Der Großteil der Banlieues
Größtenteils bezogen Einwanderer insbesondere aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika die leer stehenden Wohnungen. In den 1970er Jahren führten Wirtschaftskrise und Desindustrialisierung zu hoher Arbeitslosigkeit unter den Vorstadtbewohnern. So entwickelten sich die Banlieues rasch zu einem Auffangbecken für die sogenannte Problembevölkerung. Sozialräumliche Ausgrenzung, infrastrukturelle Mängel und politische Vernachlässigung bilden seither eine explosive Mischung, die sich regelmäßig in kollektiver Gewalt entlädt.
Chronische Unruhen
Die Debatte über die Lebensumstände in den Banlieues begann mit den ersten offiziell registrierten Unruhen im Sommer 1981. In Folge einer Verfolgungsjagd zwischen Jugendlichen und der Polizei in einem Vorort von Lyon waren mehrere hundert Fahrzeuge in der Umgebung von Lyon, Paris und Marseille in Brand gesetzt worden. Seither sind Ausschreitungen in den Banlieues zu einem chronischen Phänomen in Frankreich geworden. Im Herbst 2005 erreichten die Unruhen schließlich ein Ausmaß, das in seiner Dauer und geographischer Ausbreitung selbst Experten überraschte. Zwischen dem 27. Oktober und dem 17. November 2005 lieferten sich jugendliche Vorstadtbewohner in ganz Frankreich Straßenschlachten mit der Polizei. Im Verlauf brannten mehr als 10.000 Fahrzeuge. Hunderte öffentliche Gebäude wurden zerstört, darunter Schulen, Kindergärten, Sporthallen, Postämter, Rathäuser und Polizeidienststellen.
Auslöser der Gewalt war der Tod zweier Jugendlicher mit maghrebinischem Migrationshintergrund, die in einem Trafohäuschen Zuflucht vor einer Polizeikontrolle gesucht hatten und an einem Stromschlag starben. Am 8. November ließ die Regierung erstmals seit dem Algerienkrieg den Ausnahmezustand ausrufen, der bis Januar 2006 anhielt. Die Reaktionen der Regierenden wurden vielfach kritisiert, insbesondere die Äußerungen des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy, der gleich zu Beginn der Unruhen Öl ins Feuer goss, indem er die Jugendlichen als "Abschaum" abstempelte und ankündigte, die Vororte mit einem "Hochdruckreiniger" säubern zu wollen.
Seit 2005 hat es viele weitere Ausschreitungen in Frankreich gegeben, die jedoch kein vergleichbares Ausmaß erlangt haben. Gleichwohl zeugen die Ausschreitungen der letzten Jahre, beispielsweise 2007 in Villier-le-Bel, 2010 in Grenoble oder zuletzt 2012 in Amiens, von einer sehr viel höheren Gewaltbereitschaft der Jugendlichen. Die Erklärungsansätze in Wissenschaft und Politik für die Ursachen der Unruhen sind vielfältig: sie reichen von einer sich verschärfenden sozialräumlichen Ausgrenzung, einer Krise des republikanischen Integrationsmodells, einer postkolonialen Krise, mangelhafter Stadtpolitik, extremer Repression durch die Polizei über eine zunehmende Islamisierung und Kriminalität unter Jugendlichen bis hin zu negativem Einfluss der Medien.
Ausgrenzung auf allen Ebenen
Die Konzentration sozioökonomischer und städtebaulicher Probleme bleibt trotz massiver staatlicher Maßnahmen charakteristisch für die Situation der Banlieues, in denen knapp fünf Millionen Franzosen leben. Neben einer defizitären Ausstattung des Wohnumfeldes, einer schlechten Anbindung an die Innenstädte und desolaten Wohnverhältnissen liegen auch viele andere soziale Indikatoren seit Jahren deutlich unter dem nationalen Durchschnitt. Laut dem letzen Bericht der Nationalen Beobachtungsstelle kritischer Stadtteile (Rapport ONZUS 2011) war die Arbeitslosenquote in den von der Politik als Problemgebiete ausgewiesenen Vierteln (Zones urbaines sensibles - ZUS) im Jahr 2010 mit 20,9 Prozent doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. Die durchschnittliche Jugendarbeitslosenquote lag im selben Jahr bei 41,7 Prozent (23,2 Prozent im nationalen Durchschnitt). Ein Drittel der Bevölkerung lebte 2009 unter der Armutsgrenze und auch das Bildungsniveau liegt deutlich unter dem nationalen Level. 53 Prozent der beschäftigten Jugendlichen besaßen im Jahr 2010 nur den niedrigsten Schulabschluss.
Die Stigmatisierung der Banlieue als 'sozialer Brennpunkt’ oder 'Ghetto’ hat darüber hinaus dazu geführt, dass die räumliche Konzentration sozialer Probleme selbst zur Ursache für Ausgrenzung und Benachteiligung geworden ist. So haben viele Studien gezeigt, dass die Bewohner der Problemgebiete aufgrund ihres Wohnortes beim Eintritt in das Berufsleben sowie bei der Wohnungssuche außerhalb der Problemviertel diskriminiert werden. Diese Diskriminierungen betreffen in besonderem Maße Migranten, die mehr als die Hälfte aller Vorstadtbewohner stellen.
Aufgrund des hohen Migrantenanteils und weil an den Ausschreitungen vor allem maghrebinische Einwanderer der zweiten Generation beteiligt waren, sind die Vororte auch zu einem Synonym für gescheiterte Integration geworden. Nach den Unruhen von 2005 standen das französische Integrationsmodell und sein republikanischer Gleichheitsanspruch überall zur Debatte. Das Integrationsversprechen Frankreichs besteht darin, die Gleichheit aller französischen Bürger im Staatsbürgerschaftsrecht und den staatlichen Institutionen zu garantieren – unabhängig von sozialen, religiösen, ethnischen oder territorialen Unterschieden.
Angesichts der Diskriminierungen, Stigmatisierung und sozialräumlichen Ausgrenzung in den Banlieues kann der Staat dieses Versprechen jedoch nicht einlösen. Frustration und Aggression erscheinen als logische Konsequenz der Diskrepanz zwischen den versprochenen Werten und der täglich erlebten Ausgrenzung. Dies erklärt auch, warum sich die Gewalt der Jugendlichen bei den Ausschreitungen insbesondere gegen staatliche Institutionen wie Schule oder Polizei richtet. Hinzu kommt, dass neben der generellen Stigmatisierung auch eine Ethnisierung des Banlieue-Diskurses stattfindet. Dabei wird die Krise der Vorstädte in der Öffentlichkeit oft auf die ethnische Herkunft oder Religiosität der Bewohner und damit verbundene Problemlagen zurückgeführt, so dass das soziale Stigma vom ethnischen nicht mehr zu trennen ist. Konsequenz dieser doppelten Stigmatisierung sind wiederum weitere Diskriminierungen, Rassismus, aber auch das Erstarken islamischer Subkulturen.
Neben der sozialräumlichen und ethnisch-religiösen Ausgrenzung sind die Banlieues auch von politischen Entfremdungsprozessen betroffen. Die Wahlbeteiligung ist trotz steigender Tendenz seit Jahren sehr gering. Die Gründung des Bürgerrechtskollektiv ACLEFEU (der Name bedeutet so viel wie "Genug vom Feuer") nach den Unruhen von 2005 und das Schreiben von Beschwerdebriefen an die Regierung verdeutlichen die Unzufriedenheit der Bewohner mit ihrem mangelnden Einfluss und der unzureichenden politischen Aufmerksamkeit für ihre Probleme. Mit dem Niedergang der gesellschaftlichen Bedeutung der Industriearbeiterschaft und ihrer gewerkschaftlichen Organisation, hoher Arbeitslosigkeit und ethnischer Vielfalt haben die Banlieues zudem an sozialem Zusammenhalt verloren, was eine gemeinsame Interessenartikulation und -durchsetzung erschwert.
Zwischen Stadtpolitik und Sicherheitspolitik
Das staatliche Vorgehen in den Banlieues wird von zwei Hauptpolitiken geprägt: der Stadtpolitik und der Sicherheitspolitik. Die Stadtpolitik wurde Anfang der 1980er Jahre als Reaktion auf die ersten Unruhen etabliert, es existiert ein entsprechendes Ministerium. Ihr Ziel ist nicht nur die Sanierung der mittlerweile 751 Problemgebiete sondern auch die Verbesserung der schulischen, sozialen und kulturellen Versorgung, Kriminalitätsbekämpfung sowie die Stärkung lokaler Ökonomien. So soll beispielsweise die Ansiedlung von Unternehmen durch Steuererleichterungen gefördert werden. Zusätzliche finanzielle Mittel und eine spezielle Lehrerausbildung sollen zur Verbesserung des Bildungssystems beitragen.
Im Jahr 2008 wurde zudem vom damaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy ein "Marshall-Plan" mit dem Titel Espoir Banlieue initiiert, dessen Hauptziel die Etablierung von Chancengleichheit und die Verringerung struktureller Unterschiede zwischen den Vierteln ist. Die anhaltenden Unruhen und die aktuelle soziale Situation verdeutlichen jedoch, dass die bisherigen Maßnahmen keine Lösung für die komplexen gesellschaftlichen Problemlagen bieten. Insbesondere in Bezug auf die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus bleibt die Stadtpolitik machtlos angesichts der Unmöglichkeit einer expliziten Minderheitenförderung aufgrund des republikanischen Gleichheitsprinzips.
Die Stigmatisierung der Banlieue als desorganisierter krimineller Raum sowie die tatsächliche Zunahme von Kriminalität und Gewalt haben zudem zur Etablierung einer umfangreichen Sicherheitspolitik mit speziellen Polizeieinheiten für städtische Gewalt geführt. Die konkreten Zielsetzungen dieser Politik variieren je nach Regierung. Während die linken Regierungen ihren Fokus auf eine Polizeistrategie der Nähe setzten, etablierten die rechten Regierungen eine Politik des law and order mit einer extremen Präsenz von Sicherheitskräften. Exemplarisch sind hier die repressiven Maßnahmen Nicolas Sarkozys nach den Unruhen von 2005. Das Resultat ist jedoch kein Rückgang der Gewalt sondern vielmehr ein extrem konfliktbelastetes Verhältnis zwischen Polizei und Jugendlichen, welches nach Meinung vieler Experten Unruhen provoziert.
Im August 2012 hat die französische Regierung ein neues Sicherheitskonzept vorgestellt, welches die Schaffung von jährlich 500 zusätzlichen Stellen bei der Polizei ebenso vorsieht wie die Einrichtung von 15 prioritären Sicherheitszonen in den sozialen Brennpunkten ausgewählter Städte. Ob diese Maßnahmen greifen, bleibt abzuwarten. Einer weiteren Stigmatisierung der Banlieue wirken sie jedenfalls nicht entgegen.