Frankreich versteht sich als Mittelmeermacht und pflegt, neben seinen guten Kontakten zu den Staaten die es umgeben bis heute enge politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen zu seinen früheren Kolonien in Nordafrika. Ganz anders verhält es sich gegenüber dem ehemaligen "Ostblock": Obgleich sich die meisten der Länder nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Westen orientierten und im Zuge der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 zu politischen Nachbarländern und Partnern wurden, bringt Frankreich ihnen nur ein begrenztes Interesse entgegen. Die Beziehungen zum "Osten" wurden daher lange Zeit vor allem über das Verhältnis zu Russland definiert. Mit der wachsenden Bedeutung der Themen Sicherheit von EU-Außengrenzen und Energiepolitik sowie mit den ökonomischen Zwängen aufgrund der Wirtschaftskrise signalisiert jedoch auch Frankreich von Zeit zu Zeit Interesse an seiner östlichen Nachbarschaft.
Frankreich und die östliche Nachbarschaft: ein begrenztes Interesse
Der französischen Politik gegenüber den osteuropäischen Ländern liegt der Wille zur Verteidigung einer gemeinsamen europäischen Identität zu Grunde. Insbesondere während des Kalten Krieges blieben die Kontakte Frankreichs zur östlichen Nachbarschaft der damaligen EG begrenzt und so benötigte Frankreich nach 1989 einige Zeit, um sich der Bedeutung einer europäischen Ostpolitik bewusst zu werden. Angesichts der Osterweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 entbrannte zwischen den nördlichen und den südlichen EU-Mitgliedstaaten eine Debatte um die Initiative eines "Wider Europe": Während sich Deutschland und die nordeuropäischen Länder für eine starke EU-Politik nach Osten einsetzten, machte sich Frankreich gemeinsam mit Spanien und Italien zum Fürsprecher einer starken südlichen Dimension der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Unter dem Druck der südlichen EU-Mitgliedstaaten wurde letztendlich ein ENP-Budget verabschiedet, von dem zwei Drittel den Nachbarstaaten im Süden und nur ein Drittel den östlichen Nachbarn gewidmet war.
Jedoch rückt der Osten insbesondere in Krisenphasen, die den Frieden in Europa zu gefährden drohen, in den Fokus der französischen Politik. Dabei stützt sich Frankreich rhetorisch auf eine Verteidigung der Werte der Französischen Revolution und der EU. Entsprechend positiv reagierte Frankreich auf die Rosenrevolution in Georgien (2003) und die Orangene Revolution in der Ukraine (2004). Doch Frankreich hegt auch geostrategische Interessen in der Region. Vor allem die Ukraine und der Südkaukasus sind für die französische Energiepolitik von Bedeutung. Während seiner EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2008 setzte es sich daher für baldige Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ein. Zudem unterstützte Frankreich, trotz seiner klar formulierten Prioritätensetzung für den Süden die 2009 ins Leben gerufene Östliche Partnerschaft der EU und schuf im Jahr 2011 in Paris den Posten eines Botschafters für die Östliche Partnerschaft.
Bei der Bekämpfung der so genannten "frozen conflicts" (nicht gelösten Konflikten wie beispielsweise in Moldau/Transnistrien oder im Südkaukasus) in der direkten Nachbarschaft der EU nimmt Frankreich gar eine Schlüsselrolle ein: Gemeinsam mit Russland und den USA hat das Land die Präsidentschaft der "Minsker Gruppe" der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne, die 1992 ins Leben gerufen wurde, um eine friedliche Lösung des Berg-Karabach-Konflikts zu finden. Der Krieg zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008 fiel in die Zeit der französischen EU-Ratspräsidentschaft. Der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy handelte mit den Konfliktparteien einen Waffenstillstand aus und setzte sich gemeinsam mit Deutschland für eine EU-Beobachtermission in Georgien ein. Auch an den 5+2-Verhandlungen zwischen der Republik Moldau und Transnistrien, die im Jahr 2010 wieder aufgenommen wurden, beteiligt sich Frankreich auf der Seite der EU aktiv.
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist das Interesse französischer Firmen an der östlichen Nachbarschaft deutlich gestiegen. Im Fokus stehen dabei größere Absatzmärkte wie die Ukraine sowie Regionen, die von strategischer Bedeutung beispielsweise für den Energiesektor sind, darunter der Südkaukasus. Investitionen tätigen französische Unternehmen hauptsächlich in der Lebensmittelindustrie und Agrarwirtschaft, der Autoindustrie sowie in den Bereichen Transport, Energie und Luxusgüter. Die Wirtschaftskrise, wachsende Korruption sowie Defizite im Bereich der Rechtsstaatlichkeit schrecken jedoch ausländische Investoren zunehmend ab. Französische Wirtschaftsvertreter hoffen daher auf positive Impulse durch Verhandlungen über EU-Assoziierungsabkommen und über eine so genannte weitreichende und umfassende Freihandelszone (DCFTA), die auch zu einer Erleichterung der Visabestimmungen führen könnte. Deutsche und französische Arbeitnehmerverbände koordinieren zunehmend ihre Arbeit zu diesem Thema, unter anderem mit gemeinsamen Erklärungen und Vorschlägen.
Eine wichtige Rolle kommt der französischen Kultur- und Sprachpolitik im Osten zu. Zwei Länder der Östlichen Partnerschaft, Moldau und Armenien, sind Teil der Francophonie. In den meisten Ländern der östlichen Nachbarschaft existieren Kulturzentren und französische Lycées, in Tiflis befindet sich die "Französische Schule des Kaukasus" und Jerewan ist Sitz einer französischen Universität. Auch an europäischen Kooperationsprojekten wie TAIEX, Twinning
Frankreich und der südliche Mittelmeerraum: traditionell enge Bindungen
Im Gegensatz zur eher punktuellen und themenorientierten Kooperation mit der östlichen Nachbarschaft verbinden Frankreich und den südlichen Mittelmeerraum traditionell enge Beziehungen. Sie umfassen die Bereiche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen und wurzeln in der gemeinsamen Vergangenheit: Bis in die 1960er Jahre standen weite Teile Nordafrikas als Kolonien in unmittelbarer Abhängigkeit von Frankreich. Die kolonialen Einflusssphären in Afrika sicherten dabei den Weltmachtstatus Frankreichs, der ein zentrales Element des französischen Selbstbilds darstellt. Nach dem Ende des Kolonialreichs (Algerienkrieg) versuchte Staatspräsident De Gaulle (1959-1969), den drohenden Einflussverlust Frankreichs im Mittelmeerraum durch eine strategische "politique arabe" abzuwenden. Sie setzte darauf, die privilegierten Beziehungen zwischen Frankreich und den Maghreb-Staaten aufrechtzuerhalten, und prägt bis heute die französische Mittelmeerpolitik.
Über Jahrzehnte beruhten die politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Nordafrika in starkem Maße auf engen persönlichen Bindungen zwischen den französischen Präsidenten und den Staatschefs der südlichen Partnerländer sowie auf einem engmaschigen Gefüge politischer und diplomatischer Beziehungen. Weitverzweigte formelle wie informelle Netzwerke sichern bis heute den französischen Einfluss auf die Politik der Nachbarstaaten. Im Fokus des französischen Interesses stehen dabei neben Handel und Energiefragen vor allem sicherheitspolitische Aspekte. So sind die nordafrikanischen Staaten zentrale Partner in der Bekämpfung von Kriminalität und illegaler Migration im Mittelmeerraum, die besonders für die südlichen EU-Mitgliedstaaten eine Herausforderung darstellt. Gemeinsam mit Italien und Spanien setzt sich Frankreich daher auch auf EU-Ebene für eine starke südliche Dimension der Europäischen Nachbarschaftspolitik ein, die ebenfalls die Stabilität Nordafrikas zum Ziel hat. Eine Vielzahl der EU-Maßnahmen im südlichen Mittelmeerraum werden durch Frankreich umgesetzt, darunter beispielsweise 80 Prozent der Twinning-Projekte zum Verwaltungsaufbau in den Partnerländern.
Auch eine im Jahr 2007 vom damaligen Präsidenten Sarkozy vorgeschlagene Union der Mittelmeeranrainerstaaten, die nach Protesten Deutschlands und anderer EU-Mitglieder inzwischen in das gesamteuropäische Projekte einer "Union für das Mittelmeer" weiterentwickelt wurde, zeugt vom französischen Selbstverständnis als Mittelmeermacht. Dabei steht die Pflege der privilegierten Beziehungen Frankreichs zu Nordafrika nicht zuletzt im Dienste wirtschaftlicher Interessen. So ist Frankreich für Marokko und Tunesien der mit großem Abstand wichtigste Handelspartner und belegt auch in den Handelsstatistiken von Algerien und dem Libanon einen der vorderen Plätze. Französische Unternehmen sind auf den großen Absatzmärkten der Region äußerst präsent und insbesondere die Staatsunternehmen profitieren von der engen Verflechtung der politischen Eliten auf beiden Seiten des Mittelmeers. Neben den Exporten in die Region ist Frankreich insbesondere an Rohstoffen aus Nordafrika interessiert, die für den französischen Energiesektor von zentraler Bedeutung sind. Die Dominanz wirtschaftlicher Aspekte in den euro-mediterranen Beziehungen und die starke ökonomische Komponente der multilateralen Instrumente der EU-Nachbarschaftspolitik sind daher auch auf den Einfluss Frankreichs zurückzuführen.
Selbst auf handgemachten Straßenschildern ist der französische Einfluss in Marokko bis heute sichbar. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de
Selbst auf handgemachten Straßenschildern ist der französische Einfluss in Marokko bis heute sichbar. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de
Neben den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zeugt die Vielzahl französischer Sprach- und Kultureinrichtungen in Nordafrika von der nach wie vor starken Bindekraft der Francophonie im gesellschaftlichen Bereich. Der hohe Verbreitungsgrad der französischen Sprache im Maghreb erleichtert den Austausch zwischen den Gesellschaften und die Mobilität, etwa von nordafrikanischen Studenten nach Frankreich. Auch durch die Prioritätensetzung der französischen Entwicklungspolitik wird der Einfluss Frankreichs in Nordafrika gestärkt, zählen doch Algerien, Marokko, Tunesien und der Libanon zu so genannten "Zonen vorrangiger Solidarität" mit einer hohen Präsenz französischer Entwicklungshilfeorganisationen. Vor allem jedoch stärken die großen Bevölkerungsgruppen maghrebinischen Ursprungs in Frankreich die Bindungen zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers durch familiären Austausch und Arbeitsmigration und stellen eine wichtige Interessengruppe in der Gestaltung der französischen Politik im Süden dar.
Die Rolle nationaler Interessen in der Nachbarschaftspolitik
Die französische Nachbarschaftspolitik erweist sich als komplex. Grundsätzlich definiert sich Frankreich als mediterraner Staat mit einem klaren politischen Interessenschwerpunkt in seiner südlichen Nachbarschaft. Insbesondere in Fragen der Sicherheits- und Energiepolitik jedoch richtet sich Frankreichs Interesse sowohl nach Süden als auch nach Osten. Hierin spiegelt die französische Position die Grundzüge der deutschen Nachbarschaftspolitik: Obwohl Deutschland, bedingt durch historische Entwicklungen und geografische Nähe, eine besondere Beziehung zu seiner östlichen Nachbarschaft pflegt, hat es insbesondere im sicherheits- und energiepolitischen Bereich zugleich klare Interessen im Süden, die sich mit der Entwicklung des "Arabischen Frühlings" zusätzlich verstärkt haben. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer deutsch-französischen Zusammenarbeit in den genannten Politikbereichen werden jedoch nur selten genutzt, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass insbesondere die Politikfelder Sicherheit und Energie nach wie vor stark von nationalen Interessen geprägt sind. Dies schränkt auch den Spielraum einer koordinierten europäischen Nachbarschaftspolitik sowohl im Süden als auch im Osten deutlich ein. Auch künftig wird Frankreich bemüht sein, trotz seiner privilegierten Beziehungen zum Süden auch in der östlichen Nachbarschaft seine Interessen zu wahren und damit sein Rollenverständnis als "Mittelstaat" mit internationalem Einfluss zu erfüllen.