An diesem späten Vormittag ist die Autobahn A2 relativ leer. Unter den wenigen Autos, die durch die dunklen Kieferwälder Brandenburgs in Richtung Berlin fahren, befindet sich ein Renault Kangoo; an dessen Steuer sitzt die Französin Flavie Labendzki, 27. Die junge Frau arbeitet für ein Jahr als Lektorin für das FranceMobil, ein Programm, das die Robert Bosch Stiftung mit anderen Partnern ins Leben rief, um das Erlernen der französischen Sprache an deutschen Schulen zu fördern.
Jeden Tag besucht Frau Labendzki vier Berliner Klassen und begegnet dabei sowohl Erstklässlern als auch Schülern, die kurz vor dem Abitur stehen. In ihrem Kangoo stehen Bücher, Zeitschriften und pädagogisches Material, die die Lektorin spielerisch einsetzt – Auszüge aus Werbungen, Fotos von ihrer Familie oder auch ein Würfel aus Schaumstoff, den die Schüler bei der Vorstellungsrunde werfen. Hauptsache die Stunde macht Spaß, denn schließlich geht es darum, die französische Sprache zu "entdramatisieren und attraktiv zu machen". Es wird viel gelacht, doch in einem Punkt bleibt Flavie Labendzki kompromisslos: Mit ihr wird nur Französisch gesprochen: "Die Schüler sollen merken, dass sie schon viel verstehen, auch wenn sie die Sprache noch wenig oder gar nicht gelernt haben".
Die Strategie zahlt sich aus. In Deutschland lernen immer weniger Schüler die französische Sprache – und umgekehrt. Nach dem Besuch von FranceMobil-Lektoren nimmt jedoch die Zahl der Anmeldungen für Französisch als erste oder zweite Fremdsprache deutlich zu. Nicht selten kann dadurch der Französisch-Kurs in einer Schule bestehen bleiben.
Flavie Labendzki sieht Deutschland als ihre zweite Heimat. Schon als Kind, als es in der Schule um die Wahl der ersten Fremdsprache ging, entschied sie sich für Deutsch, und dies ohne lange zu zögern. "Ich spreche so gern die Sprache!", sagt sie heute mit Begeisterung. Nicht nur für die deutsche Sprache, sondern auch für die Deutschen hat sie lobende Worte: "ehrliche, gastfreundliche und warmherzige Leute", so das Bild, das sie von ihren neuen Mitbürgern hat. Diese Leidenschaft für Deutschland prägte bis jetzt ihr ganzes Leben.
In der kleinen Stadt im Norden Frankreichs, wo sie herkommt, legte sie ein Baccalauréat (dt: Abitur) mit Zertifikat Deutsch ab und begann im Anschluss ein Studium der Germanistik an der Universität Lille. Mit 23 entschied sich Flavie Labendzki für einen ersten Deutschland-Aufenthalt im Rahmen des Programms Voltaire vom Deutsch-Französischen Jugendwerk (dfjw). Die Monate, die sie in einer Familie in Jena verbrachte, haben ihren "Umgang mit der Sprache verändert". Auch wenn sie zwischendurch im westdeutschen Göttingen wohnte, hat sie eine Schwäche für den Osten des Landes, der sie aufgrund der "Bescheidenheit der Menschen dort" an ihre Herkunftsregion erinnert. So ist es kein Zufall, dass sie später für ihr Studium in Berlin nicht in die Bundeshauptstadt zog, sondern nach Brandenburg, wo sie heute noch lebt.
Frau Labendzki ist Französin in Deutschland, sie war aber auch schon Deutsche in Frankreich. Während ihres Frankreich-Studiums an der Freien Universität Berlin befasste sie sich mit der Geschichte und dem politischen System ihres Landes. Und wie ihre deutschen Kommilitonen damals, verbrachte sie ihr Erasmus-Jahr in Frankreich – ausgerechnet im Norden des Landes, wo sie früher mal zu Hause war. Diese Erfahrung war prägend. Sie entwickelte nicht nur einen neuen Blick auf die französische Gesellschaft, sondern lernte auch ihren zukünftigen Mann kennen – einen Deutschen, der dort Deutsch unterrichtete. Inzwischen leben beide in Deutschland zusammen. Ihr kleiner Sohn Raphaël wird natürlich zweisprachig erzogen.