Wie war es möglich, dass der Erste Weltkrieg so ungeheuerlich großen Hass und tiefe Feindseligkeit bei Deutschen und Franzosen auslöste und zwar nicht nur während der Kampfhandlungen, sondern auch noch Jahrzehnte nach seinem Ende? Warum löste das Desaster nicht sofort bei allen Völkern ein entschlossenes "Nie wieder" aus? Die Grauen und Schrecken oder die bis dahin nie gekannten Opfer, die der Krieg auf beiden Seiten forderte, können die von ihm verursachte lange Zeit andauernde Feindschaft nicht allein erklären. Deutsche und Franzosen erlebten die jeweilige Gegenwart in den Nachkriegsjahren ganz unterschiedlich und deuteten den Krieg vor deren Hintergrund.
Der Krieg als zivilisatorische Tat
In Frankreich war der Krieg mit dem Deutschen Reich schon vor 1914 als ein Konflikt gedacht worden, in dem sich zwei gegensätzliche Zivilisationen einander gegenüber stehen: auf der einen Seite die Dritte französische Republik, die die Ideale der Französischen Revolution von 1789 realisiert habe und diese in der ganzen Welt als "soldats du droit" – als "Soldaten des Rechts" – verteidige; auf der anderen Seite das deutsche Kaiserreich, das wie ein
Die deutsche Kriegserklärung und der Einmarsch des kaiserlichen Heeres in Belgien und Nordfrankreich schienen das Bild des Deutschen Reichs als gefährlicher Militärstaat zu bestätigen. So wurde der Krieg gegen Deutschland in ein historisches Verlaufsmodell eingeordnet, das die Prinzipien der
Der Krieg als Kampf gegen eine Welt von Feinden und als nationale Wiedergeburt
In Deutschland wurde der Krieg als ein von langer Hand vorbereiteter
Deutsche Pädagogen, die sich selbst stolz "Kriegspädagogen" nannten, sahen im Krieg noch mehr. Sie beschrieben ihn als eine ontologische, regenerative Autorität, die wie ein "Läuterungsfeuer" die deutsche Gesellschaft aus einer tief empfundenen gesellschaftlich-kulturellen Krise der Friedenszeit erlöse, "die faule Genusssucht und herzlose Selbstsucht" überwinde und "das eigentliche Deutschland" erst erschaffe.
Der Frieden als Fortsetzung des Kriegs
Nach 1918 bestimmten in Deutschland die als unerträglich empfundenen Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles die Deutungen der Kriegsursachen und des Kriegsgeschehens. Die Gegenwartsanalyse war die Matrix einer Vergangenheitsdeutung, die die Kriegsursachen in der angeblichen Einkreisungspolitik der Entente-Mächte sah. So hätten England, Frankreich und Russland 1914 aus "Neid und Rachsucht" den Krieg gegen Deutschland ausgelöst.
Der Stellungskrieg in Frankreich war dieser Logik folgend ein deutscher Abwehrkampf gegen die Angriffe der Gegner. Die Betonung der Schrecken und des Grauens der Schlachten gab dem Krieg einen Sinn:
Die Darstellung der Gegenwart als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erfuhr im Laufe der 1920er Jahre kaum Modifikationen. Didaktische Bilder und Karten Interner Link: spitzten die Abrüstung des Deutschen Reichs und die Interner Link: Gebietsabtretungen demagogisch zu. Unter dem Eindruck des Versailler Vertrages wurde das Verhältnis der Nachbarstaaten zu Deutschland nur noch als ein Verhältnis grundsätzlicher Feindschaft beschrieben.
Der Krieg als Zerstörung der Zivilisation
In den 1920er Jahren stand in Frankreich die
Mit dem militärischen Sieg – so die Erwartung – könnten nun die Konfliktpotenziale, die den Krieg ausgelöst hatten, abgebaut und die Schuldigen bestraft werden. Daher wurden die Bestimmungen des Versailler Vertrags zunächst als Interner Link: eine den Deutschen auferlegte "Sühne" gefeiert für die Gründung des Deutschen Kaiserreichs in Versailles 1871 und für den Frankfurter Frieden – so als handele es sich um die Befreiung von einem deutschen Joch, das über Europa gelegen habe. In dem Maße aber, wie die Friedensordnung von Versailles sich als instabil erwies, machte sich eine tiefe Ernüchterung breit.
Frankreichs Kriegsanstrengungen und seine großen Verluste erschienen in Anbetracht des ausbleibenden dauerhaften Friedens zunehmend als sinnlose Opfer. Im Zuge dieser allmählichen Desillusionierung veränderten sich auch die Darstellungen des Kriegs. Wurde in den 1920er Jahren der Kampfeinsatz der französischen Soldaten
Eine Alternative zum friedlichen Ausgleich von Interessengegensätzen konnte es nicht mehr geben – auch in Anbetracht der Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland. Der
Der Krieg als Geburt eines "neuen Menschen"
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten veränderten sich in Deutschland die Darstellungen des Weltkriegs dramatisch . Die Kampfhandlungen wurden nun als Selektionsprozess beschrieben, der einen "
Solche Zukunftsentwürfe radikalisierten die Erwartungen, die während des Ersten Weltkrieges in Deutschland mit dem Krieg verbunden worden waren. Wie die deutschen Kriegspädagogen verstanden die Nationalsozialisten den Krieg nicht als schreckliche Ausnahme in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern als heilsamen Prozess, der alles auslösche, was als Dekadenz gedeutet wurde.
Neue Perspektiven nach 1945
Erst nach 1945 näherten sich die Sichtweisen von Deutschen und Franzosen über den Ersten Weltkrieg einander an. Seit 1950 gab es regelmäßige Gespräche zwischen Geschichtslehrern beider Länder. Mit Blick auf die Kriegsursachen 1914 wurde man sich schon 1950 einig, dass kein Volk und keine Regierung 1914 bewusst einen europäischen Krieg ausgelöst habe.
Im Vergleich mit der Zwischenkriegszeit vollzogen die französischen Geschichtsbücher einen Paradigmenwechsel. An keiner Stelle behaupteten sie mehr eine spezifisch deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914, sondern betonten die Mechanik der Bündnissysteme und die bei allen Mächten vorhandene Bereitschaft, sich auf einen militärischen Konflikt einzulassen. Die westdeutschen Geschichtsbücher taten sich sehr viel schwerer, ihre traditionelle Sichtweise von der Verantwortung der Entente-Mächte für den Kriegsausbruch zu revidieren. Die Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer, der die Verantwortung der deutschen Reichsleitung akzentuierte, fanden erst Mitte der 1970er Jahre Eingang in die westdeutschen Schulbücher. Jetzt griffen die fischerkritischen Autoren auf die deutsch-französischen Empfehlungen von 1950 zurück. Baute die deutsch-französische Aussage, keine Regierung habe 1914 einen europäischen Krieg angestrebt, in den frühen 1950er Jahren Feindbilder ab, hatte sie 25 Jahre später eine andere Bedeutung, nämlich die eines international verbürgten Arguments gegen eine allzu kritische Sicht auf die eigene Nationalgeschichte.
Allerdings setzte sich dieser apologetische Missbrauch der deutsch-französischen Empfehlungen nicht durch. Die überwiegende Verantwortung der deutschen Reichsleitung für den Ausbruch des Kriegs 1914 ist in den deutschen Schulbüchern inzwischen Konsens. So unterscheidet heute eine feine aber für den Umgang mit der nationalen Vergangenheit doch signifikante Nuance die Darstellungen deutscher und französischer Schulgeschichtsbücher. Während in Frankreich keiner Macht eine besondere Verantwortung für den Krieg zugeschrieben wird, betonten deutsche Lehrwerke, die deutsche Reichsleitung habe die Julikrise 1914 verschärft. Französische Lehrwerke sind mithin gegenüber dem Deutschen Reich nachsichtiger als die Geschichtsbücher des vereinigten Deutschlands.