Das Sonnenlicht flirrt durch die hohen Bäume von Fleury-devant-Douaumont, alles ist ruhig. Bürgermeister Jean-Pierre Laparra, 62, flaniert durch das Dorf, geht am Brunnen vorbei und macht halt vor der kleinen Kapelle. Wie bei jedem seiner Rundgänge begegnet er keinem einzigen Bewohner. Denn seit einem Jahrhundert wohnt hier kein Mensch mehr. Fleury ist ein "village détruit", ein sogenanntes zerstörtes Dorf, das während des Ersten Weltkrieges zunichte gemacht wurde.
In Frankreich gibt es noch fünf andere Dörfer, die wie Fleury eine komplette Zerstörung erlebten, nie wieder aufgebaut wurden und dennoch von einem Bürgermeister regiert werden. Alle befinden sich im Departement Meuse, in der Nähe von Verdun im Nord-Osten Frankreichs, da wo sich vor hundert Jahren die Europäer blutige Schlachten lieferten. Die damaligen Einwohner von Fleury-devant-Douaumont wurden entweder getötet oder sind vor dem Krieg geflohen. Ihre Häuser und die öffentlichen Gebäude wurden zerstört. Was heutzutage vom Dorf geblieben ist, ist eine Mondlandschaft mit Kratern mitten im Wald. Dazu eine Kapelle und ein Kriegerdenkmal.
Wer die Geschichte des Ortes nicht kennt, könnte ihn idyllisch finden. Doch unter der Erde befindet sich nach wie vor eine Menge Granaten und anderen Waffenresten – sowie viele Leichen. Regelmäßig werden neue Skelette von Soldaten des Ersten Weltkrieges entdeckt; 2013 waren es 26 auf einmal. Laut Schätzungen wird es 400 Jahre dauern, bis Fleurys Erde wieder rein ist: "Der Boden trägt immer noch die Wundmale der Schlachten, das Gebiet ist wie ein "gueule cassée"
Wie seine Kollegen der anderen zerstörten Dörfer wurde der Bürgermeister vom Präfekten ernannt – zusammen mit zwei Stellvertretern. Monsieur Laparra muss sich zwar nicht um das Wohl seiner Wähler kümmern, viel zu tun hat er aber trotzdem. Seine Hauptaufgabe besteht darin, für die Erhaltung des kulturellen Erbes des Dorfes zu sorgen und somit Fleurys Sichtbarkeit zu erhöhen. Dafür steht ihm ein jährliches Budget von 22.000 Euro zur Verfügung. Über die Hälfte der Summe wird für die Pflege des Geländes gebraucht – ein Posten, der wegen des durchgewühlten Bodens zwei- bis dreimal höher ist als anderswo im Land. Für seine Arbeit selbst erhält er lediglich ein Honorargehalt von 200 Euro.
Seine Arbeit dient auch dazu, die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig zu erhalten. Die jährlichen Feierlichkeiten zum Gedenken an die Opfer des Krieges tragen dazu bei. Darüber hinaus kommen jedes Jahr Besucher ins Dorf, die der Bürgermeister gern begleitet. Dazu zählen Nachkommen von ehemaligen Dorfbewohnern, aber auch Kultur- und Geschichtstouristen, darunter viele Schulkinder. Bei jedem Besuch, insbesondere der Jüngeren, ist Monsieur Laparra bemüht, das Gedächtnis seines Dorfes weiterzugeben: "Ich höre noch die Glocken der Kirche und die Schläge des Hufschmiedes", erklärt er gerührt.
Viele Besucher kommen aus Deutschland, das früher als Erbfeind Frankreichs galt. Jean-Pierre Laparra pflegt zum Nachbarland ein freundliches Verhältnis und sieht die deutsch-französische Versöhnung als großen Erfolg. Seine Mutter, deren Vater im Krieg starb, hatte zwar Ressentiments gegenüber Deutschland. Aber er erbte von seinem Vater, der selber stellvertretender Bürgermeister des Dorfes war und heute nicht mehr am Leben ist, ein positives Bild Deutschlands. 2016 findet in Fleury-devant-Douaumont das 100-jährige Jubiläum der Schlachten statt. An diesem Tag, so der Wunsch von Monsieur Laparra, sollen Deutsche und Franzosen gemeinsam im Dorf musizieren. Diesen Moment hätte er so gern mit seinem Vater geteilt!