"Die Initiative, die General de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer ergriffen, war ein Akt des Mutes und der Vision. Diese beiden herausragenden Staatsmänner ermöglichten es unseren beiden Ländern, den Teufelskreis der Konflikte, des Hasses und der Rachgier zu durchbrechen, indem sie beide Länder aufforderten, sich ihrer Schicksalsgemeinschaft klar bewusst zu werden. In dem von ihnen vorgezeichneten Weg lernten Deutschland und Frankreich allmählich, sich zu verstehen, zusammenzuarbeiten und Bande einer wirklichen Solidarität zu knüpfen" (Rheinischer Merkur, 3/15.1.2003).
Mit diesen Worten gab Jacques Chirac wenige Tage vor dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages im Jahre 2003 die interpretatorische Richtung dieses Ereignisses vor. Zehn Jahre später präsentiert die hohe Politik eine ähnliche Auslegung der Ereignisse, wie die Webseite der Auswärtiges Amts unterstreicht: "Der am 22. Januar 1963 von Staatspräsident de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer geschlossene Élysée-Vertrag eröffnete eine außergewöhnliche und in seiner Intensität einzigartige Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland"
Wie alles begann
Ab 1945 besaß die französische Besatzungsmacht wie die anderen drei Alliierten eine besondere gesellschaftliche Verantwortung für das besiegte Deutschland. Ziele waren Entnazifizierung und Umerziehung des deutschen Volkes. "Versöhnungsarbeiter" wie Joseph Rovan appellierten bereits in dieser Phase des Umbruchs an die Franzosen, die Deutschen für die Sache der Demokratie und das universalistische Prinzip der Menschenrechte zu gewinnen. In seinem am 1. Oktober 1945 in der Monatszeitschrift "Esprit" veröffentlichten Artikel "L’Allemagne de nos mérites" mahnte er die französischen Besatzungspolitiker zu einem moralisch-demokratischen und universalistischen Ansatz, so "dass Deutschland nicht unter Ungerechtigkeit und Unordnung derselben Natur zu leiden hat wie die, welche Deutschland Frankreich zugefügt hatte [...]. Wir können die Menschenrechte nicht durch einen Gegenrassismus mit umgekehrten Vorzeichen korrigieren, der uns ein Recht auf Rache, auf Blutrache, geben würde".
Die zuständigen Stellen der französischen Militärregierung wie auch eine Reihe von Personen "mit gutem Willen" verstanden also sehr schnell, dass neben Zwangsmaßnahmen auch ein neuer Weg gefunden werden musste, um der fatalen sogenannten "Erbfeindschaft" ein Ende zu bereiten und die Bevölkerung in die deutsch-französische Annäherung aktiv einzubinden. Diese Annäherung sollte zudem der beste Garant für die Sicherheit Frankreichs sein, die die französischen Verantwortlichen zu gewährleisten hatten. So entstanden schnell zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit der französischen Militärregierung zusammenarbeiteten. Die ältesten sind das Bureau international de liaison et de documentation (BILD) und seine deutsche Zwillingsschwester, die Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit (GÜZ), die Ende 1945 von dem Jesuitenpater Jean du Rivau (1903–1970) gegründet wurden. Sie editieren die beiden Zeitschriften Documents und Dokumente, die als Kommunikationskanäle über den Rhein hinweg konzipiert waren und kümmern sich bis heute um den Jugendaustausch.
Die zweite Verständigungsorganisation auf französischer Seite war das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, das sich zu einer Drehscheibe der zivilgesellschaftlichen (intellektuellen) Aussöhnungsarbeit entwickelte. Es wurde 1948 von dem Philosophen Emmanuel Mounier (1905–1950) gegründet. Alfred Grosser (geb. 1925) und seine Mutter wurden als Generalsekretär und Schatzmeisterin die tragenden Kräfte des Komitees. Bewusst agierte diese Organisation außerhalb der Militärregierung, akzeptierte aber, mit ihr für die Organisation von Veranstaltungen zusammenzuarbeiten.
Noch im Jahre 1948 wurde auf deutscher Seite durch Privatinitiative (Theodor Heuss, Fritz Schenk und Carlo Schmid) die erste zivilgesellschaftliche Organisation gegründet: das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg. Eine wichtige Etappe auf dem Weg der Annäherung war das europäische – aber in erster Linie deutsch-französische – Jugendtreffen auf der Loreley im Sommer 1951. Es ging auf eine Kooperation zwischen der französischen Militärregierung und zivilgesellschaftlichen Organisationen zurück und war eine mächtige Zusammenkunft mit ungefähr 35.000 Teilnehmern, die für den herausragenden Platz der Jugend im Prozess der deutsch-französischen Aussöhnung spricht und in gewisser Weise zur Vorgeschichte des 1963 gegründeten Deutsch-Französischen Jugendwerks gehört.
Wer sind die Vermittler?
Die Geschichte der Mittlerorganisationen verweist zugleich auf die besondere Bedeutung von Mittlerpersönlichkeiten, deren individuellen Lebenswege, geografischen Ursprünge und sozialmoralischen Milieuverankerungen heute immer stärker hervorstechen. Allgemein lässt sich für Frankreich festhalten, dass diejenigen, die bereits sehr früh bereit waren, dem "neuen Deutschland" die Hand zu reichen, dem Linkskatholizismus und dem europäischen Föderationsgedanken verbunden waren. Zu nennen sind hier der Philosoph Emmanuel Mounier und der oben bereits angesprochene Joseph Rovan (1918–2004), der genauso wie Alfred Grosser in Deutschland geboren wurde (München bzw. Frankfurt/M.). Beide flohen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus NS-Deutschland nach Frankreich und nahmen die französische Staatsbürgerschaft an.
Auf deutscher Seite kamen die Anhänger einer deutsch-französischen Verständigung zumeist aus dem katholisch-rheinländischen Milieu aus dem Umkreis Adenauers. Mit Ausnahme von Carlo Schmid, Kind deutsch-französischer Eltern und somit Besitzer einer doppelten Kulturerfahrung, tat sich die sozialdemokratische Opposition schwer in diesem Kreis. Es bestand allerdings eine gewisse Asymmetrie zwischen Franzosen und Deutschen, die sich aus dem politischen Kontext erklärt: nach dem Trauma der deutschen Besatzung und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands war einzig die französische Seite in der Lage, den Trägern des Demokratisierungsprozesses in Westdeutschland die Hand zu reichen. Angemessener scheint es daher, im deutschen Fall von "Ansprechpartnern" zu sprechen.
Wenn man nun die Lebensläufe der Mittler betrachtet, fällt auf, dass die Erfahrung des Widerstandes eine wichtige Rolle spielte, etwa beim Schriftsteller Vercors (1902–1991). Andere schöpften ihre Kraft zur Versöhnung aus Erlebnissen in deutschen Konzentrationslagern. So hatte Jean du Rivau als Widerstandkämpfer ab 1944 in Mauthausen und Dachau eingesessen. Zu nennen ist hier auch Rovan, der als Widerstandskämpfer verhaftet und im Juli 1944 nach Dachau deportiert worden war. Diese Widerstandskämpfer und Deportierte verfügten selbstverständlich über die größte moralische Legitimation, um den Deutschen – den deutschen Demokraten – den (Rück-)Weg in den Kreis der zivilisierten Völker zu ebnen. Ihre Schicksale verdeutlichen, dass die Konzentrationslager – Orte des Leidens und des Todes – zugleich Orte der Begegnung zwischen ausländischen deportierten Widerstandkämpfern und internierten deutschen Demokraten waren, die ein gemeinsames Erlebnis teilten, sich kennen und bisweilen auch schätzen lernten und sich nach dem Krieg gemeinsam für die Sache der Verständigung engagierten.
Verständigungsarbeit mit neuem Ansatz: der erweiterte Kulturbegriff
Schon die Frühphase der deutsch-französischen Annäherung weist auf die neuen Ansätze der Nachkriegszeit hin, die sich vom Elitismus der Zwischenkriegszeit absetzten und neue Kreise für die Aussöhnung gewinnen wollten (Jugendliche, Techniker, Journalisten, Lehrer, Multiplikatoren, Gewerkschafter usw.). Alfred Grosser als Erfinder des sogenannten "erweiterten Kulturbegriffs" beschrieb es folgendermaßen: "Die Definition des Wortes Kultur müsste so erheblich erweitert werden. Es handelt sich nicht nur um Literatur und Kunst, sondern auch um Jugendarbeit, Bildung, Kinovereine, Wahlsoziologie und Gemeindeverwaltung [...]. Um das andere Land zu verstehen, genügt es nicht, seine Weine zu verkosten und seine Musik zu hören. Man muss auch wissen, welchen ökonomischen, sozialen und politischen Problemen es gegenübersteht"
Das sichtbarste Resultat dieser Arbeit war die Anbahnung einer beachtlichen Anzahl von Städtepartnerschaften, die symptomatisch für die Neuausrichtung nach 1945 waren, denn sie dienten der Demokratisierung transnationaler Beziehungen. Im Mittelpunkt bei den Treffen standen gerade anfangs Kontakte zwischen der Jugend, doch dehnte sich der Austausch schnell auf viele Bereiche des zivilgesellschaftlichen Engagements aus. Nachdem die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft 1950 zwischen Ludwigsburg und Montbéliard angebahnt worden war, setzte der eigentliche Aufschwung dieser Bewegung erst mit dem Jahr 1958 ein. Bis 1963 verfünffachte sich ihre Zahl (130) und 1969 zählte man circa 400 Städtepartnerschaften. Im Jahre 1981 konnte die 1000. Städtepartnerschaft gefeiert werden. Heute zählen wir circa 2.500 Partnerschaften zwischen deutschen und französischen Städten und Kommunen, so dass etwa drei Viertel der deutschen und französischen Bevölkerung in einem Ort wohnt, der mit einem Ort auf der anderen Seite des Rheins freundschaftlich verbunden ist. So gelang es über die Jahre, die Idee der deutsch-französischen Verständigung tief in den Gesellschaften beider Länder zu verankern. Heute stellt sich jedoch vielfach die Frage nach der Zukunft dieser Begegnungsform, denn es engagieren sich immer weniger junge Leute in ihr.
Ein anderes Beispiel für eine zivilgesellschaftlich getragene Annäherung war die Entgiftung der Schulgeschichtsbücher nach dem Zweiten Weltkrieg. Nationalistische Parolen und Passagen, welche die "Erbfeindschaften" fortschrieben, wurden von Historikern und Geschichtslehrern ab Ende der 1940er Jahre bei gemeinsamen Treffen getilgt. Sie mündeten 1951 in die "deutsch-französischen Empfehlungen", deren Ziel es war, einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss über den Modus zu finden, wie historische Erzählung darzustellen sei, und jene Aspekte zu betonen, die eine Annäherung erleichtern können. Die weitere Arbeit dieser Multiplikatoren machte es ab 2006 möglich, das Deutsch-Französische Schulgeschichtsbuch in drei Bänden herauszugeben, mit dem Schüler der Oberstufe bzw. des Lycées Geschichte lernen können.
Die zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zeichnen sich heute durch ein dichtes Netz aus, das sich ab den 1950er Jahren immer weiter ausdifferenzierte und im europäischen Vergleich sicherlich beispiellos ist. Gleichzeitig verweisen Beobachter immer wieder auf eine zunehmende Banalisierung der Beziehungen und auf fehlendes Engagement der jungen Generation, für die heute die Versöhnung keine Motivation mehr sein kann. Zwischen der deutschen und der französischen Gesellschaft bestehen zwar heute viele Kooperationsprojekte, die weniger von der Vergangenheit als vielmehr von dem Wunsch nach einer gemeinsamen (europäischen) Zukunft geprägt sind, doch zeichnen sie sich bisweilen durch ein gewisses Maß an Sprachlosigkeit aus, wird die Partnersprache doch immer weniger beherrscht. So ist es sicherlich voreilig, heute immer wieder das teleologische Narrativ "Von der 'Erbfeindschaft' zur 'Erbfreundschaft'" zu wiederholen. Die deutsch-französische Verständigung ist kein abgeschlossener Prozess, sondern auch in Zukunft eine Herausforderung für die Gesellschaften beider Länder.