Franzosen reden deutlich mehr über ihren pouvoir d’achat als Deutsche über ihre Kaufkraft. Das hat damit zu tun, dass die französische Entsprechung des Wortes Kaufkraft, also pouvoir d’achat, nicht einfach nur ein ökonomischer Begriff ist. Als Emmanuel Macron in einem Interview im Dezember sagte, „alle Franzosen“ hätten während seiner Amtszeit „gespürt, wie ihre Kaufkraft gestiegen“ sei, stützte er sich auf die Tatsache, dass Frankreichs Wirtschaft besser dasteht als zum Beispiel die deutsche. Das Land verzeichnete 2021 ein Konjunkturwachstum von sieben Prozent und ausländische Investoren wurden von Macrons wirtschaftsliberaler Politik nach Frankreich gelockt. Doch wenn die Bevölkerung über pouvoir d’achat spricht, dann meint sie damit schlicht die Frage: Wie viel habe ich am Ende des Monats noch übrig, wenn alle laufenden Kosten beglichen sind? Und für viele Franzosen gilt seit Jahrzehnten: Es ist immer weniger. Denn die Grundkosten für Miete und Benzin steigen stetig. Geht es nach Macron und seinem Wahlkampfteam, dann soll im Wahlkampf darüber geredet werden, dass sich die Wirtschaft erholt hat. Und die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger werden mit kurzfristigen Interventionen besänftigt. Weil, wie überall in Europa, die Heiz- und Gaskosten steigen, hat die Regierung die Energiepreise gedeckelt. Zuvor hatten sechs Millionen Haushalte bereits einen Energiescheck in Höhe von 100 Euro erhalten.
Die linke Opposition will das Thema Kaufkraft jedoch deutlich grundsätzlicher angehen: nämlich als Kampf für „das bessere Leben“, das sie der Mittelschicht und den Arbeitern/-innen verspricht. Sowohl Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise als auch Anne Hidalgo vom Parti Socialiste als auch die spät ins Rennen eingestiegene linke Kandidatin Christiane Taubira wollen dazu den Mindestlohn erhöhen. Hidalgo verspricht zudem eine massive Erhöhung der Gehälter von Lehrerinnen und Lehrern. Zu Mélenchons Programm gehört es, bei gleichen Löhnen weniger zu arbeiten. So zerstritten sie sonst auch sind, in einer Frage sind sich alle Linken einig: Die von Emmanuel Macron gestrichene Reichensteuer soll wieder eingeführt werden.
Auch die rechtsextreme Marine Le Pen versucht beim Thema Kaufkraft zu punkten. Um in die Stichwahl zu kommen, muss sie sich gegen ihren Konkurrenten Éric Zemmour durchsetzen. Da die beiden Kandidaten sich in ihren Positionen zu Einwanderung und innerer Sicherheit stark ähneln, bietet die Kaufkraft Le Pen die Möglichkeit, sich abzugrenzen. Zemmour spricht gezielt eine reaktionäre, bürgerliche Schicht an, die kein Problem mit Ausländerfeindlichkeit und Hetze gegen den Islam hat, solange ihre Steuern nicht erhöht werden. Marine Le Pen hingegen hat sich von dem wirtschaftlich radikalliberalen Kurs abgewendet, den ihr Vater Jean-Marie Le Pen immer vertreten hatte und dem jetzt Zemmour zugeordnet werden kann. Marine Le Pen will die untere Mittelschicht erreichen. Und diejenigen Wähler, die früher für die Kommunisten stimmten. Der Vizepräsident des Rassemblement national, David Rachline, sagte im Januar: „Wir engagieren uns in Fragen der Kaufkraft und kämpfen gegen die Explosion der Energiepreise.“ Und er fügte als Hieb gegen den Konkurrenten Zemmour hinzu: „Gewisse Leute interessieren diese Fragen nicht.“
Als das Meinungsforschungsinstitut Ipsos die Französinnen und Franzosen im Januar 2022 jedoch fragte, welchem Kandidaten sie am ehesten zutrauten, erfolgreich gegen soziale Ungleichheit zu kämpfen, sagten 16 Prozent der Befragten: Jean-Luc Mélenchon. Danach folgte mit 14 Prozent Emmanuel Macron, und Marine Le Pen mit 12 Prozent erst auf dem dritten Platz. Allerdings weiß man in Frankreich spätestens seit der Gelbwestenbewegung einerseits, wie groß die Sprengkraft von gefühlter sozialer Ungleichheit ist. Und andererseits, wie schwer sich diese Kraft in klare parteipolitische Bahnen lenken lässt. Die Gelbwestenbewegung war entstanden, weil die steigenden Benzinpreise die Menschen besonders hart trafen, die ohne ihr Auto weder zur Arbeit noch zum Arzt noch zur Schule der Kinder kommen. Diejenigen also, die in den ärmeren ländlichen Zonen des Landes und in der Peripherie jenseits der Stadtzentren leben. Der Aufstand speiste sich aus realer Not an jedem Monatsende. Und aus dem Gefühl, Politiker/-innen und Medienschaffende in Paris würden das Leben der unteren Mittelschicht weder kennen noch verstehen. Und im schlimmsten Fall sogar verachten.
Nur stimmten diejenigen, die sich während des Gelbwestenaufstandes über hohe Preise und niedrige Löhne beklagten, am Ende nicht für den selbsterklärten Sozialrevolutionär Jean-Luc Mélenchon. Und auch Marine Le Pen, die wiederholt versuchte, sich mit den Gelbwesten zu solidarisieren, bekam durch die Bewegung keinen neuen Auftrieb. Die Gelbwesten blieben dort, wo sie waren: am Rande der Gesellschaft. Dort, wo man ohnehin nicht mehr glaubt, dass Politiker/-innen sich ernsthaft für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger einsetzen könnten.