Die Prognosen für die Präsidentschaftswahl 2017 in Frankreich gingen in Erfüllung: Marine Le Pen hat zumindest die Stichwahl erreicht. Warum kommt die rechtsradikale Partei Front National bei den Wählern so gut an?
Didier Eribon: Der Grund dafür ist ein umfassender Zusammenbruch der politischen Strukturen und der Umgang mit der Wirtschaftskrise. Die Linksparteien haben sich um die Betroffenen nicht gekümmert und nicht auf die Krise reagiert. Es gibt heutzutage Bürgerinnen und Bürger in Frankreich, die nicht über genug Geld für ein tägliches Essen verfügen. Es sind genau diejenigen, die sich heute zum Front National (FN) hinwenden. Eine große Verantwortung für den Aufstieg der Rechtsradikalen trägt also die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre.
Die Wähler des Front National gehören also dem Prekariat an?
Tatsächlich geht es vor allem um die Verlierer unserer Gesellschaft, sowohl wirtschaftlich als auch sozial und kulturell. Sie können dafür zwei Karten von Frankreich übereinanderlegen: eine, die zeigt, wo der FN gewählt wird, und eine, wo Bürger kaum einen Schulabschluss oder ein Diplom haben. In beiden Karten ist der Norden von Frankreich sehr stark vertreten.
Mit dem Thema beschäftigen sich zurzeit mehrere Filme. Noch vor der Präsidentschaftswahl wird zum Bespiel der Film Chez Nous (Bei uns) von Lucas Belvaux ins Kino kommen. Darin wird gezeigt, wie sich der FN im Dorf Hénart im Norden von Frankreich breitmacht und wie sich der Populismus von Sozialarmut ernährt. Ein ähnliches Phänomen beschreibt Regis Sauter in seinem Dokumentarfilm Retour à Forbach (Rückkehr nach Forbach): Seine nahe Metz gelegene Heimatstadt hat sich nach rechts radikalisiert. In diesen alten Hochburgen der Kommunistischen Partei, der Parti communiste français (PCF), erhält der FN bis zu 60, 70 Prozent der Stimmen.
Sind es meistens ehemalige Unterstützer linker Parteien, die sich heutzutage dem Front National zuwenden?
Genau dies habe ich in meinem Buch Rückkehr nach Reims analysiert: wie der FN die Stimmen der Arbeiterschaft bzw. Unterschichten gewinnt. Ich erzähle das am Beispiel meiner Familie. Ich bin 1953 geboren und habe während meiner Kindheit immer nur "Wir, die Arbeiter" gehört. Es gab die Parteien "für die Arbeiter" und die Parteien "gegen die Arbeiter". Meine Eltern haben jahrelang ihre Stimmen der PCF gegeben. Heute sagt meine Mutter "Wir, die Franzosen" und wählt den FN. Viele aus dem Arbeitermilieu tun das Gleiche. Ich wollte verstehen warum.
Und warum?
In den 80er-Jahren war die Kommunistische Partei quasi verschwunden und die sozialdemokratischen Linken wollten sich modernisieren. Bei diesem Prozess wurden alle Ideen und Diskurse zu Unterdrückung und Klassenkampf aufgegeben. Eigentlich alles, was bisher die Linke charakterisierte. Die Unterschiede zwischen Marx und Tocqueville, zwischen Jean-Paul Sartre und Raymond Aron usw. gab es nicht mehr. Die Linken haben einfach den Neoliberalismus übernommen.
Es gab auf einmal keine "Arbeiterklasse" mehr, sondern "Verlierer der Globalisierung". Die Feinde waren nicht mehr die Besitzer und die Bourgeoisie, sondern die Privilegierten und die Migranten. Das Vokabular hat sich verändert, und damit auch die Wahrnehmung der Realität und schließlich die Wahl: Die Linken haben die Probleme der Unterschichten vernachlässigt, ihre Wählerschaft hat sie für den Front National verlassen. Dies geben viele linke Intellektuelle ungern zu. Ein solcher Wandel zeigt nämlich, dass es keine natürliche Verbundenheit zwischen den Unterschichten und den Linken gibt. Besser ist es aber, eine Realität anzuerkennen, um sie analysieren und eventuell ändern zu können.
Sind immer noch alle diese Stimmen für den FN "nur" Protestwahl?
Das Wort "Protestwahl" ist nicht falsch, es reicht aber nicht mehr. Meine Generation sowie die meiner Eltern, die für die PCF gestimmt hatten, sind erst einmal nicht mehr zur Wahl gegangen. Diese niedrige Wahlbeteiligung der Unterschichten war kein Desinteresse für die Politik. Ganz im Gegenteil wurde damit ein gewisses politisches und kollektives Zeichen gesetzt, das von den Linken ignoriert worden ist. Danach haben die Unterschichten den FN gewählt. Nicht jedes Mal, und zunächst nur im ersten Wahlgang. Die Wahl für den FN war anfänglich unregelmäßig, danach aber systematisch. Und die jüngeren Generationen aus den Unterschichten stimmen, wenn sie zum ersten Mal zu den Urnen gehen, selbstverständlich für die Rechtsradikalen – so wie ihre Eltern damals für die Kommunisten gestimmt haben. Das beschreibt zum Beispiel der junge Autor Edouard Louis in seinem Buch Das Ende von Eddy sehr ausführlich: In Hallencourt, seinem Heimatdorf in der Picardie, wählt eine große Mehrheit der Bewohner den FN und spricht ganz offen darüber. Die Wählerschaft des FN ist nämlich sehr entschieden: Die Umfragen zeigen, dass viele Wählerinnen und Wähler aus den Unterschichten sich bereits endgültig für Marine Le Pen entschieden haben.
Ganz entschieden wählen die Unterschichten damit aber auch gegen ihre eigenen Interessen ...
Genau! Meine Mutter habe ich gefragt, wie sie als Frau eine Partei wählen kann, die gegen Abtreibung ist, obwohl sie selbst abgetrieben hat. Sie antwortet, dass sie aus anderen Gründen den FN wählt. Sie hat "keinen Bock mehr" und "es muss sich etwas ändern". Außerdem betont sie, dass die Wähler sich sowieso für einen Kandidat entscheiden, der am wenigsten missfällt. Sie also auch. Und mit ihrer Stimmabgabe für die Rechtsradikalen ändert sich peu à peu ihre Wahrnehmung der Realität.
Dasselbe lässt sich bei den prekär Beschäftigten oder Arbeitslosen beobachten, die nicht genug Geld zum Essen haben. Sie wählen nicht eine Partei, die ihnen etwas zu Essen gibt, sondern eine Partei, die sagt, dass es nicht so weitergehen kann, vor allem nicht, während Geld an Migranten verteilt wird. Solche Aussagen sind zwar absurd, sie funktionieren aber hervorragend. Die Wählerinnen und Wähler hören einfach nur die Aussagen, die ihren eigenen Erlebnissen eine politische Bedeutung geben.
Wie könnten die Wähler der Rechtsradikalen wieder zur Vernunft kommen?
Gute Frage! Da hilft unser aktuelles Schulsystem leider gar nicht, ganz im Gegenteil: Es reproduziert die Klassengesellschaft mehr denn je. Die Kinder der Eliten besuchen die grandes écoles und werden zu Entscheidungsträgern ausgebildet; die Kinder der Unterschichten verlassen das Schulsystem früher, und wenn sie studieren, bekommen sie Abschlüsse, die wenig wert sind. Sie werden von bestimmten Berufen einfach ausgeschlossen.
Meine Analyse der Reproduktion sozialer Ungleichheiten und gesellschaftlicher Klassenverhältnisse in unserem Schulsystem wurde übrigens in Frankreich 2009 bei den Rezensionen zu meinem Buch Rückkehr nach Reims am meisten diskutiert. Im Gegensatz dazu haben sich 2016 die deutschen Medien beim Erscheinen des Buches auf Deutsch eher für meine Analysen der Wählerschaft der Rechtsradikalen interessiert. Rückkehr nach Reims war auf einmal sehr aktuell durch den Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) bei den Wahlen in mehreren Bundesländern. Anscheinend wollten die Medien in Deutschland ihrem Publikum einen interpretativen Schlüssel für diesen steigenden Populismus und Rechtsradikalismus anbieten.
Können die Medien, die sogenannte vierte Gewalt, vor der Gefahr des Populismus warnen?
In Frankreich unterstützen die Medien eher den Erfolg von Marine Le Pen und ihren Oberleutnants! Die Rechtsradikalen sind in den Medien permanent präsent und wurden dadurch legitimiert. Die Redaktionen sind vom FN fasziniert: Treffen des FN und Pressekonferenzen mit Marine Le Pen werden von Nachrichtensendern komplett übertragen, während Jean-Luc Mélenchon von der linken Bürgerbewegung La France insoumise nach ein paar Minuten unterbrochen wird und der Kandidat der ebenfalls linken Nouveau Parti Anticapitaliste, Philippe Poutou, bei einer Talkshow von Journalisten dreist ausgelacht wird. In Frankreich herrscht zurzeit ein Klima gegen die Migranten, gegen den Islam. Der Zeitgeist ist faschistoid.
Diese Populismus-Welle scheint sogar ganz Europa zu erfassen ...
Die Europäische Union ist auf einer neoliberalen Ideologie aufgebaut. Die Staaten müssen Richtlinien aus Brüssel umsetzen, etwa bei der Reform des Arbeitsrechts in Frankreich. Eine solche EU-Politik löst soziale Bewegungen aus, und wenn Menschen deswegen, wie in Griechenland, leiden, werden logischerweise die Bevölkerungen dieser Länder sagen: "Wir wollen raus aus der EU". So eine EU produziert Populismus gegen die europäischen Eliten, meist rechtsradikal orientiert. Und wenn die neoliberale Wirtschaftspolitik die Bevölkerungen verarmen lässt, führt die Aufnahme von Flüchtlingen zu steigendem Nationalismus. Dies verantworten auch die europäischen Sozialdemokraten, die die Unterschichten vernachlässigt und sogar in die Armut geführt haben. Linke Diskurse über den Aufbau eines sozialen und demokratischen Europas können aber noch immer für Aufsehen sorgen. Dies sehen wir zurzeit bei Martin Schulz in Deutschland oder bei Podemos in Spanien, wo die Linken sich neu erfunden haben und wo die Rechtsradikalen schwach bleiben.
Liegt der Erfolg von Rechtsradikalen meist am Mangel von linken Alternativen?
Wir erleben derzeit eine Krise unserer Demokratien, weil viele Bürgerinnen und Bürger sich nicht mehr gut vertreten fühlen, sich nur alle paar Jahre durch Stimmabgaben ausdrücken dürfen.
In Frankreich sollten die Linken die aktuelle Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen. Nicht wie die pseudomodernen Linken um den unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron es gemacht haben: Sie vertreten die Stadtbourgeoisie, die vernetzten Privilegierten, und vergessen dabei einen Großteil der Bevölkerung und vor allem die Unterschichten, die sich dann zum FN hinwenden. Als ich 2009 mein Buch Rückkehr nach Reims geschrieben habe, war es nicht nur ein Stück sozialer und politischer Geschichte Frankreichs mit einer Kritik am Bildungssystem. Es war auch ein Appell für eine Erneuerung der linken politischen Theorie. Wir brauchen eine linke Theorie, die die Klassenunterdrückung aus den Diskursen nicht ausklammert und sich am aktuellen Zustand der Gesellschaft und an der Realität ausrichtet.
Die Zukunft der EU liegt bei den sozialen Bewegungen, bei einer demokratischen Politik gegen alle Unterdrückungsformen. Nicht bei einer weiteren neoliberalen Wirtschaftspolitik wie im Moment.
Das Interview führte Charlotte Noblet. Es erschien erstmals am 22.03.2017 in der