In Frankreich gehört die Bildungspolitik bei jedem nationalen Wahlkampf zu den zentralen Themen. Die Zukunft des Schulwesens ist für alle Parteien einer der wichtigen Punkte ihres Wahlprogramms. Auch der Präsidentschaftswahlkampf 2017 bildet hier keine Ausnahme. So haben etwa die Kandidaten der beiden traditionellen französischen Regierungsparteien Parti socialiste und Les Républicains die Bildungspolitik zu einem ihrer Hauptanliegen erklärt: Benoît Hamon schlägt elf sehr präzise Maßnahmen zur Verbesserung der Funktionsweise des französischen Schulsystems vor, während François Fillon die Herabsetzung des Schuleintrittsalters auf zwei Jahre zu den 15 wichtigsten Maßnahmen seines Wahlvorhabens zählt.
Ein Blick in die Programme zeigt, dass die Präsidentschaftsanwärter sich letztlich nur wenig zur Berufs- oder Hochschulbildung äußern. Sie konzentrieren sich auf die Schule als Institution, welche die Kinder von der Maternelle genannten Vorschule bis zum Baccalauréat, dem Abitur, begleitet. Die Kandidat*innen analysieren die kleinsten Details, wie die sogenannten Kopfnoten oder die Frage einer Schuluniform; sie konkurrieren um konkrete Vorschläge zu Ausbildung, Gehalt und Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte; und sie beleben allgemeine Debatten wieder, die den Franzosen anlässlich jeder Wahl aufs Neue begegnen, etwa zum Schuleintrittsalter oder zu den Grundlagen des Geschichtsunterrichts – eine echte französische Leidenschaft. Zu ihren Regierungsvorhaben befragt, holen die Kandidat*innen fast immer zur eindringlichen Erörterung einer grundlegenden Schulreform aus. Wieso kommt dem Thema Schulreform im französischen Präsidentschaftswahlkampf eine solche Bedeutung zu?
Der französische Zentralismus gilt auch für das Bildungswesen
Anders als in Deutschland ist das Schulsystem in Frankreich vollkommen zentralisiert: Ein Ministerium reguliert das Leben der Collèges und Lycées, der französischen Mittel- und Oberschulen, im gesamten staatlichen Hoheitsgebiet bis ins kleinste Detail: Die Abschlussprüfungen sind landesweit einheitlich – in ganz Frankreich werden die Abiturfragen feierlich am selben Tag und zur selben Zeit geöffnet –, ebenso wie die Lehrpläne. Und sogar die Computersoftware, welche die Lehrer*innen verwenden, um die Noten zu erfassen oder die Zeugnisse zu erstellen, ist eine Online-Software, auf die man von jeder Schule aus zugreifen kann. Dieser extreme Zentralismus, der nicht den geringsten Raum für irgendeine Form der Unabhängigkeit der einzelnen Lehranstalten lässt, führt zu einer enormen Verantwortung des Bildungsministeriums, welches den Schulalltag umfassend regelt. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Vorstellungen der einzelnen Kandidat*innen zur Bildungspolitik so akkurat ausgearbeitet sind: Die gewählte Strategie stellt eine Art Gosplan (Fünfjahresplan des Komitees für Wirtschaftsplanung der UdSSR, Anm. d. Red.) dar, der den Alltag der einzelnen Lehranstalten mehr oder weniger nach dem gleichen Modell regelt – von der Anzahl der einzustellenden Lehrkräfte, über den Stundenplan der Schüler*innen bis hin zum Inhalt der Lehrpläne.
Der ideologische Auftrag der Schule in der französischen Republik
Noch schwerer als der Zentralismus wiegt, dass die Bildungspolitik einen besonderen Platz im kollektiven Unterbewusstsein der Franzosen einnimmt, denn sie ist einer der Grundpfeiler ihres republikanischen Modells: Die französische Republik wurde aufbauend auf dem Ideal der Freiheit und Gleichheit gegründet. Und an die Schule wurde und wird der Anspruch gestellt, als Hauptinstrument zur Umsetzung der zweiten Komponente dieses Ideals, der Gleichheit, zu dienen. Deswegen überschreibt z. B. François Fillon den Teil seines Wahlprogramms, der sich mit der Bildungspolitik befasst, mit: „Die Schule wieder zur ersten Stufe auf dem Weg zur nationalen Einheit machen“. Und Benoît Hamon behandelt das Thema als Teil seines Schwerpunkts „Für eine wohlwollende und humanistische Republik“. Dahinter verbirgt sich die ganze Legende der „Hussards noirs“ (dt. „Schwarze Husaren“, inoffizielle Bezeichnung der staatlichen Lehrer zu Zeiten der III. Republik, Anm. d. Red.). Deren Auftrag bestand darin, die vollkommene Gleichheit aller französischen Kinder herzustellen. Die Schulpolitik wird als wesentliches Mittel zur Befriedigung des Verlangens der französischen Gesellschaft nach Gleichheit betrachtet. Und die Präsidentschaftskandidat*innen behandeln sie wie ein heiliges Fundament, von dem die erfolgreiche Aufrechterhaltung des republikanischen Ideals abhängt.
Über diesen ideologischen Aspekt hinaus wird das Schulwesen von den französischen Bürger*innen über Gebühr beansprucht: In der französischen Arbeitswelt scheinen nur Abschlusszeugnisse zu zählen. Die Anerkennung beruflicher Erfahrungen folgt erst mit weitem Abstand dahinter. Es besteht ein Überangebot an Abschlüssen, an staatlichen Prüfungen, die es zu bestehen gilt. Ein anschauliches Beispiel hierfür: Voraussetzung für das Amt des Direktors bzw. der Direktorin einer Einrichtung ist nicht etwa die innerhalb einer Schule gesammelte Berufserfahrung; der einzige Weg zum Erfolg führt über eine externe theoretische Prüfung. Vor diesem Hintergrund nimmt die Frage der Reform des Bildungswesens eine unverhältnismäßige Bedeutung ein, welche dem Grad der in der Bevölkerung herrschenden Ängste angesichts der Härten der modernen Arbeitswelt entspricht.
Deshalb muss man sich auch in diesem Wahlkampf auf die Bildungspolitik als Dauerthema einstellen, und auf gegenseitige Angriffe der Kandidat*innen hinsichtlich sehr konkreter Aspekte dieser Politik. Auch diesmal scheinen die verschiedenen Präsidentschaftsanwärter mit ihren jeweiligen Programmen jedoch keine wirklich grundlegenden Reformen anpacken zu wollen – Beamtenstatus der Lehrkräfte, das Unterrichten von zwei Fächern, die Genehmigung von Pilotprojekten auf Hochschulebene … Als könnten diese Dinge die Grundfesten der französischen Republik erschüttern.