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Frankreich ist eine Sprache | Frankreich | bpb.de

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Frankreich ist eine Sprache

Jürgen Trabant

/ 8 Minuten zu lesen

In Folge des Vertrags von Maastricht hat Frankreich 1992 das Französische als "Sprache der Republik" in den Artikel 2 seiner Verfassung hineingeschrieben, die französische Sprache also gleichsam in den Körper des Staates aufgenommen. Dies beweist den hohen politischen Rang, den es seiner Sprache gibt.

Das Institut de France im Collège des Quatre Nations in Paris. Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Auffällig ist, dass Frankreich außerordentlich empfindlich reagiert, wenn seine Sprache im Spiel ist. Man achtet bei unseren Nachbarn auf die Sprache, man "verteidigt" das Französische, man schützt es gegen allerlei innere und äußere, wirkliche und eingebildete Angriffe. Ein Grund dafür ist, dass die Gegenwart des Französischen in Frankreich und in der Welt nichts Selbstverständliches oder irgendwie natürlich Gewachsenes ist, sondern des Ergebnis langer und anstrengender politischer Bemühungen. Eine solche Errungenschaft gibt man nicht leichtfertig preis.

Die Sprache als politische Angelegenheit

Das Französische ist bekanntlich eine romanische Sprache, das heißt eine jener Sprachen, die aus dem volkstümlich gesprochenen Latein hervorgegangen sind, das sich im Westen des Römischen Reiches ausgebreitet hatte. Bis ins späte Mittelalter war aber – wie überall in Westeuropa – auch in Frankreich das Lateinische als Sprache der Kirche, der Macht und des Rechts die geschriebene hohe Sprache der Bildung.

Im 16. Jahrhundert verfügte der französische König im Rahmen einer Reform des Königreiches, dass die offiziellen Dokumente in Verwaltung und Gerichtsbarkeit auf Französisch zu verfassen seien. Dies war der Startschuss für das Vorrücken der Volkssprache auf die Gebiete des Lateinischen. Charakteristisch für die Entwicklung in Frankreich ist die Tatsache, dass – anders als in Deutschland oder in Italien – die Politik die entscheidende Rolle für diese Erhöhung der Volkssprache spielte. Mit dem Schritt, das Französische zur offiziellen Sprache seines Reiches zu machen, hatte sich der König nicht nur für die Verdrängung des Lateinischen aus dem Bereich des Staates und der Politik entschieden, sondern auch für die Auswahl einer bestimmten geographischen Varietät des Französischen als Staatssprache: Mit "français" ist nämlich die Sprache des Zentrums, der Ile de France bzw. von Paris gemeint.

Grammatiker und Wörterbuchschreiber begannen mit der Kodifizierung, also der Festlegung einer Norm, und dem weiteren Ausbau der Sprache für die vielfältigen Aufgaben einer Kultursprache. Auch diese Aufgabe übernahm in Frankreich der Staat: 1635 gründete Kardinal Richelieu die Académie française, deren Aufgabe darin bestehen sollte, die Sprache "rein und eloquent zu machen und sie zu befähigen, die Künste und Wissenschaften zu behandeln". Mit dem Gebot der "Reinheit" wurde der Ort der Sprache näher bestimmt: es sollten weder Wörter aus den Provinzen noch aus der Fremde zu ihr gehören, vor allem aber durften keine Wörter aus den niederen Schichten des Volkes in diese Sprache eingehen. Ihr Ort, so der einflussreichste Sprachnormierer der Akademie, Claude Favre de Vaugelas, sei ausdrücklich der Hof, also der gesellschaftlich höchste Ort des Landes. Gutes Französisch fand sich im Zentrum der politischen Macht. Die Forderung nach "Eloquenz" meint den ästhetischen Schmuck im literarischen Gebrauch der Sprache. Und die dritte Forderung zielt auf einen fachsprachlichen Ausbau des Französischen.

Ursprünglich sollte die Académie française ein Wörterbuch, eine Grammatik und eine Rhetorik verfassen. Tatsächlich beschäftigt sie sich seit nunmehr fast vierhundert Jahren mit der Abfassung eines französischen Wörterbuchs. Es ist eine immerwährende Kodifizierungs- und Ausbau-Arbeit, in der die "richtigen" Wörter mit ihren "richtigen" Bedeutungen festgeschrieben werden und der Wortschatz an neue Lebensumstände angeglichen wird. Die französischen Könige, Kaiser oder Präsidenten berufen seit vierhundert Jahren verdiente Schriftsteller in diese hoch angesehene Institution, die der Pflege der Sprache verpflichtet ist. Auch wenn die französische Akademie in der etwas älteren italienischen Accademia della Crusca ein Vorbild hatte und auch wenn andere Länder Akademien nach dem Vorbild Frankreichs gegründet haben, so kennt doch kein anderes Land Europas eine solch prestigereiche und aufwändige staatliche Fürsorge für die Sprache. Diese wird in unserer Zeit noch durch andere Einrichtungen verstärkt.

Sprachpolitik im Dienst der Einheit der Nation

Allerdings blieb diese staatlich normierte und gepflegte Sprache zunächst ausdrücklich Angelegenheit einer kleinen gesellschaftlichen Elite. Nur die Aristokratie und die literarisch und wissenschaftlich Gebildeten bemühten sich um die Realisierung dieser Sprachnorm, das "Volk" hatte daran zunächst keinen Anteil. Das elitäre, höfische Französisch breitete sich aber in ganz Europa aus: Ab dem 17. Jahrhundert war Frankreich das politisch und kulturell dominierende Land in Europa, die europäische Aristokratie nahm den französischen Lebensstil und auch die französische Sprache an. Friedrich II. von Preußen ist ein berühmtes Beispiel. Ende des 18. Jahrhunderts feierte der Schriftsteller Antoine Rivarol stolz die "Universalität der französischen Sprache", also ihre weltweite Verbreitung.

Aber in Frankreich selbst war das Französische durchaus nicht "universell". Als die aufgeklärten französischen Intellektuellen in der Revolution ein demokratisches Regime errichten wollten, stellten sie rasch fest, dass das Volk, der neue Herrscher, nicht recht an seiner Herrschaft teilnehmen konnte. Es gab nämlich zwei große Hindernisse: Das Volk konnte nicht lesen und schreiben und ein großer Teil des Volkes sprach kein Französisch, also nicht einmal einen französischen Dialekt, sondern andere Sprachen: Der gesamte Süden sprach Okzitanisch, außerdem wurde Deutsch, Italienisch, Katalanisch, Baskisch, Bretonisch und Flämisch auf dem Territorium der französischen Republik gesprochen. Für beide Hindernisse der Herrschaft des Volkes (das ja mitsprechen muss in der Demokratie) bestand nur eine Lösung: ein allgemeines Schulwesen. Im Gegensatz zu den protestantischen Ländern, wo das Bibellesen seit dem 16. Jahrhundert zu einer für Christen notwendigen Sprachfähigkeit gehörte, war in Frankreich ein öffentliches Schulwesen bis zur Revolution kaum ausgebaut. Die von den Revolutionären ins Auge gefassten Schulen sollten nun endlich die schon Französisch sprechenden Franzosen zum Lesen und Schreiben befähigen, vor allem aber sollten sie das kommunikative Haupthindernis überwinden, die Regionalsprachen. "Die eine und unteilbare Republik braucht die eine und unteilbare Sprache", forderte der jakobinische Sprachpolitiker François-Urbain Domergue.

Das war der historische Moment, in dem die Sprache als wesentliches Element in das politische Konzept der souveränen Nation aufgenommen wurde. Die republikanische Vorstellung von der Sprache als Bindemittel der staatlichen Einheit ist eine französische Erfindung. Und sie ist gerade in Frankreich mit solcher Leidenschaft vorgetragen worden, weil es eine sprachliche Einheit nicht gab, als das Volk an die Macht kam. Dies ist ein weiterer Grund für die starke Präsenz der Sprache im politischen Selbstbild Frankreichs. Dass das Französische die Sprache der Republik ist, ist auch deswegen 1992 in die Verfassung geschrieben worden, weil dies alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Zum Zeitpunkt der Französischen Revolution war das nicht der Fall, also nur zweihundert Jahre vor der Integration der Sprache in den Körper der Republik. Und es bedurfte einer ungeheuren Anstrengung der Nation, bis aus der Forderung der Revolution ("soll sein") die Feststellung einer Tatsache wurde: "Die Sprache der Republik ist das Französische".

Die erste Französische Republik konnte nämlich ihre Vorstellung eines sprachlich einheitlichen Staatsvolkes nur denken, nicht aber durch reale Maßnahmen der Volkserziehung verwirklichen. Das gelang erst – dann allerdings mit durchschlagendem Erfolg – der Dritten Republik hundert Jahre später: Jules Ferry, Erziehungsminister und Ministerpräsident Frankreichs, etablierte 1882 ein obligatorisches, kostenfreies und laizistisches Schulwesen, das innerhalb von drei Generationen den Franzosen Französisch beibrachte – und dabei die vermeintlichen Gegenspieler der Republik, die Regionalsprachen, aus den Köpfen und Mündern der Franzosen vertrieb. Man kann davon ausgehen, dass die Franzosen in den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der Schule der Republik endlich Französisch gelernt haben. Was haben sie da gelernt? Nun, sie haben im wesentlichen jene Sprache gelernt, die die Gebildeten der vorherigen Jahrhunderte als Norm geschaffen haben: als Schriftsprache und als gesprochene Sprache in den höheren Redefeldern, in der Literatur, in der Verwaltung, im Rechtswesen und in Wissenschaft und Technik. Ich meine damit nicht, dass nun jeder Bauer in der Bretagne oder einer anderen Provinz redet und schreibt wie ein Schriftsteller in Paris. Aber die gebildete Sprache war – und ist – die Norm, an der sich die Schule der Republik ausgerichtet hat und die sie mit großem Erfolg zu verbreiten wusste. Auch diese kollektive Erfahrung eines späten nationalen Spracherwerbs macht das Französische den Franzosen kostbar.

Englisch, die neue Gefahr

Die Regionalsprachen sind in der Mitte des 20. Jahrhunderts als innere Gegner der Sprache der Republik überwunden worden. Da die Franzosen ja nun Französisch können, stellen diese Sprachen keine Gefahr mehr dar für die Einheit der Republik. Sie sind daher auch im Jahr 2008 nach vielem Hin und Her als nunmehr harmloses Stück regionaler Vielfalt, gleichsam als ehrwürdiges Erbstück (patrimoine), in die Verfassung aufgenommen worden (Art. 75-1). Aber nun griff ein anderer Gegner das Französische an: Das Englische hat seit dem Ende des Ersten Weltkriegs das Französische aus seiner Rolle als wichtigste internationale Sprache vertrieben, die es seit dem 18. Jahrhundert innehatte.

Im Ersten Weltkrieg trat neben das britische Empire ein starkes Amerika auf die Weltbühne. Die Versailler Verträge wurden nicht mehr nur auf Französisch geschrieben, sondern auch auf Englisch. Dies war eine schwere Kränkung der Überzeugung Frankreichs von der Weltgeltung seiner Sprache. Der Aufstieg des Englischen zur Globalsprache war unaufhaltsam. Hinzu kam, dass das international triumphierende Englisch auch noch massiv ins Französische selbst eindrang, und dass auch in Frankreich zunehmend auf bestimmten Gebieten Englisch gesprochen oder geschrieben wird.

Gegen beide Entwicklungen setzte der französische Staat eine eindrucksvolle staatliche Verteidigungspolitik in Gang. Er schuf einen aufwändigen Mechanismus zur Ersetzung englischer Wörter durch französische. In den Ministerien werden Vorschläge für französische Entsprechungen englischer Fachtermini erarbeitet, die eine Terminologie-Kommission und die Académie française absegnen müssen. Zwar kann der Staat seine Bürger nicht zur Verwendung dieser neuen Wörter zwingen, aber die staatlichen Organe müssen sich an die Vorschläge halten. Dass wie in Deutschland ein Wissenschaftsminister eine Förderinitiative mit dem albernen Spruch "Brain up!" in die Welt setzt, ist in Frankreich undenkbar. Das Gesetz über den Gebrauch der französischen Sprache von 1994 schreibt darüber hinaus vor, dass Produkte und Dienstleistungen auf Französisch angeboten werden, dass im öffentlichen Raum Französisch geschrieben wird, und es fordert ausdrücklich das Französische als Sprache des Schulwesens. Es dürfen natürlich auch in Frankreich wissenschaftliche Kongresse in englischer oder einer sonstigen Sprache abgehalten werden, nur muss auch auf Französisch darüber informiert werden, was auf der Tagung geschieht.

Mit Hilfe des Festhaltens an seiner Sprache im öffentlichen Raum und in den höheren Redefeldern versucht Frankreich auch, seine Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien aufrechtzuerhalten. Die sogenannte Francophonie schafft politische, ökonomische und kulturelle Verbindungen, die sich ohne die gemeinsame Sprache vermutlich in der globalen englischsprachigen Welt auflösen würden.

Frankreich hat eine ganze Behörde zur Koordinierung und Regulierung dieser und anderer sprachpolitischer Maßnahmen eingerichtet: die DGLF, Délégation générale à la langue française, die sich kürzlich um zwei weitere Buchstaben erweitert hat: LF, "langues de France". Die einmal wütend bekämpften Regionalsprachen sind damit sanft in die Obhut des Staates genommen worden.

Sicher hat der damalige Präsidentschaftskandidat Sarkozy übertrieben, als er bei einer Wahlkampfrede im März 2007 ausrief: "La France c’est une langue", "Frankreich ist eine Sprache", und als er Französisch als Sprache der Menschheit pries. Aber er hat damit gewiss den meisten seiner Mitbürgern aus der Seele gesprochen, die, gleichgültig ob links oder rechts, mit ihm von der Größe und der kulturellen Bedeutung ihrer Sprache überzeugt sind.

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Jürgen Trabant, geb. 1942, ist Romanist und lehrt als Professor für europäische Mehrsprachigkeit an der Jacobs University Bremen.