De Gaulles Metapher vom unbeirrbaren Kapitän
Ein überparteilicher Kapitän auf einem für politische Unwetter gebauten starken Staatsschiff – das ist der französischen Präsident im gaullistischen Gründungsmythos der Fünften Republik. In seiner berühmten Pressekonferenz vom 31. Januar 1964 hatte General De Gaulle, der erste Amtsinhaber, dem Präsidenten – und dem Präsidenten allein – die Staatsführung zugeschrieben. Den Rahmen dafür bildet die semipräsidentiell angelegte Verfassungsordnung. Als "Schiedsrichter" (arbitre) gewährleistet der Präsident jenseits der parteipolitischen Konjunktur die Kontinuität des Staates und die nationale Unabhängigkeit (Artikel 5). Dafür nutzt er eine mächtig ausgebaute Exekutive und ein durch Verfassungsvorgaben gezügeltes Parlament. Der Premierminister war in den Augen De Gaulles lediglich ein unter seinem Kommando stehender Steuermann. Als solcher ist er zuständig für die alltäglichen Fährnisse der Regierungsgeschäfte. Darüber hinaus regelt der Premierminister auch die Zusammenarbeit mit dem Parlament – ein in De Gaulles Augen zentrales, aber ersetzbares Besatzungsmitglied. Um den Kurs des Präsidenten zu halten, konnte es im Falle von zu heftigem Gegenwind für die Regierungspolitik von Bord geschickt und den Wellen der öffentlichen Meinung geopfert werden.
Die Präsidenten in der Verfassungspraxis: Weder heroischer Kapitän noch überparteilicher Schiedsrichter
Die Verfassung wurde in den stürmischen Zeiten der Dekolonisierung vor mehr als einem halben Jahrhundert nach der zentralen Maßgabe der Regierungsstabilität gezimmert. Sie sieht in Artikel 16 auch das präsidentielle Privileg vor, den Notstand auszurufen. Vor etwas über einem Jahr, im November 2015, machte François Hollande von diesem Recht erneut Gebrauch. Damit reagierte er auf die Terroranschläge in Paris. Doch nach diesem Schritt konnte sich der Sozialist nur zwei Monate lang wie der überparteiliche, "heroische" Präsident der gaullistischen Erzählung fühlen. Dabei war er getragen von einem in den Umfragen ablesbaren solidarischen Schulterschluss der französischen Nation. Das ist vorbei, und das ist nicht allein die Schuld des derzeitigen Amtsinhabers.
Trotz des Fortbestands der – im innerfranzösischen Vergleich einmalig langlebigen – Fünften Republik zeigt sich diese in ihrem präsidentiellen Kern tiefgreifend gewandelt. Dazu haben Verfassungsreformen, veränderte politische Kräfteverhältnisse und informelle Praktiken beigetragen. Durch die Einführung der Direktwahl des Präsidenten 1965 und das romanische Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen hatte sich zunächst eine Bipolarisierung des Parteiensystems herausgebildet. Die Parteien haben sich präsidentialisiert – und das Präsidentenamt hat sich parteipolitisiert.
Wie sich das Präsidentenamt nach der Verfassungsreform 2000 entwickelt hat
Seit der Entzauberung der Linken infolge des ersten Machtwechsels 1981 ist die für das politische Leben in Frankreich so grundlegende Links-Rechts-Orientierungsachse unklarer geworden. Mit der zunehmenden Pluralisierung und Polarisierung des Parteiensystems lassen sich stabile, parteiübergreifende präsidentielle Mehrheiten immer schwieriger bilden. So kam es bis zur Jahrhundertwende drei Mal zum "Kohabitation" genannten Auseinanderfallen von präsidentiellen und parlamentarischen Mehrheiten. Um solches künftig zu verhindern, wurde im Jahr 2000 durch eine Verfassungsreform die Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre verkürzt. Somit ist sie nun den parlamentarischen Wahlperioden angepasst (wobei zu berücksichtigen ist, dass der französische Präsident das Recht hat, das Parlament aufzulösen).
Aus der (gaullistischen) Rolle gefallen: Vom Hyperpräsident bis zum Tretbootkapitän
Dass institutionelle Regeln allein keine soliden politischen Mehrheiten zu formen vermögen, zeigte sich jedoch bei den Präsidentschaftswahlen 2002: Im entscheidenden Duell des zweiten Wahlgangs standen sich nicht ein linker und ein rechter Kandidat gegenüber, sondern der Führer des Front national, Jean Marie Le Pen, und der Neogaullist Jacques Chirac. Die Wählerschaft des linken Lagers sah sich gezwungen, aus "republikanischer Disziplin" für das kleinere Übel zu stimmen.
Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2007 gelangte Chiracs Amtsnachfolger Sarkozy an die Macht. Nicht zuletzt auch dank der erfolgreichen Einbindung von potenziellen Front-national-Wählern. Sarkozy kann als eigentlich erster Präsident unter dem neuen Wahlregime angesehen werden. Als Staatspräsident legte er angesichts einer komfortablen parlamentarischen Mehrheit einen präzedenzlosen Aktivismus an den Tag. Indem der "Hyperpräsident" in einzelnen Ressorts intervenierte, begab er sich in die unwägbaren Niederungen der Tagespolitik. Seine Zustimmungsraten sanken dabei unter die seines im Vergleich zu ihm ruhig und präsidentiabel wirkenden Premierministers, François Fillon.
François Hollande, Sarkozys 2012 gewählter Nachfolger, pflegte in den vergangenen fünf Jahren einen völlig anderen Amtsstil. Hollande gebärdete sich jedenfalls zu Beginn eher als der der bescheidene Mitbürger von nebenan. Er führt vorzugsweise indirekt und vermeidet dadurch nach Möglichkeit die direkte politische Konfrontation. Hollandes Präferenz für ein schrittweises Vorgehen brachte ihm den Ruf ein, entscheidungsschwach zu sein. Seine politischen Gegner verhöhnen ihn als "Tretbootkapitän". Trotz aller Unterschiede zu Sarkozy fiel auch Hollande – jedenfalls nach gaullistischer Lesart – aus der präsidentiellen Rolle. Dies geschah, als er ankündigte, er werde sich an der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen messen lassen. Von seinem Erfolg auf diesem Gebiet würde er eine erneute Kandidatur 2017 abhängig machen. Ein halbes Jahr vor den Wahlen zeigten sich nach einer Ende Oktober 2016 in der Zeitung Le Monde veröffentlichten Umfrage des Instituts Cevipof nur noch vier Prozent der Befragten zufrieden mit der Politik des Präsidenten.
Im Rückblick gilt gemeinhin der Sozialist Mitterrand nach De Gaulle als der gaullistischste, "echte" Präsident. Der Wahlkampfslogan seiner heute legendären Kampagne hatte "la force tranquille" (die ruhige Kraft) gelautet. Daraus gelernt hat in diesem Punkt zweifelsohne Marine Le Pen. Anders als der amerikanische Populist Donald Trump hat sie bereits im Wahlkampf präsidentielle Kreide gefressen und Mitterrands Erfolgsformel plagiiert: Unter dem Motto "La France tranquille" nimmt sie Kurs auf das Präsidentenamt. Dieses Amt angesichts der Vielfachkrise der Gegenwart auszufüllen, dürfte allerdings für PolitikerInnen jeglicher Couleur zur Herausforderung werden. Ohne einen die Französinnen und Franzosen überzeugenden politischen Kurs nutzen die in der Hand des Präsidenten liegenden formalen Machthebel der Verfassung wenig.