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Das französische Wirtschaftsmodell: Marktwirtschaft mit starkem Staat | Frankreich | bpb.de

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Das französische Wirtschaftsmodell: Marktwirtschaft mit starkem Staat

Henrik Uterwedde

/ 6 Minuten zu lesen

In Frankreich wird der Lenkungsanspruch des Staates gerne rhetorisch beschworen, aber die wirtschaftspolitische Praxis hat sich in den letzten drei Jahrzehnten stark verändert und unterscheidet sich heute nicht mehr grundlegend von derjenigen in Deutschland. Beide Länder teilen ein gemeinsames Leitbild: eine regulierte Marktwirtschaft, die Wettbewerb und sozialen Ausgleich miteinander zu verbinden sucht.

Das französische Wirtschaftsministerium am Rand der Seine in Paris. (Jean-François Gornet) Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de

Zu den Gebieten, auf denen zwischen Deutschen und Franzosen oft Unverständnis herrscht und auf denen die Zusammenarbeit beider Regierungen sich immer wieder schwierig gestaltet hat, zählt in allererster Linie die Wirtschaftspolitik. Dies ist nicht neu: Immer wieder sind im Verlauf der vergangenen 50 Jahre die Vorstellungen und Handlungsansätze beider Länder aufeinander gestoßen, was oft genug eine gemeinsame europäische Politik erschwert hat. Dabei hat man in Deutschland dem französischen Nachbarn regelmäßig einen übermäßigen staatlichen Dirigismus (also den Hang zum ständigen "Hineinregieren" in die Wirtschaft) oder auch eine Neigung zum Protektionismus (den Schutz der heimischen Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz) vorgeworfen. Die Wirklichkeit ist vielschichtiger: Zwar wird in der politischen Rhetorik Frankreichs gerne der starke Staat und sein Recht zur Steuerung der Wirtschaft beschworen, auch ist der staatliche Interventionismus stärker als in Deutschland; dennoch hat sich die Praxis in Frankreich in den letzten drei Jahrzehnten stark verändert und unterscheidet sich heute nicht mehr grundlegend von derjenigen in Deutschland.

Modernisierung als staatliche Aufgabe

Nach 1945 allerdings hatten sich in Frankreich und in Deutschland zwei Wirtschaftsmodelle und wirtschaftspolitische Leitbilder entwickelt, die zumindest auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein konnten: Dem (west-)deutschen Modell der Sozialen Marktwirtschaft, demzufolge der Staat eine begrenzte Rolle in der Wirtschaft spielen sollte, stand in Frankreich eine sehr weitgehende staatliche Steuerung entgegen, die auf zahlreiche Instrumente zurückgreifen konnte: Verstaatlichung, Wirtschaftsplanung, Industriepolitik, Preiskontrolle und vieles mehr.

Es gibt zwei Gründe für diesen französischen Weg nach 1945. Zum einen hatte sich eine politische Kultur herausgebildet, die auf die Interner Link: Französische Revolution von 1789 zurückgeführt werden kann. Die französische Idee der demokratischen Republik spricht dem Staat, also der (demokratisch gewählten und damit legitimierten) Regierung das Recht und in gewisser Weise sogar die Pflicht zu, die Entwicklung der Wirtschaft zu steuern und ihre Strukturen aktiv zu beeinflussen. Bis heute wird sehr schnell der Ruf nach dem Staat laut, wenn es wirtschaftliche Probleme gibt. Zwar wird die Marktwirtschaft mittlerweile akzeptiert (allerdings oft nur widerwillig), dennoch ist ein gewisses Misstrauen immer vorhanden und kann schnell mobilisiert werden. Der Markt sei "kurzsichtig", hat der konservative Präsident Interner Link: de Gaulle einmal gesagt. Es gilt der Primat der Politik, also der Vorrang der politischen Akteure vor Märkten und Unternehmen.

Zum anderen stand Frankreich am Ende des Zweiten Weltkrieges vor einem gewaltigen Modernisierungsproblem. Wirtschaft und Gesellschaft hatten sich seit dem 19. Jahrhundert nur zögerlich entwickelt und den Strukturwandel in vielen Bereichen nur sehr langsam vorangetrieben. Im Ergebnis wies die französische Wirtschaft 1945 einen erheblichen Modernisierungsrückstand auf: Das Land war noch stark landwirtschaftlich geprägt; anders als bei seinen Nachbarn wie Deutschland oder Großbritannien hatte sich eine moderne Industrie nur in Ansätzen entwickelt. Alle Parteien sowie alle politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen, die nach Kriegsende die Schalthebel übernahmen, waren sich deshalb einig: Frankreich muss sich in einer großen Kraftanstrengung zügig modernisieren, um den Anschluss an die Nachbarn, vor allem an Deutschland, nicht zu verlieren ("Modernisierung oder Dekadenz" lautete damals ein populärer Slogan). Ebenso einig war man sich, dass diese Modernisierung nicht den freien Marktkräften überlassen werden könne, sondern einer ordnenden, steuernden Hand bedürfe: dem Staat und seiner Verwaltung.

Deshalb wurden fast alle Banken und Versicherungen verstaatlicht und eine mittelfristige Investitionsplanung eingeführt; die Industriepolitik versuchte, die sektorale Entwicklung in die gewünschte Richtung zu lenken, und technologische Großprojekte sollten Frankreich zum High-Tech-Land machen (etwa bei Luft- und Raumfahrt, Kernkraft, Hochgeschwindigkeitszügen etc.). In den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten hat es diese staatsgesteuerte Modernisierung in der Tat vermocht, einen Sprung in die Moderne zu vollziehen und Frankreich als zeitgemäße Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu etablieren. Dieser Erfolg hat den Glauben an den Staat und seine Fähigkeit zur effektiven Steuerung der Wirtschaft in den Augen vieler Franzosen weiter gefestigt. Ein grundlegender Wandel

Allerdings setzten sehr bald auch Veränderungen ein. Die 1958 beginnende europäische Integration setzte nationaler Strukturlenkung immer engere Grenzen: zunächst mit der Zollunion, später mit der Wettbewerbspolitik, der Subventionskontrolle und den Spielregeln des gemeinsamen Binnenmarkts. Immer öfter wurde Frankreich, wie auch andere Mitgliedstaaten, gezwungen, nationale Reglementierungen zugunsten eines freien europäischen Personen-, Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs aufzugeben. Diese und die immer engere europäische Wirtschaftsverflechtung förderten eine allmähliche Liberalisierung, also einen Abbau staatlicher Kontrollen auf vielen Gebieten. Dazu kam, dass die vom Staat gesteuerte Modernisierung nicht nur für Erfolge, sondern auch für eine Reihe von Schwächen verantwortlich war. Dies beschleunigte weitere Reformen und den Abbau staatlicher Interventionen, vor allem nach einem Kurswechsel der sozialistischen Regierung ab 1983.

Der Eurostar der SNCF. Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de

Heute ist von dem einst umfangreichen Arsenal des staatlichen Dirigismus nur noch wenig übrig geblieben. Die Wirtschaftsplanung ist schon seit Jahrzehnten aufgegeben worden; vom umfangreichen staatlichen Wirtschaftssektor, der bis 1986 alle Banken, Versicherungen sowie 1982 auch die größten Industriekonzerne erfasst hatte, ist nach zahlreichen Privatisierungen kaum noch etwas übrig geblieben; eine Ausnahme stellen lediglich einige Unternehmen dar wie Renault, EDF und GDF-Suez (Energie), France Telecom, die Post oder die Bahngesellschaft SNCF, in denen der Staat noch Minderheits- oder Mehrheitsbeteiligungen innehat. Die Industriepolitik hat längst ihren Anspruch aufgegeben, die französische Sektorenstruktur zu steuern, und einer allgemeinen Industrieförderung Platz gemacht. Preis- oder Kapitalverkehrskontrollen gehören seit langem der Vergangenheit an; staatliche Subventionen an Unternehmen sind wie in den Nachbarländern einer strengen EU-Kontrolle unterworfen. Kurz: Frankreichs Wirtschaftsordnung unterscheidet sich nicht mehr grundsätzlich von derjenigen Deutschlands.

Einige Besonderheiten bleiben

Dennoch bleiben einige Besonderheiten. Mehr noch als in Deutschland bleibt der Staat weiterhin ein wichtiger und sichtbarer Akteur in der Wirtschaft. Wichtiger, weil Politiker sich gerne als Retter von Unternehmen zeigen und dabei auch schon einmal den Chefs privater Unternehmen ins Steuer greifen. So zeigte der konservative Staatschef Nicolas Sarkozy (2007-2012) keinerlei Hemmungen, die Energieunternehmen EDF (staatlich) und Suez (privat) zu fusionieren, um den Übernahmeversuch eines italienischen Konzerns zu verhindern. Er war es auch, der die französischen Sparkassen und Volksbanken zu einem Zusammenschluss drängte – und ihnen dann auch noch einen engen Mitarbeiter als neuen Chef präsentierte. Hier kommt die oben erwähnte politische Kultur zur Geltung, aber auch die Tatsache, dass viele Politiker, Spitzenbeamte und Unternehmenschefs auf denselben Pariser Interner Link: Eliteschulen ausgebildet wurden, sich gut kennen und oft durch diverse Netzwerke miteinander verbunden sind. All dies bietet Möglichkeiten gerade auch der informellen Einflussnahme. Schließlich treten die Unternehmen dem Staat insgesamt weniger eigenständig und selbstbewusst gegenüber als in Deutschland.

Staatliche Interventionen sind in Frankreich auch sichtbarer, weil der Ruf nach dem Staat öfter und lauter erschallt als in Deutschland. Als beispielsweise im November 2012 ein Stahlwerk im lothringischen Ort Florange von der Schließung bedroht war, drohte der zuständige Minister mit Verstaatlichung. Auch wenn diese dann nicht zustande kam: In weiten Teilen der Öffentlichkeit kommen derartige rhetorische Kraftmeiereien gut an. Hinzu kommt, dass mit "Staat" in Frankreich immer der Zentralstaat in Paris gemeint ist, während in Deutschland öffentliche Regulierungen von vielen Akteuren auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen werden (Bund, Länder, Verbände und Sozialpartner, unabhängige Institutionen) – und damit weniger durchschaubar sind und weniger auffallen als in Frankreich.

Leitbild der Marktwirtschaft

Grundsätzlich kommt der französische "Staatsdirigismus" vor allem in der Rhetorik der Politik zum Ausdruck, während die wirtschaftspolitische Praxis in der Regel viel stärker marktwirtschaftlichen Grundsätzen folgt. Nimmt man hinzu, dass in Deutschland gerne von Marktwirtschaft geredet, oft aber "dirigistischer" gehandelt wird, so kann man sagen, dass die Unterschiede zwischen beiden Ländern in der politischen Rhetorik sehr groß erscheinen, in der Praxis aber eher gradueller und nicht grundsätzlicher Natur sind. Mehr noch: Im Kern teilen Deutschland und Frankreich das Leitbild einer Marktwirtschaft, die durch Regeln und Ordnungen eingerahmt wird und die darüber hinaus soziale Gerechtigkeit anstrebt (zum Beispiel durch einen ausgebauten Sozialstaat oder durch öffentliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge). Auch wenn sie oft unterschiedliche Wege gehen wollen, um diesem Leitbild zu folgen, und dies aufgrund unterschiedlicher Problemlagen manchmal auch tun müssen: Deutsche und Franzosen stehen sich näher, als ihnen oft bewusst ist.

Weitere Inhalte

Henrik Uterwedde, geb. 1948, ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle des Staates, Probleme der Wirtschaftspolitik in Frankreich und Deutschland sowie die Rolle beider Länder in Europa.