Interview mit Pierre-Yves Le Borgn’
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Die politische Tradition ist in Frankreichs Gesellschaft stark verwurzelt. So blickt Frankreich, im Gegensatz zu Deutschland, auf eine lange Demokratiegeschichte zurück. Die Unterschiede zwischen den beiden Systemen erklärt der französische Politiker Pierre-Yves Le Borgn' im Interview.
Im Interview mit Pierre-Yves Le Borgin'
Oft wird in Frankreich vom "Primat der Politik" gesprochen. Was versteht man darunter? Welchen Einfluss haben insbesondere politische Entscheidungsträger auf wirtschaftliche Entscheidungen?
Die Franzosen und Frankreich generell geben oft dieses Gefühl, oder vermitteln dieses Bild, sehr politisch zu sein. Wir sind tatsächlich das Land der französischen Revolution. Wir streiken gern und Politik spielt immer eine sehr wichtige und präsente Rolle in der Berichterstattung der Medien als auch generell in der Öffentlichkeit. Die Franzosen reden weniger über Fußball als die Deutschen und vielleicht mehr über Politik. Als Brückenland zwischen Süd- und Nordeuropa erleben wir die Politik immer mit Leidenschaft und Engagement. Politik steht im Mittelpunkt des Landes und trotz eines wachsenden Misstrauens vieler Wähler gegenüber der Politik, bleibt sie zentral für alle Bürgerinnen und Bürger.
Ich finde den Ausdruck des Primats der Politik unglücklich. Das Primat der Politik hat nämlich eine negative Bedeutung und bedeutet oft bei Journalisten ein Land, in dem eine politische Klasse willkürliche Entscheidungen jenseits des Rechts treffen darf. Frankreich ist eine alte Demokratie und die Politik hat oft die Rolle eines Rückgrats für das Land gespielt. Die französische Demokratie hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Aus dem sehr zentralisierten Land des Alten Regimes [1589-1789] und der Dritten Republik [1870-1940] entwickelte Frankreich sich im Laufe der zwei Dezentralisierungsgesetze zu einem Land mit mehr Subsidiarität und Mitbestimmung.
Unter der Präsidentschaft des aktuellen Präsidenten François Hollande hat die Republik eine neue Dialogkultur mit den Tarifpartnern, Arbeitgeberverbänden, NGOs und Vereinen eingeführt. Ähnlich zu Deutschland versucht die neue Regierung, die Entscheidungen und Gesetzentwürfe im Vorfeld mit den Betroffenen und Akteuren der Branche zu diskutieren. Frankreich erlebt momentan einen Paradigmenwechsel mitten in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Diese neue Dialogkultur ist also erforderlich und sehr willkommen.
Sie kennen sich mit Deutschland besonders gut aus. Inwiefern unterscheidet sich die Rolle der französischen Nationalversammlung von der des Bundestages?
In vielen kleinen Hinsichten unterscheiden sich die zwei Parlamente. Ich würde aber sagen, dass die Kernkompetenzen relativ ähnlich sind. Die zwei Parlamente dürfen sich über alle Gebiete der Politik beraten und Gesetze entwerfen, die dann in den jeweiligen Ausschüssen debattiert werden. Die Abgeordneten verabschieden dann die Gesetze und diese werden vom Staatschef unterzeichnet (wie François Hollande und Joachim Gauck).
Was die Unterschiede betrifft, denke ich sehr generell, dass die Kontinuität der Republik seit 1795 und die Installation der Nationalversammlung in dem Palais Bourbon in Paris ein großer Unterscheidungsfaktor zum Bundestag ist. Das Paul-Löbbe-Haus in Berlin und die neue Innenausstattung des Reichtaggebäudes stehen dagegen für Modernität, Transparenz und insgesamt für die neue Bundesrepublik nach der Ordnung des Grundgesetztes von 1949. Die Identität des deutschen Parlaments ist nicht die Kontinuität zu der bisherigen politischen Ordnung, sondern der Abbruch zum Totalitarismus. Dieser Unterschied zwischen unseren beiden Volksversammlungen führt zu zahlreichen kleinen Unterschieden auf Arbeitsebene.
Generell muss auch bemerkt werden, dass das französische System von den Politikwissenschaftler als semi-parlamentarisches System eingeordnet wird. Die Befugnisse des Präsidenten und vor allem sein Initiativrecht und seine Machtbefugnisse vor allem im Bereich der internationalen Politik gehen weit über die Befugnisse der Bundesregierung hinaus und unterliegen also nicht immer direkt der Parlamentarischen Kontrolle.
zur PersonPierre-Yves Le Borgn'
Pierre-Yves Le Borgn' ist Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, wo er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, Vorsitzender der deutsch-französischen Parlamentariergruppe und Vorsitzender der Studiengruppe zur Koordinierung europäischer Rechtsordnungen ist. Er wurde 2012 für die Sozialistische Partei im 7. Wahlkreis der Franzosen im Ausland (Deutschland und Mitteleuropa) gewählt.
Geboren 1964 in der Bretagne hat Pierre-Yves Le Borgn’ Jura an der Universität Nantes, Politikwissenschaften am Institut d’études politiques in Paris und am Europa-Kolleg in Brügge studiert. Seine ersten beruflichen Erfahrungen hat er im Ausland gesammelt: In den Vereinigten Staaten, sowie in Luxemburg, Belgien und Deutschland.
Bevor er nach in die Nationalversammlung kam, war er im Bereich der Erneuerbaren Energien tätig. Seine Stelle als Führungskraft bei einem Solarpanelhersteller mit Sitz in Mainz und Fabrik in Frankfurt-am-Oder hat ihn nach Deutschland geführt. Hier war er für große Projekte von Solarparks verantwortlich.
Als Abgeordneter engagiert sich Pierre-Yves Le Borgn' für Familienrecht in einem binationalen Kontext und versteht sich als "Minenräumer" insbesondere bei den Themen Ehe und Kinderbetreuung. Außenpolitische Themen sind weitere Schwerpunkte seiner politischen Arbeit.
Was ist Ihre Rolle als Vorsitzender der deutsch-französischen Parlamentariergruppe? Welche politischen Prioritäten haben Sie dabei?
Ich bin ein Produkt der deutsch-französischen Freundschaft. Ich kenne und schätze unsere Zusammenarbeit. Sie ist nämlich die engste Zusammenarbeit zwischen Staaten in der Welt. Das weiß ich sehr zu schätzen. Jedoch bin ich der Meinung, dass wir noch weiter in die Integration gehen müssen. Es genügt nämlich nicht zu sagen, dass wir gut zusammenarbeiten. Unsere beiden Staaten sind die Grundsäulen der europäischen Integration. Aus diesem Grund müssen wir weiter die Harmonisierung unserer politischen Maßnahmen vorantreiben. Meine Aktion als Vorsitzender dieser Gruppe geht genau in diese Richtung. Wir müssen Konvergenz schaffen und voneinander lernen. Unsere Steuerpolitik, unser Familienrecht, unsere Industriepolitik müssen sich progressiv zusammentun. Es geht zuerst um Europa, aber es geht auch um das Überleben unseres Systems der Sozialen Marktwirtschaft im Kontext der Globalisierung. Deutschland, Weltmeister oder nicht, und Frankreich, Tourismus Weltmeister oder nicht, können gegenüber Staaten wie China oder Indien nicht wettbewerbsfähig bleiben. Da müssen wir unsere Kräfte zusammentun. Es ist nicht die Aussage eines Idealisten sondern eben eines Realisten!
Unter meinem Vorsitz versuche ich, eng mit meinem Pendant der französisch-deutschen Freundschaftsgruppe im Bundestag Andreas Schockenhoff [gestorben im Dezember 2014] zusammenzuarbeiten. Diesen zielorientierten Kurs haben wir zusammen eingeführt und bis jetzt gehalten. Konkret versuchen wir, in Deutschland und in Frankreich gemeinsame Aktionen zu starten, wie neulich einen deutsch-französischen Brief an die Familienminister Deutschlands und Frankreichs für eine Konvergenz des Sorgerechts in unseren beiden Ländern. Wir arbeiten also mit konkreten Themen, die die deutsch-französischen Bürger betreffen, wie in diesem Fall die Familienpolitik, aber auch sehr viel über das zukünftige deutsch-französische Steuerrecht, Erbrecht oder wie bereits erwähnt Sozialrecht. Die deutsch-französische Beziehung muss konkret sein, so heißt unser Arbeitsmotto.
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Dr. phil. Claire Demesmay, geb. 1975, leitet das Programm Frankreich/deutsch-französische Beziehungen im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Kontakt: E-Mail Link: demesmay@dgap.org
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