Auf dem Bild sieht man einen kleinen Jungen, der in Gedanken verloren ist und den gelben Heiligenschein eines Engelchens malt. Die sanften Striche und die Pastelltöne wirken besänftigend, doch die blutroten Flecken, die überall verstreut sind, können nicht hinwegtäuschen: Im Bild, das Céline Lebovitch nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" im Januar 2015 zeichnete, steckt viel Gewalt. Bei den Schmerzen, die sie bei der Nachricht des Terrorangriffs empfand, hatte die Stencil-Künstlerin das Bedürfnis, "gegenüber der Gräuel der Taten die Schuldlosigkeit eines Kindes darzustellen" – Was dabei zum Ausdruck kommt, ist eine Mischung aus Trauer und Hoffnung.
Céline Lebovitch, 43, braucht eigentlich keine Anschläge, um wütend zu werden. Von Natur aus ist sie eine "gequälte Seele", die im Alltag immer wieder Anlass zur Empörung findet. Die Abschiebung von Migranten aus den europäischen Ländern ist so ein Grund, genauso wie die Demonstrationen gegen die Homo-Ehe, die in Frankreich 2014 stattfanden. Sie versuchte eine Zeit lang, ihre Ideen in der Politik umzusetzen und wurde sogar zur Stadträtin gewählt. Doch sie musste schnell feststellen, wie schwierig es ist, über diesen Weg tiefgreifende Probleme zu lösen. Dabei verlor sie viele Illusionen, aber ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Toleranz veränderte sich nicht. Inzwischen wurde Kunst das Vehikel für ihr Protestgeschrei und als solches ein fester Bestandteil ihrer Identität.
In der Kunst von Céline Lebovitch spielt Zerstörung eine zentrale Rolle. Sie arbeitet nicht nur mit Schablonen, Pinseln, Spraydosen und Acrylfarbe, auch das Cutter-Messer ist für sie ein wichtiges Instrument. Damit kratzt sie die Oberfläche ihrer Gemälde ab, bis sie "so rau sind wie die Rinde eines Baumes". Und falls ihre Bilder trotz überlagerten Farbschichten und Rissen für ihren Geschmack immer noch zu glatt sind, holt sie Stifte und beschriftet sie, um sie ein letztes Mal zu "beschädigen". In ihrem aktuellen Projekt, das sich mit der Vergangenheit der deutschen Hauptstadt befasst, dreht sich das Ganze um Zerstörtes und Geschaffenes. Alles fing damit an, dass der bildende Künstler Christophe Horlain, der zum 25. Jubiläum des Mauerfalls in Berlin Plakate abriss und damit Skulpturen baute und ihr anbot, diese Papierschichten selbst zu bearbeiten. Céline Lebovitch sagte sofort zu und ist nun dabei, dieses Material weiter zu zerreißen, wieder zusammenzukleben und in ihrer unverkennbaren Art zu besprühen.
Für die Künstlerin, auch "Miss Fuck" genannt, ist Zerstörung nicht nur eine Voraussetzung, um Neues zu schaffen, sondern auch ein Symbol der absoluten Freiheit. Als Künstlerin wird sie von diesem Anspruch stets begleitet. Sie lehnt bestehende Konventionen ab, will Codes aufbrechen und hat keine größere Angst als irgendwann in einem bestimmten Klischee selbst eingeschlossen zu werden. Nur selten setzt sie Grenzen an ihre Arbeit und dies nur weil es ihr wichtig ist, Ideen zu vermitteln; die meiste Zeit lehnt sie es aber ab und verzichtet dafür auf Galerien, die andere Kunstvorstellungen haben. Auch als Mensch beansprucht Céline Lebovitch eine absolute Freiheit. Sie sieht sich nicht als Französin, sondern als staatenloser Mensch: "Für mich hat Staatsangehörigkeit keine Bedeutung, ich halte keine Fahne, sondern möchte Leute kennenlernen, die nicht so sind wie ich."
In diesem Punkt identifiziert sich die Künstlerin mit den Punkbands, die sie beim Malen inspirieren und die den Rhythmus ihrer Bilder bestimmen. "Punk ist eine Einstellung, die auf Freiheit, Toleranz und gegenseitige Unterstützung setzt", sagt sie, diesmal ganz ohne Empörung.