haben nicht nur weiter an Einfluss verloren, sie spielten de facto im Rahmen der Präsidentschaftswahl keine Rolle mehr. Die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung und Ausdifferenzierung und die damit verbundene, in ganz Westeuropa zu beobachtende Auflösung der gesellschaftlichen Milieus, die die politischen Parteien unterstützten, charakterisiert auch Frankreich.
Parteiensystem im Umbruch
Im Rahmen der Präsidentschaftswahl 2022 wirkte sich dieses Phänomen sowohl im linken als auch im konservativen Lager aus. Links scheiterte die einstmals mächtige Sozialistische Partei (PS) Frankreichs, die Partei der Präsidenten François Mitterrand (1981–1995) und François Hollande (2012–2017), mit ihrem Versuch, das linke Lager hinter ihrer Kandidatin Anne Hidalgo zu einen und zusammenzuführen. Die Bürgermeisterin von Paris scheiterte dramatisch mit ihrem Versuch, in letzter Minute einer unabhängigen linken Bürgerinitiative (Primaire populaire) die Auswahl einer parteiübergreifenden linken Kandidatin anzutragen. Mit 1,74 % der Stimmen landete Hidalgo sogar hinter Fabien Roussel, der für die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) angetreten war (2,28 %). Hidalgo blieb deutlich unter fünf Prozent der Stimmen, mit der Folge, dass ihre Wahlkampfkosten nicht erstattet werden. Der Parti socialiste (PS) könnte damit endgültig am Ende seiner Existenz angelangt sein. Schon wird gefordert, die Partei offiziell auf einem Parteitag aufzulösen.
Die Idee der Primaire populaire, die linke Kandidatur in einer parteiübergreifenden Vorwahl durch linke Wählerinnen und Wähler zu bestimmen, hatte umgekehrt zur Konsequenz, dass sich erst spät eine Dynamik zugunsten Jean-Luc Mélenchons entwickelte. Bis zuletzt versuchten vielfältige linke Parteien und Bewegungen, den Erfolg des 70-jährigen Veteranen, der in Frankreich oft mit Oskar Lafontaine verglichen wird, zu verhindern.
Erst als offensichtlich wurde, dass alles auf eine Neuauflage des Duells Macron – Le Pen hinauslaufen würde, entwickelte sich auf der politischen Linken eine Bewegung, die trotz aller grundlegenden Unterschiede und Differenzen lieber für Mélenchon stimmen wollte, als erneut einem Kandidaten aus dem anderen politischen Lager die Stimme zu geben. Am Ende fehlten Mélenchon etwas mehr als 400.000 Stimmen, um den Einzug in die Stichwahl zu schaffen. Er rechnet sich jedoch große Chancen für die Kandidatinnen und Kandidaten seines Linksbündnisses bei den im Juni folgenden Parlamentswahlen aus, die von vielen als „Revanche“ für die Präsidentschaftswahl angesehen werden.
Entgegen vielen Erwartungen im Vorfeld der Wahl kann auch die Kandidatur des Grünen Yannick Jadot unter „ferner liefen“ abgehandelt werden. Nach Erfolgen der grünen Partei und einer positiven politischen Dynamik bei den Europawahlen 2019, aber auch bei den französischen Kommunalwahlen (unter anderem Erfolge in Strasbourg, in Grenoble, Bordeaux und Marseille), war eigentlich damit zu rechnen, dass ökologische Fragen auch in der Präsidentschaftswahl eine wichtige Rolle spielen würden. Mit dem Ergebnis von 4,63 % schnitt Jadot zwar besser ab als die Konkurrenz des PS, bleibt aber ebenfalls unter der 5-Prozent-Hürde. Auch die grüne Partei sieht damit einer zumindest finanziell ungewissen Zukunft entgegen.
Ein ähnliches Bild bietet die politische Rechte. Valérie Pécresse, die Kandidatin der traditionsreichen gaullistischen Partei (heute Les Républicains), scheiterte ebenfalls an der 5-Prozent-Hürde (4,78 %). Diese Niederlage muss insbesondere wegen der damit offensichtlich gewordenen Orientierungslosigkeit als dramatisch bezeichnet werden: Die Partei Charles de Gaulles und Jacques Chiracs, die beide die Abgrenzung zu rechtsextremen Bewegungen zum nicht verhandelbaren Prinzip ihrer politischen Formation erklärt hatten, suchte verzweifelt nach einem Wahlangebot zwischen dem Wirtschaftsliberalismus Emmanuel Macrons und dem Rechtspopulismus Marine Le Pens. Im Hinblick auf beide konkurrierende Formationen ist die Kandidatin Pécresse gescheitert. Sie scheute nicht davor zurück, offenkundig rechtsextreme Verschwörungstheorien (le grand remplacement) zu bedienen, um die Anhängerschaft der beiden rechtsextremen Kandidaten für sich zu gewinnen – auf Kosten der Glaubwürdigkeit bei dem eigentlich der konservativen Partei zugetanen Milieu der Unternehmerinnen und Selbständigen. Gleichzeitig blieb ihr Wirtschaftsprogramm vielfach auf Schlagworte beschränkt, ohne konkrete Strategien der Umsetzung zu definieren.
Der Wahlkampf reduzierte sich somit weitgehend auf eine Persönlichkeitswahl. Parteien und die mit ihnen verbundenen ausformulierten Grundsatz- und Wahlkampfprogramme spielten praktisch keine Rolle. Umso wichtiger war es stattdessen, die Wählerinnen und Wähler für sich einzunehmen und dabei auch stark auf Emotionen und Gefühle zu setzen. Diese Entwicklung wussten insbesondere die extremen Kandidaten für sich zu nutzen. Auf der Rechten gelang Marine Le Pen erfolgreich der Imagewandel von der Vertreterin einer rechtsextremen, oft antisemitischen und rassistischen Partei zur rechtspopulistischen Kandidatin, die sich volksnah gab und mit einem ganz offensichtlich nicht gegenfinanzierten Sozialprogramm um die Stimmen der „einfachen Leute“ warb. Dabei kam ihr die Kandidatur Éric Zemmours sogar noch zugute. Der rechtsaußenstehende Polemiker vertrat so extreme Positionen, dass Marine Le Pen daneben als gemäßigt wahrgenommen wurde und ihre „Entdämonisierung“ als glaubhaft angesehen wurde.
Auf der Linken gelang es Jean-Luc Mélenchon, zur ernst zu nehmenden Alternative zu werden. Dabei half ihm, dass die anderen Bewerberinnen und Bewerber mit wenig detaillierten Programmen antraten. Mit seinen zwar oft radikalen Vorschlägen wie beispielsweise einer Rente mit 60, die aber durchweg ausformuliert waren, und seiner strategischen Erfahrung gelang es ihm, sich als Kandidat des linken Lagers zu etablieren. Als einem „Volkstribun“ wurde ihm bescheinigt, dass er trotz seiner Persönlichkeit, die häufig auch im eigenen Lager als extrem konfrontativ und spaltend wahrgenommen wurde, über ein großes rednerisches Talent verfügt und seine Beiträge mit literarischen und historischen Bezügen spickt, die die linken Sympathisantinnen und Sympathisanten in den Bann zu ziehen vermögen.
Gründe für Macrons Wahlsieg
Der Amtsinhaber Emmanuel Macron bezog in diesem Zusammenhang eine Zwischenposition. Einerseits nahm er für sich bereits 2017 in Anspruch, die politische Spaltung zwischen links und rechts zu überwinden. Dieses Angebot manifestierte sich dabei in erster Linie in seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit, die mit politischem Mut, hohem persönlichem Einsatz und dem Willen zu unkonventionellen politischen Lösungen zu überzeugen vermochte. Daneben wurde er von einer politischen Bewegung unterstützt (En marche, später: La République en Marche), die bewusst nicht als traditionelle Partei antreten und erscheinen wollte. Stattdessen sollte es sich um eine politische Bewegung neuen Typs handeln, die einerseits durch partizipative Elemente und flache Hierarchien gekennzeichnet war und sehr niederschwellig Möglichkeiten zu politischem Engagement bot, die aber andererseits völlig unter der Führung und dem Einfluss Emmanuel Macrons und seines engen Führungszirkels stand. Gleichzeitig stand diese Partei in der Tradition des französischen Liberalismus, dem es auch in der V. Republik (Giscard d’Estaing) immer wieder gelungen war, mit Unterstützung des linken und insbesondere des rechten Zentrums mehrheitsfähig zu werden.
Diese Strategie brachte Macron auch 2022 den Erfolg: Er punktete in der politischen Mitte, mit Zustimmung aus dem sozialdemokratischen und insbesondere dem bürgerlichen Milieu, wobei der Wahlkampf komplett auf seine Person zugeschnitten war. Die programmatischen Elemente, die im Wahlkampf entwickelt worden waren, waren alle mit der Person Emmanuel Macrons verbunden. Sie wurden einer größeren Öffentlichkeit letztendlich erst während der über dreistündigen Debatte (TV-Duell) zwischen Macron und Le Pen am 20. April bekannt, und ohne ausführliche argumentative Auseinandersetzung muss davon ausgegangen werden, dass sie dem Großteil der Wählerschaft unbekannt oder unverständlich blieben.
Stattdessen war der Präsidentschaftswahlkampf 2022 ein Ringen zweier Persönlichkeiten, die versuchten, sich als präsidentiell einerseits, als „eine von uns“ andererseits zu präsentieren. Neben persönlicher Sympathie und Beliebtheit ging es um Vertrauen und Glaubwürdigkeit in die jeweilige Person. In Bezug auf den anhaltenden Krieg in der Ukraine überzeugte so Amtsinhaber Macron mit Kontinuität in der Europapolitik und als Garant für Stabilität. Le Pen geriet hingegen aufgrund ihrer Wahlkampffinanzierung durch kremlnahe Banken im Jahr 2017 unter Druck und war gezwungen, eine Kehrtwende im Hinblick auf ihre kremlfreundlichen außenpolitischen Forderungen zu vollführen.
In dieser Situation erhielt Emmanuel Macron letztendlich deutlich größeren Zuspruch als seine Konkurrentin. Dieser Sieg vermag jedoch die gesellschaftliche Fragmentierung Frankreichs nicht zu überdecken. Nunmehr ohne große Volksparteien, die gesellschaftliche Gruppen und individuelle Akteure zu integrieren vermochten und um politische Positionen und inhaltliche und programmatische Aussagen herum zusammenführen konnten, zeigt sich in der Wahl 2022 deutlich die Suche nach Orientierungsangeboten. Damit wird es die große Aufgabe Emmanuel Macrons sein, in den nächsten fünf Jahren die Herausbildung jener gesellschaftlichen Strukturen zu begleiten, die den Volksparteien nachfolgen könnten. Der alte und neue Präsident wird nicht zuletzt daran gemessen werden, ob er die Herausbildung einer glaubwürdigen demokratischen Alternative zu seiner eigenen politischen Bewegung ermöglicht und so die Rückkehr zu einem normalen demokratischen Wettbewerb gelingt, oder ob der Aufstieg der Extreme weiter voranschreitet.
Dr. Stefan Seidendorf ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (dfi) Ludwigsburg, verantwortlich für die Europaabteilung.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.