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Das Königtum und der Mythos der Revolution | Frankreich | bpb.de

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Das Königtum und der Mythos der Revolution

Etienne François

/ 7 Minuten zu lesen

Wie gehen die heutigen Franzosen mit dem doppelten und widersprüchlichen Erbe von Monarchie und Revolution um? Sind sie nichts anderes als leidenschaftliche Republikaner mit monarchischen Zügen?

"Die Freiheit führt das Volk". Allegorische Darstellung der Julirevolution von Eugène Delacroix (1830). Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Regelmäßig werden die Franzosen mit Hilfe von repräsentativen Meinungsumfragen gebeten zu sagen, welche historischen Persönlichkeiten sie am liebsten ins Pantheon der französischen Geschichte bringen würden. Die Ergebnisse solcher Umfragen liefern aufschlussreiche Angaben über die Geschichtsbilder der heutigen Franzosen. Drei Namen treten nämlich mit einer erstaunlichen Kontinuität seit mehr als 30 Jahren und immer in der gleichen Reihenfolge hervor: an erster Stelle General de Gaulle, an zweiter Napoleon und an Stelle Ludwig XIV. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser "historischen Dreifaltigkeit" ziehen? Inwiefern hilft diese stabile Beliebtheitsskala, die komplexe Einstellung der heutigen Franzosen zu ihrer Geschichte besser zu verstehen? Was sagt sie aus über den Platz, den Monarchie und Revolution bis heute im historischen Gedächtnis und in der politischen Kultur unserer Nachbarn einnehmen?

Gründungsmythos Revolution

Die Platzierung von Napoleon an zweiter Stelle vor König Ludwig XIV weist darauf hin, dass die Revolution bis heute den zentralen Gründungsmythos Frankreichs darstellt. Ohne die Revolution wäre Napoleon nie zu dem geworden, was er später wurde; bis zu seinem Tode und sogar darüber hinaus blieb sein Schicksal untrennbar mit dem revolutionären Ereignis verbunden. Die Revolution als Geburtsstunde des modernen Frankreichs ist überall gegenwärtig als Fundament der nationalen Identität: Nationalfahne, Nationalhymne, Nationalfeiertag und Nationaldevise gehen unmittelbar auf sie zurück. Dies gilt gleichermaßen für die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte von August 1789, der bis heute ein verfassungsmäßiger Wert zuerkannt wird. Das gilt auch für die Republik als Staatsform und Wertekanon: Sie genießt in Frankreich ein genauso hohes Ansehen wie das Grundgesetz in Deutschland. Jeder Franzose ist zudem verliebt in die schöne Marianne, die er in den Rathäusern, auf Münzen oder auf Briefmarken bewundern kann, und fühlt sich daher aufgefordert, der bestmögliche Republikaner zu sein.

Darüber hinaus lebt die Revolution in vielen Institutionen weiter, die grundlegende Elementen des französischen Selbstverständnisses geworden sind: die Départements, die Maßeinheiten, die "grandes écoles", das Pantheon, die Polarität zwischen Links und Rechts oder sogar der für die Hundertjahrfeier der Revolution erbaute Eiffelturm. Und auch wenn die Faszination für die Revolution und das Bedürfnis, sie fortzusetzen, die bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der wichtigsten Triebkräfte des politischen Lebens waren, seitdem nachgelassen haben, so zeigen doch die Volksfront, die Barrikaden von Interner Link: 1968, die Feierlichkeiten für den zweihundertsten Jahrestag der Revolution im Jahre 1989 wie auch das Echo der linksrevolutionären Rhetorik bei den Präsidentschaftswahlen 2012 die bis heute andauernde Ausstrahlung der Revolution.

Wenn aber bei den historischen Meinungsumfragen Napoleon, und nicht eine genuin revolutionäre Persönlichkeit an zweiter Stelle erscheint, so weist dies auf das gespaltene Verhältnis der heutigen Franzosen zur Revolution hin. Nur wenige würden heute noch behaupten, die Revolution sei eine unzertrennliche Einheit, "un bloc", wie der französische Staatsmann Georges Clemenceau es 1891 sagte. Die Terrorherrschaft Maximilien de Robespierres ("la Terreur"), der Bürgerkrieg in der Vendée und die zunehmende Spaltung der französischen Gesellschaft werden mehrheitlich negativ gesehen. Robespierre gehört zu den meistgehassten Persönlichkeiten der französischen Geschichte. Umgekehrt geht die Popularität von Napoleon auf die Tatsache zurück, dass er die Revolution beendet hat, dass er ihre wichtigsten Errungenschaften (Gleichheit vor dem Gesetz, Verkauf der Kirchengüter, Code civil etc.) gerettet hat, aber auch auf die Tatsache, dass er, indem er sich zunehmend von der Revolution distanzierte, Frankreich mit sich selber versöhnt hat und es zu einem Höhepunkt seines Ruhmes führte.

Eine selektive Bewunderung für die Monarchie

Ludwig XIV., König von Frankreich. Gemälde von Hyacinthe Rigaud, Öl auf Leinwand (277x194 cm), um 1700

Ein ähnlich zwiespältiges Verhältnis – in Form einer spiegelverkehrten Symmetrie – gilt für den Bezug der Franzosen zum Königtum. Die Monarchie als Staatsform hat heutzutage – im Unterschied zu dem, was man bis in die Zwischenkriegszeit beobachten konnte – kaum noch Anhänger. In ihrer überwältigenden Mehrheit haben die Franzosen den von den Revolutionären von 1789 vollzogenen radikalen Bruch der Zeitlichkeit verinnerlicht, der die Zeit davor als "ancien régime" bezeichnete, als eine überholte und endgültig überwundene Zeit, zu welcher keine Rückkehr mehr möglich ist. Im Übrigen erstreckt sich ein solcher Bruch nicht nur auf die Staatsform, sondern auch auf die mit ihr verbundenen Werte- und Gesellschaftsvorstellungen, ob es sich um das Gottesgnadentum, das Bündnis zwischen Thron und Altar, das Feudalsystem oder die ständische Gesellschaftstruktur handelt.

Dass es aber dabei nicht um eine grundsätzliche Ablehnung geht, im Sinne einer "damnatio memoriae", zeigt nicht zuletzt die Platzierung von Ludwig XIV an dritter Stelle des französischen Pantheons – dem König, der die absolute Monarchie par excellence verkörpert. Nicht, dass er unumstritten wäre: Seine Kriegssucht wird genauso entschieden abgelehnt wie seine Intoleranz gegen die Protestanten. Gleichwohl werden in den Augen der Franzosen diese Schattenseiten durch die anderen Leistungen seiner Herrschaft mehr als kompensiert: den Bau des Schlosses von Versailles, die Hegemonie Frankreichs, die Ausstrahlung der französischen Kultur auf ganz Europa und die Förderung der Künste und der Wissenschaften – seit Voltaire wird das Zeitalter Ludwigs des Großen mit der Klassik in der Literatur und in den Künsten gleichgesetzt.

Diese selektive Bewunderung für die Leistungen der Monarchie beschränkt sich nicht auf die Zeit von 1661 bis 1715; sie gilt genauso für die Jahrhunderte vorher wie auch für das kurze Jahrhundert danach. Bis heute wird die Taufe von Chlodwig in Reims im Jahre 496 als die "andere" Geburtsstunde Frankreichs gesehen. Mit der Folge, dass ihre 1.500-jährige Wiederkehr im Jahre 1996 nicht nur durch den damals neu gewählten Präsidenten Jacques Chirac feierlich begangen wurde, sondern auch durch Papst Johannes Paul II bei einem Besuch in Reims. Wie die Royalisten des 19. Jahrhunderts sprechen heute viele Republikaner von den "vierzig Königen, die Frankreich gemacht haben", von denen sich etliche einer großen Beliebtheit erfreuen, von Karl dem Großen ("Charlemagne") über den heiligen Ludwig bis hin zu Heinrich IV.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Von der Dankbarkeit für die mühsame Konstituierung des französischen Raums und seine erfolgreiche Verteidigung gegen die Feinde von außen (das Heilige Römische Reich, die britische Monarchie, Spanien und die Habsburger) über die Wiederherstellung der Einheit Frankreichs (so nach dem hundertjährigen Krieg und nach den Religionskriegen) und die Konstruktion einer genuin französischen Staatlichkeit bis hin zu den künstlerisch-kulturellen Leistungen der Monarchie (Saint-Denis, die Kathedralen und die "sainte chapelle", die Förderung der Kunst der Renaissance, die Schlösser an der Loire und der Louvre, um nur einige Beispiele zu erwähnen). Millionen von Franzosen und Ausländern pilgern jedes Jahr zu den Bauten, die das Kulturerbe der Monarchie ausmachen: nicht zufällig gehörten der Mont Saint-Michel, die Kathedrale von Chartres und das Schloss von Versailles (zusammen mit den prähistorischen Höhlen des Vézère-Tals und der Basilika von Vézelay) zu den ersten französischen Baudenkmälern, die auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurden.

Die Synthese einer "republikanischen Monarchie"

Das Zeremoniell der Republik Frankreich zeichnet sich noch immer durch viele monarchische Züge aus. (© ddp/AP)

Weit entfernt davon, sich auszuschließen, bilden Revolution und Monarchie zwei wesentliche Bestandteile des französischen kollektiven Gedächtnisses, und zwar nicht nur, weil sie konstitutiv miteinander verbunden sind und sich in vielen Aspekten ergänzen, sondern auch, weil beide nicht unumstritten sind. Beide gehören zwar zur französischen Identität, der Bezug zu ihnen ist aber differenziert, selektiv und distanziert. Keiner hat dies besser ausgedrückt als der große Historiker Marc Bloch (1886-1944). In seinem letzten Buch, "Die seltsame Niederlage", das er schon im Untergrund schrieb und das erst nach seiner Ermordung durch die Gestapo und dem Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlicht wurde, schreibt er diesen wunderbaren Satz: "Es gibt zwei Gruppen von Franzosen, die nie etwas von der französischen Geschichte verstehen werden: die, die es ablehnen, durch die Erinnerung an die Königskrönung in Reims gerührt zu werden, und die, die die Berichte über das Bundesfest am 14. Juli 1790 lesen, ohne dabei bewegt zu sein".

Die zu Beginn erwähnte Erstplatzierung von Interner Link: General de Gaulle in der französischen historischen Beliebtheitsskala ergibt sich fast zwangsläufig aus diesem doppelten Bezug, verkörpert er doch auf ideale Weise eine Synthese, die die republikanische wie die monarchische Tradition gleichermaßen aufhebt. De Gaulle war ohne Zweifel ein überzeugter Republikaner, der sich in die Kontinuität der Werte und Errungenschaften der französischen Revolution stellte: während des Zweiten Weltkriegs führte er nicht nur den Kampf gegen Nazi-Deutschland, sondern auch gegen Marschall Pétain und das durch ihn vertretene Vichy-Regime Interner Link: Kollaboration und Résistance, die einen dezidiert antirepublikanischen Kurs einschlugen und von einer Revanche für 1789 mit Hilfe von Deutschland träumten. Als er 1958, 13 Jahre nach Ende des Krieges, an die Macht zurückkam, verteidigte er wiederum erfolgreich die Republik gegen seine Gegner und stabilisierte sie sogar mit der Gründung der Fünften Republik. Nach der Ablehnung seines letzten Referendums am 27. April 1969, beugte er sich sofort der Entscheidung der Wähler und legte am Tag danach sein Amt und all seine Funktionen nieder. Auf der anderen Seite ordnen sich viele seiner Vorstellungen und Handlungen in einen eher monarchischen bzw. bonapartistischen Zusammenhang ein: davon zeugen sein leidenschaftlicher und bedingungsloser Patriotismus, seine Verwurzelung in der militärischen Tradition, seine Kritik der Parteien, die durch ihn herbeigeführte Stärkung der Exekutive, die unmittelbare Beziehung zwischen ihm als Staatschef und dem französischen Volk, die Wahl der Kathedrale von Reims um 1962 die Versöhnung mit Deutschland feierlich zu zelebrieren, und vor allem sein unermüdlicher Einsatz für die Ehre, die Größe und den Rang Frankreichs auf internationaler Ebene.

Nicht umsonst definierte der Politologe Maurice Duverger in einem 1974 erschienenen Buch die Fünfte Republik als eine "republikanische Monarchie". Und bis heute hat sich, wie man jeden Tag beobachten kann, nicht viel daran geändert: das Zeremoniell der Republik zeichnet sich durch viele monarchische Züge aus, die Mehrheit der Ministerien ist in ehemaligen Stadtpalais des Adels untergebracht, das französische Parlament tagt im "Palais Bourbon" und der heutige Sitz der Präsidentschaft der Republik, der von der Marquise de Pompadour erbaute Elysée-Palast, wird immer noch ganz einfach "le château" ("das Schloss") genannt.

Weitere Inhalte

Etienne François, geb. 1943, ist emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Paris-I (Panthéon-Sorbonne) und an der Freien Universität Berlin. Er ist ausgewiesener Kenner der deutschen und der europäischen Geschichte. Einer seiner Forschungsschwerpunkte liegt in der Geschichte der Erinnerungskulturen.