Inwiefern haben die Projekte der Kulturhauptstadt 2013 Marseille und die Region Provence verändert?
Die Veränderungen, die durch das Kulturhauptstadtprojekt Marseille und die Region stattgefunden haben, sind enorm. Zum einen hat Marseille als die zweitgrößte Stadt Frankreichs den Rückstand in kultureller Infrastruktur nachholen können. Es sind über 600 Millionen Euro investiert worden in kulturelle Infrastrukturen, neue Museen sind entstanden, vorhandene wurden renoviert. Das war bereits eine der ganz großen Veränderungen. Zum zweiten ist das bemerkenswerteste, dass Marseille und die Region zum ersten Mal wirklich auf kulturellem Gebiet zusammengearbeitet haben. Man kann sogar sagen, die kulturelle Zusammenarbeit war die erste Zusammenarbeit mit Marseille und der Region auf allen Politikfeldern. So dass, das was politisch unterwegs ist, nämlich die Herausbildung einer Metropole Aix-en-Provence und Marseille durch das Kulturhauptstadtprojekt eigentlich präfiguriert wurde. Nicht ohne Widerstände, mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung, aber letztendlich hat dieser über fünf Jahre werdende Prozess der Vorbereitung und dann der Durchführung Marseille und die Region doch sehr stark auf diese Veränderung vorbereitet.
Sie waren an der Bewerbung Bremens zur Kulturhauptstadt Europas 2010 sowie an der Projektentwicklung für die Kulturhauptstadt Linz 2009 beteiligt. Gibt es eine Besonderheit Marseille?
Es gibt eine Besonderheit Marseille, aber das hat vielleicht weniger mit Marseille als Stadt zu tun als mit dem Umstand, dass Europa über eine große kulturelle Diversität verfügt. So dass keine der Städte, die in der Frage genannt werden (Bremen, Linz) mit Marseille vergleichbar sind und umgekehrt. Das ist, denke ich, einer der interessanten Aspekte des Kulturhauptstadtprojektes, dass die kulturelle Unterschiedlichkeit in Europa im Unterschied zu anderen Kontinenten so ausgeprägt ist.
Aber natürlich hat Marseille dann doch auch spezifisch Besonderheiten, die beispielsweise in dem relativ schlechten Ruf bestehen, den die Stadt in Frankreich, aber auch in Europa hat. Oft genug aufbauend auf Klischees, manchmal aber eben auch Realitäten, so beispielsweise die besondere Trennung zwischen Arm und Reich, die die Stadt kennzeichnet, auch die Kriminalität und der Drogenhandel herum. Das waren schon Herausforderungen und Besonderheiten, die für Bremen und für Linz ganz andere waren. Aber auch da nochmal das Beispiel Linz: Es hatte sich sehr stark mit seiner Geschichte als Stadt des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Auch da galt es, über ein schlechtes Image eine veränderte Realität heute, ein neues Bild von der Stadt zu schaffen. Und das hat für Marseille in gewisser Weise auch sehr stark gewirkt.
zur PersonUlrich Fuchs
Ulrich Fuchs, geboren 1951 in Neustadt/Waldnaab, war zwischen 2010 und 2014 stellvertretender Intendant der Kulturhauptstadt Marseille-Provence 2013. In dieser Funktion hat er aktiv an der Konzeption und an der Entwicklung der Projekte von der Kulturhauptstadt beigetragen. Seit Anfang 2014 ist er Mitglied der EU-Jury zur Auswahl, Begleitung und Evaluierung aktueller und künftiger europäischer Kulturhauptstädte. Er lebt in Marseille und unterrichtet u.a. an der Université d’Avignon.
Nach einem Studium der Germanistik, Politik, Geschichte, Soziologie und Theaterwissenschaften in Marburg und Berlin, hat Ulrich Fuchs an der Freien Universität Berlin promoviert. Parallel zu seinen Lehraufträgen an der Universität in Bremen (1984-2005) und Mainz (1993-1996), hat er als Dramaturg am Bremer Theater gearbeitet (1984-2003). Er hat auch den Studiengang Musik- und Kulturmanagement an der Hochschule Bremen geleitet (2000-2004).
Seit 1998 hatte Ulrich Fuchs verschiedene Funktionen beim Senator für Kultur in Bremen. Er war u.a. Projektleiter im Team zur Vorbereitung der Bewerbung Bremens zur Kulturhauptstadt Europas 2010 (2003-2005). Anschließend hat er als stellvertretender Intendant und Leiter der Projektentwicklung für die Kulturhauptstadt Linz 2009 gearbeitet (2005-2010).
Was ist so spezifisch an der Kulturpolitik Frankreichs? Insbesondere mit Deutschland verglichen?
Ich denke, die Kulturpolitik in Frankreich ist nach wie vor trotz aller Bemühungen um Dezentralisierung sehr stark zentralistisch gesteuert. Und das ist der größte Unterschied zu Deutschland; und ich würde auch sagen, einer der großen Vorteile der Bundesrepublik mit dem Föderalismus, dass die Kulturpolitik sehr stark von den Ländern, von den Regionen gestaltet wird. Wohingegen in Frankreich die Rolle des Kulturministeriums doch nach wie vor eine sehr starke ist. Auch die Finanzierung kultureller Projekte durch den Staat hat nach wie vor eine starke Bedeutung, so dass die Kommunen oder die Departements und Regionen nur bedingte Steuerungsmöglichkeiten haben. Desweitern gibt es natürlich spezifische Unterschiede, etwa in der Existenz der Stadttheater in Deutschland, weit verbreitet in vielen Regionen und Städten, und der sehr viel weniger bedeutenden "théâtres nationaux" (Nationaltheater) in Frankreich. Aber es würde wohl etwas zu weit gehen, wenn man diese Vergleiche auch noch vertiefen würde.
Wie beurteilen Sie die deutsch-französische Zusammenarbeit im kulturellen bzw. kulturpolitischen Bereich?
Aus der Sicht Marseilles hat die deutsch-französische Zusammenarbeit durch das Kulturhauptstadtjahr einen enormen Schwung erfahren. Das zeigt sich am besten vielleicht in den zahlreichen Projekten, die mit deutscher Unterstützung während des Kulturhauptstadtjahres realisiert worden sind. Und zwar haben sich etliche Künstler aus Deutschland am Kulturhauptstadtprogramm beteiligt. Zum zweiten ist ein erfreuliches Ergebnis der Kulturhauptstadt, dass das Goethe Institut zurück nach Marseille gekommen ist und wieder eine Antenne eröffnen konnte. Das ist sicherlich ein sehr direktes Ergebnis der großen Aktivitäten. Und zum dritten, denke ich, dass auch der 50. Geburtstag des Elysée-Vertrags [1963-2013] und die gestärkte Zusammenarbeit der Partnerstädte Hamburg und Marseille zu diesem Schwung beigetragen haben. Aber es gibt da noch viel zu tun, an Ideen mangelt es nicht, auch gerade zwischen Avignon und Berlin beispielsweise sind neue Projekte unterwegs, denen ich sehr positiv gegenüberstehe. Auch in der Zusammenarbeit zwischen Marseille und Hamburg gibt es neue Projekte. Ich denke, 50 Jahre nach dem Elysée-Vertrag gibt es eine gute Substanz, aber sicherlich auch noch Leerstellen und Bereiche, die in dieser Zusammenarbeit vertieft werden können.