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Das französische Sozialsystem | Frankreich | bpb.de

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Das französische Sozialsystem

Dominik Grillmayer

/ 7 Minuten zu lesen

Der vergleichsweise junge französische Sozialstaat gilt aufgrund seines hohen Leistungsniveaus als nationale Errungenschaft. Sinkendes Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit haben jedoch in den letzten Jahrzehnten tiefe Finanzlöcher in die Sozialversicherung gerissen und einen Reformstress ausgelöst, der das System zu einer Dauerbaustelle werden ließ. Eine langfristige Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme wird maßgeblich davon abhängen, ob Frankreich wirtschaftlich wieder in die Erfolgsspur zurückfindet.

Sécurité sociale: institutioneller Kern des französischen Sozialstaats. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Der Sozialstaat in Frankreich ist in seinem Kern nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden und reicht damit nicht so weit zurück wie in Deutschland, wo Otto von Bismarck schon in den 1880er Jahren eine Kranken- und Unfallversicherung eingeführt hatte. Im Zuge der Industrialisierung haben französische Arbeiter sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in genossenschaftlichen Vereinigungen (so genannten Mutuelles) zusammengeschlossen, um sich nach dem Prinzip der Solidarität gemeinsam gegen Lebensrisiken wie Krankheit und Invalidität abzusichern. Diese Vorsorge entwickelte sich in der Folge zur bevorzugten französischen Lösung der sozialen Frage, während der Staat in Bezug auf die Gewährleistung sozialen Schutzes lange Zeit außen vor blieb.

Ein relativ junger Sozialstaat

Erst um die Jahrhundertwende setzte sich die Überzeugung durch, dass der Staat die Pflicht hat, sich um die Schwächsten der Gesellschaft zu kümmern. Durch die Sozialgesetze der Jahre 1893 und 1905 wurde daher die Fürsorge für Bedürftige (aide sociale) eingeführt. Die arbeitsfähige Bevölkerung war indes zur Absicherung von Risiken weiterhin auf Selbsthilfe angewiesen. Nach dem Scheitern eines ersten Anlaufs zur Einführung einer gesetzlichen Sozialversicherung zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in den Jahren 1928 und 1930 zur Verabschiedung einer Sozialgesetzgebung, die ein Versicherungssystem nach deutschem Vorbild etablieren sollte, das in der Praxis jedoch nie vollständig umgesetzt wurde. Erst nach der Befreiung 1944 gelang schließlich die Schaffung eines staatlichen Systems sozialen Schutzes, das ursprünglich alle Franzosen absichern sollte. Da aber – wie eingangs erwähnt – die meisten Berufsgruppen jeweils ihre eigene Genossenschaft gegründet hatten, um sich gegenseitig abzusichern, war über die Jahrzehnte eine Vielzahl von Organisationen entstanden, die letztlich nicht unter dem Dach einer einzigen Sozialversicherung zusammengeführt werden konnten. Dies lag vor allem daran, dass Angehörige einzelner Branchen sich vehement gegen diese Vereinheitlichung wehrten, weil sie befürchteten, in dem neuen System schlechter gestellt zu sein als vorher. Neben einer allgemeinen gesetzlichen Sozialversicherung für die große Mehrheit der Arbeiter und Angestellten gibt es daher bis heute Sondersysteme für bestimmte Berufsgruppen (etwa Landwirte und Selbständige) und sogar für einzelne Unternehmen (wie beispielsweise die französische Staatsbahn SNCF).

Eine immer schwerer belastete Sozialversicherung

Die gesetzliche Sozialversicherung (Sécurité sociale) als institutioneller Kern des französischen Sozialstaats deckt zunächst die Risiken Krankheit, Alter sowie Berufsunfälle und -krankheiten ab. Interessant aus deutscher Sicht ist, dass auch die Familienförderung als Sozialversicherungszweig etabliert wurde. Dies geschah zunächst aus bevölkerungspolitischen Motiven: Um die Interner Link: demografische Entwicklung zu fördern, sollten Familien keine Nachteile gegenüber Kinderlosen entstehen. Der Lastenausgleich für Eltern und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zählten daher von Beginn an zu den Prioritäten der französischen Familienförderung. Heute dient sie zunehmend auch zur Prävention von Armut, von der vor allem Alleinerziehende und deren Kinder bedroht sind.

Seit 1958 gibt es ferner eine Arbeitslosenversicherung, die jedoch organisatorisch nicht Teil der Sécurité sociale wurde. Da je nach Alter des Betroffenen nur für einen begrenzten Zeitraum von zwei bis drei Jahren Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung gezahlt werden, existiert für Langzeitarbeitslose außerdem ein steuerfinanziertes Mindesteinkommen (Revenu de solidarité active). Die Finanzierung der Sécurité sociale erfolgt wie in Deutschland im Wesentlichen über Beiträge aus Erwerbseinkommen, das heißt, Arbeitnehmer und Arbeitgeber führen Teile des Lohns als Sozialversicherungsabgaben ab. Die Unfallversicherung und die Familienkasse werden ausschließlich von den Arbeitgebern alimentiert. In den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit funktionierte dieses System angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs und niedriger Arbeitslosigkeit sehr gut. Daher wurden auch die Leistungen der Sozialversicherung kontinuierlich ausgebaut und der Kreis der Anspruchsberechtigten systematisch erweitert. Den Höhepunkt stellte schließlich die Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre durch François Mitterrand Anfang der 80er Jahre dar.

Die französische Bevölkerung war immer schon stolz auf diese sozialen Errungenschaften (acquis sociaux). Gleichzeitig waren zu diesem Zeitpunkt allerdings einzelne Zweige der Sozialversicherung bereits in finanzielle Schieflage geraten. Das abrupte Ende der Wachstumsphase und steigende Arbeitslosenzahlen seit den 1970er Jahren hatten die Probleme der Beitragsfinanzierung deutlich werden lassen: Je weniger Erwerbstätige einzahlen und je mehr Menschen Leistungen beanspruchen (zum Beispiel aus der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung), desto schwieriger wird es, das System stabil zu halten. Anfänglich konnte noch ein finanzieller Ausgleich zwischen defizitären und Überschuss erzielenden Zweigen hergestellt werden. Da die Situation sich in den 80er Jahren jedoch nicht entspannte, schoss der Staat regelmäßig Geld zu, um die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherung zu schließen. Nach und nach wurde aber deutlich, dass die Probleme auch so nicht in den Griff zu bekommen waren. Gleichzeitig drohten sich höhere Belastungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Form steigender Sozialabgaben mit der Zeit doppelt negativ auszuwirken: Zum einen auf die Kaufkraft der Bürger und zum anderen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, deren Personalkosten immer weiter stiegen.

Reformdruck und Umbau des Sozialsystems

Seit Anfang der 1990er Jahre führte die Politik daher im Abstand weniger Jahre mehrere Reformen in den einzelnen Bereichen der Sozialversicherung durch. Zunächst wurde eine Sozialsteuer eingeführt, um die Einnahmeseite zu verbessern ohne die Sozialabgaben weiter in die Höhe zu treiben (Contribution sociale généralisée – CSG). Die Teilfinanzierung des Systems aus Steuermitteln hatte aus staatlicher Sicht den Vorteil, dass der Kreis der Betroffenen erweitert wurde, da nicht nur Arbeits-, sondern auch Kapitaleinkommen und Renten herangezogen werden. Doch eine alleinige Verbesserung der Einnahmesituation der Sozialversicherung war längst nicht mehr ausreichend. Auch auf der Ausgabeseite musste etwas geschehen, da die Kosten vor allem in den beiden größten Zweigen explodierten: bei der Kranken- und der Rentenversicherung. Der Grund hierfür war und ist derselbe wie in Deutschland: Dank des medizinischen Fortschritts ist die Lebenserwartung der Menschen erheblich gestiegen. Zusätzliche Ausgaben entstehen damit sowohl im Bereich der Gesundheitsversorgung (insbesondere im Zuge der Anschaffung und Anwendung moderner Medizintechnik) als auch bei den Rentenkassen.

Weiterhin umstritten: das gesetzliche Renteneintrittsalter. (© AP)

Um hier gegenzusteuern, verfolgte die französische Politik das Ziel, das Gesundheitssystem effizienter zu gestalten, kam dessen ungeachtet aber nicht um Einschränkungen bei der Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen herum. Zwar verfügt die Großzahl der Franzosen über eine genossenschaftliche oder private Zusatzversicherung. Die steigende Zahl derer, die sich aufgrund geringer Einkommen oder Arbeitslosigkeit diesen Zusatzschutz nicht (mehr) leisten können, machte jedoch die Einführung einer steuerfinanzierten Krankenversicherung für Bedürftige erforderlich (Couverture maladie universelle – CMU). Bei den Renten erfolgte eine (zunächst zögerliche) Anpassung an den demografischen Wandel, ehe Nicolas Sarkozy im Jahr 2010 eine Reform verabschieden ließ, die eine schrittweise Anhebung der gesetzlichen Altersgrenzen und der für eine ungekürzte Rente erforderlichen Beitragsjahre festschrieb. François Hollande hat zwar im Sommer 2012 sein Wahlversprechen eingelöst, Langzeitversicherten wieder einen Renteneintritt mit 60 Jahren zu ermöglichen. Die wesentlichen Elemente der Reform blieben aber unangetastet. Um der Altersarmut vorzubeugen, die all jenen droht, die aufgrund von Phasen der Arbeitslosigkeit nicht lange genug eingezahlt haben oder wegen geringer Verdienste nur mit einer sehr niedrigen Rente rechnen können, existiert im Bereich der Alterssicherung bereits seit 1956 ein steuerfinanziertes Mindesteinkommen (minimum vieillesse).

Ungelöst ist bislang die Frage, wie die steigenden Kosten der Pflege aufgefangen werden können. Aufgrund der höheren Lebenserwartung wird auch in Frankreich die Zahl pflegebedürftiger Menschen in den nächsten Jahrzehnten kontinuierlich zunehmen. Eine gesetzliche Pflegeversicherung, wie sie in Deutschland 1995 eingeführt wurde, gibt es in unserem Nachbarland in dieser Form bislang aber nicht. Zwar können Pflegebedürftige (bzw. deren Angehörige) staatliche Hilfe beantragen. Das bestehende Instrumentarium wird mittel- bis langfristig jedoch nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Bis Anfang 2014 soll daher ein umfangreiches Gesetzespaket erarbeitet werden, das den Bereich neu regelt.

Soziale Errungenschaften in Gefahr?

Trotz der Reformen, die teils erhebliche Einschränkungen im Leistungskatalog einzelner Sozialversicherungszweige mit sich gebracht haben, verfügt Frankreich noch immer über ein überdurchschnittlich hohes Niveau an sozialem Schutz. Dies wird auch an der Sozialleistungsquote deutlich, die den Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt misst. Mit über 33 Prozent lag sie 2010 nach vorläufigen Berechnungen der Europäischen Statistikbehörde (Eurostat) deutlich über dem europäischen Schnitt (29 Prozent) und auch über dem deutschen Wert (31 Prozent).

Angesichts geringer Wachstumszahlen der französischen Wirtschaft und gleich bleibend hoher Arbeitslosigkeit droht der Druck auf die Sozialsysteme jedoch auch in Zukunft anzuhalten. Um fortwährende Defizite der einzelnen Versicherungszweige zu vermeiden, werden in den kommenden Jahren weitere Reformen vonnöten sein. Da das in der Nachkriegszeit entstandene System der sozialen Sicherung als nationale Errungenschaft gilt, erfolgte dessen Anpassung an die Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft lange Zeit eher behutsam. Der notwendige Umbau des Systems sollte bewerkstelligt werden, ohne dass sichtbar die Axt an den Sozialstaat angelegt wird, weil dies Proteste der Bevölkerung auszulösen drohte. Die Rentenreform von 2010 hat allerdings gezeigt, dass die Turbulenzen der Eurokrise ihre Wirkung auf die französische Staatsführung nicht verfehlt haben. Das Gesetzespaket wurde gegen alle Widerstände durchgesetzt. Auch unter dem neuen Präsidenten François Hollande steht die Interner Link: Haushaltskonsolidierung mittlerweile weit oben auf der Agenda. Wenn fehlende Einnahmen aus Sozialbeiträgen aber nicht mehr durch Steuern oder staatliche Zuschüsse kompensiert werden können, so entsteht ein Sparzwang, der die in Frankreich viel beschworenen acquis sociaux erheblich gefährdet.

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Dominik Grillmayer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die sozialen Sicherungssysteme Frankreichs und Deutschlands sowie die Stadt- und Integrationspolitik beider Länder.