Im Interview mit Sylvie Goulard
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Frankreich ist einer der Gründungsstaaten der Europäischen Union und dennoch ist die Bevölkerung voller Europaskepsis. Welche Erwartungen haben die Franzosen seit den 50er Jahren an die EU? Woher kommt der aktuelle Unmut über die EU? Antworten liefert Sylvie Goulard im Interview und macht Vorschläge, wie sich die Euroskepsis überwinden ließe.
Interview mit Sylvie Goulard
Was erhofft sich Frankreich von der Europapolitik traditionell und welche Erwartungen an Brüssel haben heute die französischen Entscheidungsträger?
Traditionell hat Frankreich von der Europapolitik etwas erwartet, dass nicht zustande kommen kann. Das heißt, dass Europa vielleicht den Franzosen eine Möglichkeit die Weltpolitik zu beeinflussen gibt, aber nach dem französischen Modell und das ist eine Illusion. Das ist für einen Teil der öffentlichen Meinung in Frankreich seit den 50er Jahren die Illusion. Es gibt aber auch gleichzeitig in Frankreich, das Land wo die europäische Integration geboren wurde, wo jemand wie [der Präsident der Europäischen Kommission Jacques] Delors nach der Eurosklerose der 80er Jahre die Dinge neu bewegt hat. Es gibt auch eine relativ kleine Minderheit von Leuten, die ein kleines bisschen besser wissen, was Europa ist und die von Europa ein klares Bild haben. Das heißt etwas, das uns hilft, gemeinsam mit anderen die Souveränität auf einer anderen Ebene aus zu üben, was selbstverständlich auch bedeutet, dass man anders entscheiden wird. Zum Beispiel der Euro, gemeinsame Verwaltung der Währung bedeutet nicht Verwaltung der Währung, wie füher in Frankreich, [sondern] bedeutet ständig Kompromisse mit den anderen Partnern [eingehen zu müssen].
Was sind die Erwartungen zurzeit? Ich würde sagen, es ist besonders schwierig zu wissen, was die Franzosen jetzt erwarten. Aus zwei Gründen. Erstens, es geht den Franzosen zurzeit besonders schlecht, psychologisch. Und für viele auch ganz konkret – die Arbeitslosigkeit ist viel höher als in Deutschland. Die Kluft zwischen manchen Regionen und den Großstädten hat sich auch vertieft. Das Gefühl, nicht mehr gehört zu werden, ist sehr präsent. Aber das hat sehr oft überhaupt nichts mit Europa zu tun. Es ist ein Problem mit der nationalen politischen Klasse, das man übrigens auch in Großbritannien beobachten kann. Dadurch wird Europa als Sündenbock angesehen. Wenn irgendetwas schlecht läuft, dann ist Europa schuld. Aber das hat mit einer rationalen Einschätzung der Handlung, der Fehler, weil die gibt es auch, von Europa sehr wenig zu tun.
Viele französische Bürger scheinen, immer mehr Abstand von der EU und von der Europapolitik zu nehmen oder nehmen zu wollen. Wie erklären Sie einen solchen Unmut zurzeit in Frankreich und was kann man überhaupt dagegen machen?
Man könnte sehr viel dagegen machen! Erstens damit anfangen, dass man nicht mehr falsche Informationen über Europa verteilt. Zum Beispiel, wenn der Premierminister sagt "Frankreich entscheidet alleine über den Haushalt". Es tut mir leid, mit allem Respekt gegenüber dem Premierminister, aber das ist falsch. Wir haben beschlossen, mit Verträgen, die wir freiwillig unterzeichnet haben, die ratifiziert worden sind und mit Verträgen, die in Brüssel in voller Transparenz verabschiedet worden sind, hat man beschlossen, im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion gemeinsam zu handeln. Wenn die Franzosen ständig solche falschen Informationen hören – und da rede ich von Leuten, die relativ pro-europäisch sind, ja, diese Regierung ist nicht anti-europäisch, überhaupt nicht -, dann weiß ich nicht...
Es würde schon ein großer Fortschritt sein, wenn die politische Klasse die Wahrheit sagt, das heißt den Rahmen erklärt, den rechtlichen, wirtschaftlichen Rahmen beschreibt, wie er ist und das man nicht nur denkt, man kann den Euroskeptizismus bekämpfen, wenn man ihn jeden Tag füttert. Das ist ein Monster, das man jeden Tag füttert und dann am Ende sagt man "oh, das ist ja erstaunlich. Die Bürger wollen kein Europa mehr". In Deutschland kann man auch hören, Verordnungswut aus Brüssel und so weiter und so fort. Diese Beschreibung von Brüssel als Feind ist meiner Meinung nach etwas Falsches. Das bedeutet nicht, dass es nichts zu kritisieren gibt. Es gibt viel zu kritisieren, wie in jeder menschlichen Institution, würde ich sagen. Was die Kommission macht oder entscheidet, kann selbstverständlich eine Debatte hervorrufen. Aber man darf nicht die Feinde verwechseln. Wichtig ist, dass wir uns weltweit rüsten, dass wir weltweit zusammen stark sind. Nicht, dass wir gegeneinander in Europa schimpfen.
Zur PersonSylvie Goulard
Sylvie Goulard ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments und gehört zur Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa. Als ordentliches Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) engagiert sie sich insbesondere für Fragen in Bezug auf die Gestaltung der Eurozone.
Die EU-Abgeordnete ist auch stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO).
Außerdem ist sie Präsidentin der interfraktionellen Arbeitsgruppe "Extreme Armut und Menschenrechte", die sich dafür einsetzt, den am meisten Benachteiligten eine Stimme im Europäischen Parlament zu geben.
Geboren 1964 in Marseille studierte Sylvie Goulard Jura am Institut d’études politiques in Paris und an der Elitehochschule ENA. Ihr beruflicher Weg führte sie zuerst ins französische Außenministerium und in den Conseil d’Etat, das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs. Im Anschluss, zwischen 2001 und 2004, arbeitete sie in Brüssel im Stab von Romano Prodi, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission. Zwischen 2006 und 2010 war sie Präsidentin der europäischen Bewegung Frankreichs.
Sylvie Goulard ist Autorin mehrerer Bücher: Europe : amour ou chambre à part ? (Europa: Liebe oder getrennte Zimmer?, 2013), De la démocratie en Europe (Zur Demokratie in Europa, 2012; zusammen mit Mario Monti); L'Europe pour les Nuls (Europa für Anfänger, 2007; Preis des Europäischen Buchs 2009); Le Grand Turc et la République de Venise (Der große Türke und die Venezianische Republik, 2004).
Mit 23 von 74 Europaabgeordneten stellt der rechtsextreme Front National die größte Gruppe unter den französischen Parteien im Europäischen Parlament. Was bedeutet das für die Arbeit im EP? Und für den Einfluss Frankreichs auf die Europapolitik?
Für die Arbeit vom Europäischen Parlament bedeutet das wenig, weil diese Leute nicht arbeiten. Das heißt, sie stören wenig, sie sind sehr laut, die werden leider mit dem Geld der Steuerzahler Europas bezahlt, um nur destruktiv zu argumentieren. Sie haben das wörtlich gesagt. Sie sind da, um die Europäische Union zu zerstören. Und das tut weh, wenn Leute in einer Institution sind, die als erklärtes Ziel nur deren Zerstörung haben. Ich glaube, wenn jemand in der Assemblée Nationale [im französischen Parlament], als Ziel die Zerstörung der französischen Republik hätte, würde es ein Unbehagen geben in Paris. Das wird leider im Europaparlament angenommen [akzeptiert], das heißt, sie [die Vertreter der euroskeptischen Parteien] arbeiten nicht. Sie können auch nicht sehr viel tun, weil sie nicht bereit sind, Kompromisse mit den anderen einzugehen.
Es gibt zwei Konsequenzen. Eine ist der Verlust an Einfluss für Frankreich, was letztendlich nur das Gefühl verstärken wird, die Franzosen spielen in Europa nicht mehr die Rolle, die sie in der Vergangenheit gespielt haben. Dafür sind die Franzosen hundertprozentig verantwortlich, wenn sie nicht die guten Leute, die engagierten Leute nach Brüssel schicken. Aber das kann dazu beitragen, das Gefühl des Verlustes an Einfluss zu verstärken. Zweitens, es ist indirekt gefährlich. Ich merke, wie alle Extremen, nicht nur die Rechtsextremen, sondern auch die Linksextremisten von GUE/NGL [Fraktion der "Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke"], die moderaten Abgeordneten manchmal beeinflussen. Das heißt, Mitglieder der CDU werden unter der Kontrolle [dem Einfluss] der AfD [Alternative für Deutschland] sein, die Sozialisten in Frankreich werden unter der Kontrolle[dem Einfluss] der Front de Gauche [französische Linke] sein. Das bringt mehr Ideologie in die Debatten, die bis jetzt oft nicht so ideologisch geprägt waren. Das war einer der Vorteile dieses Parlaments, meiner Meinung nach. Die Demokratie war da. Selbstverständlich hatte jeder versucht, die eigenen Ideen zu verteidigen, aber im Rahmen eines Konsenses über das Hauptziel. Das Hauptziel war, der europäischen Integration zu dienen. Jetzt sind wir in unsicheren Feldern eingetreten und die Tatsache, dass wir eine große Koalition haben, was die Notwendigkeit einer Übereinstimmung zwischen den Sozialisten und den Konservativen fast für jede Gesetzgebung notwendig macht, macht die Dinge auch schwieriger. Wir haben eine große Koalition ohne Koalitionsvertrag.
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Dr. phil. Claire Demesmay, geb. 1975, leitet das Programm Frankreich/deutsch-französische Beziehungen im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Kontakt: E-Mail Link: demesmay@dgap.org
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